Kontext: Bereits 2011 hat die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) unterzeichnet, jedoch erst nach ausführlichen Diskussionen 2017 auch ratifiziert. Damit gilt die Istanbul-Konvention seit dem 1. Februar 2018 im Range eines Bundesgesetzes (BGBl II 2017, S. 1026), welches Landesrecht vorgeht, und zugleich weiterhin als Internationales Recht, welches eine völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts erfordern kann. Trotz vieler guter Regelungen und Praktiken gegen geschlechtsspezifische Gewalt besteht in Deutschland noch erheblicher Handlungsbedarf zur Umsetzung der Vorgaben aus der Istanbul-Konvention.
Aus Anlass des Inkrafttretens der Istanbul-Konvention auch als innerdeutsches Recht am 1. Februar 2018 erläutert der Deutsche Juristinnenbund dringlichen Umsetzungsbedarf in sieben weiteren Themenpapieren (die erste Serie zum 25. November findet sich hier: https://www.djb.de/themen/thema/ik/). Umsetzungsdefizite bestehen weiterhin bezüglich der staatlichen Verpflichtung zur Opferentschädigungen auch bei psychischer Gewalt. Mit dem trotz grundsätzlich begrüßenswerter Änderungen weiterhin deutlich zu engen Rahmen des sozialen Entschädigungsrechts befasst sich das insgesamt elfte Themenpapier.
Was die Istanbul-Konvention verlangt: Gemäß Artikel 30(2) iVm 33 der Konvention haben auch Betroffene von psychischer Gewalt einen Anspruch auf Entschädigung gegenüber dem Staat, wenn sie eine schwere psychische oder physische Beeinträchtigung (Gesundheitsschädigung) erlitten haben und eine Inanspruchnahme des Täters nicht in Betracht kommt.
Aktuelle Situation und Rechtslage: Ursprünglich erfasste das einschlägige Opferentschädigungsgesetz (OEG) nur Schädigungen durch einen „tätlichen Angriff“ (§ 1) und auch das Bundessozialgericht[1] beschränkte die Leistungen grundsätzlich auf Gesundheitsschädigungen durch physische Gewalt. Diese Engfassung des OEG entsprach weder den Vorgaben der Istanbul-Konvention, noch wurde diese Fassung den realen Problemlagen gerecht. Dies sei an drei Beispielen kurz erläutert.
Im digitalen Raum sind Hate Speech und Cyber Harassment, teils mobartig organisiert, inzwischen ein verbreitetes Mittel, um missliebige Meinungen und Personen zu verdrängen.[2] Cyber Harassment kann sich über Tage, Wochen oder Jahre erstrecken und auch nach Umzug, Berufswechsel oder gar Annahme einer neuen Identität fortsetzen. Die gesundheitlichen Auswirkungen entsprechenden Folgen schweren Mobbings: erhebliche seelische und psychische Beschwerden, psychosomatische Erkrankungen (Migräne, Übelkeit und Erbrechen, Hautkrankheiten etc.), Angstzustände, Depressionen, Suizidgedanken. Nicht nur für freiberuflich oder selbständig im Netz Tätige können auch die ökonomischen Folgen erheblich sein, wenn Auszeiten, Identitäts- oder gar Berufswechsel notwendig werden. Die Bekämpfung digitaler Gewalt gegen Frauen ist eine wesentliche staatliche Aufgabe, bezüglich welcher bisher kaum geeignete staatliche Maßnahmen ergriffen wurden.[3]
Auch Gewalt in sozialen Nahbeziehungen (sog. häusliche Gewalt) entfaltet massiv schädigende Wirkungen nicht nur durch körperliche und sexuelle Übergriffe, sondern auch durch über lange Zeiträume ausgeübte psychische Gewalt wie Beschimpfungen, Beleidigungen, Bedrohungen, Herabsetzungen, Einschüchterungen und vergleichbare Handlungen. Solche umgangssprachlich als „Psychoterror“ bezeichneten Vorgänge können wesentlich zur Traumatisierung der Betroffenen und lang andauernden psychischen oder psychosomatischen Leiden beitragen.
Schließlich konnten Betroffene von Menschenhandel nicht entschädigt werden, wenn sie nicht durch direkte physische Gewalt, sondern durch Bedrohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder durch Bedrohung ihrer Kinder oder anderer Familienangehöriger sexuell oder in ihrer Arbeitskraft ausgebeutet wurden.[4]
Mit dem Gesetz zur Regelung des sozialen Entschädigungsrechts vom 12. Dezember 2019 wurde das Recht der sozialen Entschädigung (zuvor: Opferentschädigungsrecht) grundlegend neu geordnet und unter anderem der Begriff der anspruchsbegründenden Gewalttat um „psychische Gewalttaten“ erweitert.[5] Nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 SGB XIV ist eine anspruchsbegründende Tat auch gegeben, wenn ein „sonstiges vorsätzliches, rechtswidriges, unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung einer Person gerichtetes schwerwiegendes Verhalten (psychische Gewalttat)“ vorliegt. Als im Regelfall schwerwiegend gilt ein Verhalten nach § 13 Abs. 2 SGB XIV, wenn es den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs (§§ 174 bis 176b des Strafgesetzbuchs), des sexuellen Übergriffs, der sexuellen Nötigung, der Vergewaltigung[6] (§§ 177 und 178 des Strafgesetzbuchs), des Menschenhandels (§§ 232 bis 233a des Strafgesetzbuchs), der Nachstellung (§ 238 Absatz 2 und 3 des Strafgesetzbuchs), der Geiselnahme (§ 239b des Strafgesetzbuchs) oder der räuberischen Erpressung (§ 255 des Strafgesetzbuchs) erfüllt oder von mindestens vergleichbarer Schwere ist. Die damit erfolgte Erweiterung sozialer Entschädigung auf Betroffene von „psychischen Gewalttaten“ ist zwar erfreulich, entspricht aber weiterhin nicht den Vorgaben der Istanbul-Konvention.[7]
Die Istanbul-Konvention kennt keine Einschränkung auf „schwerwiegende“ psychische Gewalt, welche aus der Täterperspektive bestimmt wird. Vielmehr ist jede Form geschlechtsspezifischer Gewalt entschieden zu bekämpfen und anzuerkennen, dass körperliche Gewalt nur eine ihrer Erscheinungsformen darstellt. Auch psychische Gewalt wie digitale Hassrede gegen Frauen, nicht-körperliche Formen von Gewalt in sozialen Nahbeziehungen (sog. häusliche Gewalt) oder die Bedrohung von Menschenhandelsopfern oder ihrer Angehörigen können erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen bis hin zu chronischen Leiden bei den Betroffenen verursachen. Nur auf solche Folgen bei den Betroffenen und nicht auf die Einschätzung durch den Täter oder die Erfüllung bestimmter Verbrechenstatbestände kann es ankommen.[8]
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erklärte in der Begründung zum Gesetzentwurf für ein soziales Entschädigungsrecht, dass der Begriff der „psychischen Gewalttat“ eingeschränkt werden müsse, da die Entschädigungsmöglichkeiten sonst uferlos würden.[9] Das ist in der Sache nicht falsch; die Einschränkung muss aber konventionskonform erfolgen. Artikel 33 der Istanbul-Konvention definiert psychische Gewalt als vorsätzliches Verhalten, durch das die psychische Unversehrtheit einer Person „ernsthaft beeinträchtigt“ wird. Neben einer Orientierung an der Schwere der Handlung, welche sich auch aus der Orientierung an Straftatbeständen ergeben kann, ist daher zwingend auch eine Orientierung des Entschädigungsanspruchs an den Folgen bei den Betroffenen vorzusehen.
Handlungsbedarf: Das Recht der sozialen Entschädigung ist daher so zu ändern, dass neben tätlichen Angriffen (körperliche Gewalttat) und psychischen Gewalttaten, welche nach bisheriger Definition aus Sicht des Täters oder auf Grund der Erfüllung eines Verbrechenstatbestandes als schwerwiegend angesehen werden, auch Betroffene von psychischen Gewalttaten Unterstützung, Hilfe und Entschädigung erhalten, welche nicht in diesem Sinne als schwerwiegend anzusehen sind. Eine Einschränkung des Entschädigungsanspruchs bei psychischen Gewalttaten kann nicht allein durch ihre an Strafrechtsnormen orientierte Einordnung als schwerwiegend erfolgen, sondern muss sich (zumindest auch) an den Folgen für die betroffene Person ausrichten. Wird die Gesundheit oder psychische Integrität einer Person durch nicht-körperliche Gewalt ernsthaft beeinträchtigt, dürfen dieser Person Unterstützung, Hilfe und Entschädigung nicht vorenthalten werden.
Forderung: Das Recht der sozialen Entschädigung ist dahingehend zu ändern, dass ein Anspruch auf Unterstützung, Hilfe und Entschädigung nicht nur bei einer „körperlichen Gewalttat“ oder einer „schwerwiegenden“ psychischen Gewalttat vorliegt, sondern auch bei sonstiger psychischer Gewalt, durch welche die Gesundheit oder psychische Unversehrtheit der betroffenen Person ernsthaft beeinträchtigt wird.
Prof. Dr. Maria Wersig
Präsidentin
Prof. Dr. Ulrike Lembke
Vorsitzende der Kommission Europa- und Völkerrecht
Dr. Leonie Steinl, LL.M. (Columbia)
Vorsitzende der Kommission Strafrecht
[1] BSG vom 16.12.2014, Az. B 9 V 1/13 R; BSG vom 17.04.2013, Az. B 9 V 1/12 R; BSG vom 07.04.2011, Az. B 9 VG 2/10 R. Allerdings legte das BSG den Begriff des tätlichen Angriffs in erheblichen Bedrohungssituationen auch zunehmend weit aus, hierzu und grundlegend zur früheren Rechtslage DIMR, Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz und der Gesetzlichen Unfallversicherung, 2013, mwN.
[2] Zur Problematik: Ulrike Lembke, Ein antidiskriminierungsrechtlicher Ansatz für Maßnahmen gegen Cyber Harassment, in: Kritische Justiz 2016, S. 385-406 mwN.
[3] Grundlegend hierzu djb, Mit Recht gegen Hate Speech – Bekämpfung digitaler Gewalt gegen Frauen. Policy Paper vom 04.11.2019, https://www.djb.de/verein/Kom-u-AS/ASDigi/st19-23/; djb, Stellungnahme vom 17.01.2020 zum Referentenentwurf des BMJV: Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, https://www.djb.de/verein/Kom-u-AS/K3/st20-01/.
[4] Dazu DIMR, https://menschenhandelheute.net/2013/10/17/deutsches-institut-fur-menschenrechte-zu-menschenhandel-rechte-der-betroffenen-starken/.
[5] Gesetz zur Regelung des sozialen Entschädigungsrechts vom 12. Dezember 2019, BGBl. I, S. 2652.
[6] Unklar bleibt, wie eine Vergewaltigung, die per definitionem mit einem Eindringen in den Körper des Opfers verbunden ist, als rein psychische Gewalttat ohne körperlichen Übergriff soll begangen werden können. Da auch die überfällige Reform des Sexualstrafrechts wesentliche auf Anforderungen der Istanbul-Konvention beruhte, drängt sich die Vermutung auf, dass es an einem menschenrechtskonformen Konzept für Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt insgesamt fehlt.
[7] Hierzu umfassend djb, Stellungnahme vom 09.01.2019 zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts“, https://www.djb.de/verein/Kom-u-AS/K3/st19-01/.
[8] Zutreffend djb, Stellungnahme vom 09.01.2019 zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts“,https://www.djb.de/verein/Kom-u-AS/K3/st19-01/.
[9] BMAS, Referentenentwurf zur Regelung des sozialen Entschädigungsrechts vom 20.11.2018, S. 149.