Stellungnahme: 07-28


zum Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 3. Dezember 2007 (ClG 14/07)

Stellungnahme vom

1.    Der Deutsche Juristinnenbund (djb) begrüßt, dass sich die Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (Regierungskonferenz), die am 23. Juli 2007 in Brüssel einberufen wurde, auf einen Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Vertrag von Lissabon) geeinigt hat. Damit können wesentliche Ergebnisse des Konventsentwurfs über einen Vertrag über eine Verfassung für Europa vom 18. Juli 2003 (CONV 850/03) gerettet werden.

2.    Der djb bedauert, dass die Regierungskonferenz die weiteren Beratungen nicht für Verbesserungen des Konventsentwurfes (CONV 850/03) sowie des in den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden gescheiterten Vertrages über eine Verfassung für Europa vom 29. Oktober 2004 (ABl. 2004/C 310/01, im Folgenden Verfassungsvertrag) genutzt hat; insbesondere die in der Stellungnahme des djb vom 25. September 2003 hervorgehobenen Punkte zu den Fragen der Gleichstellung von Frauen und Männern. Hierzu gehört

  • die Verankerung der geschlechtergleichstellungspolitschen Prüfung als Grundprinzip der Union in dem neuen EU-Vertrag,
  • eine moderne, den Besitzstand wahrende Gewährleistung der Gleichstellung von Frauen und Männern in Art. 23 und Art. 33 der Grundrechtecharta sowie
  • die Schaffung eines eigenständigen Politikbereichs mit separaten Regelungen zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

        Die Aufnahme dieser Bestimmungen wäre auch angesichts der völkerrechtlichen Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten zu einer formalen und materiellen Gleichstellung und Förderung von Frauen, wie sie insbesondere nach Art. 2, 3 und 4 der UN-Konvention zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW) bestehen, geboten gewesen.

3.    Der djb missbilligt insbesondere die Tatsache, dass die Charta der Grundrechte als fundamentale Werteordnung einer politischen Europäischen Union nicht im Interesse ihrer Bedeutung und der mit dem Vertrag angestrebten Transparenz in ihrem vollständigen Wortlaut in den Vertrag integriert, sondern lediglich über einen Verweis in Art. 6 Abs. 1 des Vertrages von Lissabon aufgenommen wurde. Daraus folgt zwar zumindest die angestrebte Rechtsverbindlichkeit der Charta.  Diese Form der Einbeziehung stellt allerdings nur den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, was vor dem Hintergrund, dass einige Mitgliedstaaten Ausnahmeregelungen in Bezug auf die Geltung der Charta für sich reklamiert haben, umso schwerer wiegt. Es kann keine relative Geltung von Grundrechten in einer Wertegemeinschaft wie der Europäischen Union geben. Zudem wird der fair ausgehandelte Kompromiss des Konvents konterkariert und der Konventsprozess als solcher desavouiert. Die Abschwächung des Verfassungsvertragsentwurfs im Interesse integrationsferner Mitgliedstaaten kommt auch an anderen Stellen zum Ausdruck, u.a. in dem Verzicht auf die ausdrückliche Verankerung des Grundsatzes des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts. Dieser war ursprünglich in Art. I-6 des Verfassungsvertrages vorgesehen. Das Prinzip wurde vor über 40 Jahren vom EuGH entwickelt und wird seit langem von allen Mitgliedstaaten anerkannten. Eine Verschleierung fundamentaler Prinzipien der Europäischen Union in einem Vollständigkeit reklamierenden Vertrag in der Hoffnung auf leichtere Zustimmung bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern ist kein rechtlich unerheblicher Verzicht zur Rettung der „politischen Substanz“, sondern kann sich langfristig als schädlich erweisen. Als Ausdruck tiefen Misstrauens in die eigene Kompetenz gibt dieses Unterlassen ein falsches Signal an die Bürgerinnen und Bürger und verhindert die notwendige offene Diskussion über die Interessen und Bedürfnisse der zur Union verbundenen Bürger und Mitgliedstaaten.

4.    Der djb weist darauf hin, dass mit dem jetzigen Vertrag lediglich der Stand vom 29. Oktober 2004, der Zeichnung des Verfassungsvertrages, der von der Regierungskonferenz 2004 auf der Grundlage des Konventsentwurfes ausgehandelt wurde, wieder erreicht ist. Auch die neuen Verträge müssen von allen Mitgliedstaaten, einschließlich derjenigen, die den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert oder ein Referendum erfolgreich durchgeführt haben, ratifiziert werden. Die Europäische Union steht folglich vor den selben Schwierigkeiten, seinen EU-Bürgerinnen und -bürgern die Vorzüge der Europäischen Union im Allgemeinen und die durch den Reformvertrag erreichten Fortschritte im Besonderen begreiflich zu machen und sie für das europäische Projekt einzunehmen. Sollten die Fehler, die zum Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden geführt haben und die auch bei anderen Mitgliedstaaten virulent werden können, wiederholt werden und die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon ebenfalls scheitern, so würde dies einen nicht wieder gut zu machenden Schaden und Rückschritt für die europäische Integration bedeuten.

5.    Der djb fordert daher die deutsche Bundesregierung ebenso wie die übrigen demokratischen Entscheidungstragenden im Bund und in den Ländern auf, sich sowohl in Deutschland als auch grenzüberschreitend aktiv für eine schnelle Ratifizierung einzusetzen, damit der Vertrag von Lissabon rechtzeitig vor den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Sommer 2009 in Kraft treten kann. Dies kann nur gelingen, wenn eine wirkliche Diskussion mit der Zivilgesellschaft über die Zukunft der Europäischen Union innerhalb der gesamten Union in Gang gebracht werden kann. Die Sichtweise der eigenen Regierungen im Hinblick auf den Gewinn des Reformprozesses ist für die Rezeption ihrer Bürger von elementarer Bedeutung.

6.    Zugleich ruft der djb die Bundesregierung auf, auch auf die Kommission einzuwirken, damit diese anders als beim Verfassungsvertrag ihre Strategie der Zurückhaltung aufgibt und ihren Auftrag zur Integration und zur Förderung des Reformprojekts annimmt.

Jutta Wagner
Präsidentin

Dr. Katja Rodi
Vorsitzende der Kommission Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht