Stellungnahme: 06-33


im Verfahren 1 BvR 1036/99 (Verfassungsbeschwerde) gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.2.1999 (3 C 10/98) zur Frage der Zulässigkeit eines Vollzeiterfordernisses in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung

Stellungnahme vom

Beschluss des BVerfG vom 9. Januar 2007

Der Deutsche Juristinnenbund (djb) unterstützt die bezeichnete Verfassungsbeschwerde nachdrücklich. Zu diesem Zweck möchte er einige zusätzliche Anmerkungen machen und, soweit es die Bedeutung der deutschen Grundrechte für den Fall betrifft, auch eine teilweise von der Beschwerdeschrift abweichende Begründungsmöglichkeit aufzeigen. Ergänzend soll dabei auf die von der Verfasserin dieser Stellungnahme zusammen mit Th. Giegerich in der Europäischen Zeitschrift für Wirtschaftsrecht veröffentlichte Anmerkung zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.2.1999 hingewiesen werden (Giegerich/ Richter EuZW Heft 18/ 1999, 574 f.).

I. Die Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter wegen willkürlicher Verletzung der Pflicht zur Vorlage an den EuGH (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG i.V.m. Art. 234 Abs. 3 EGV)

1. Der primärrechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter und seine Bedeutung für die Gültigkeit und Auslegung der Richtlinie 93/16/EWG

Das Bundesverwaltungsgericht hat seine Vorlageverpflichtung aus Art. 234 Abs. 3 des EG-Vertrags (EGV) willkürlich (zu diesem Maßstab: BVerfGE 82, 159, 195 f.) verletzt, weil es die Bedeutung des europäischen Primärrechts für den vorliegenden Fall verkannt hat. Dabei geht es, anders als das Bundesverwaltungsgericht und auch die Beschwerdeführerin meinen, nicht um Art. 141 (zuvor: Art. 119) EGV, der als Spezialbestimmung nur die Lohndiskriminierung betrifft, sondern um das Verbot der Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, den die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (EuGH) aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und internationalen Übereinkommen zum Schutze der Menschenrechte entwickelt hat.
Den hier einschlägigen Grundsatz der Geschlechtergleichheit erkannte der EuGH erstmals in der Rechtssache Defrenne III (Rs. 149/77; Slg. 1978, 1365, 1379 = NJW 1978, 2445) an, und zwar als individuelles Grundrecht mit Primärrechtsrang:

“Der zweite Teil der Frage geht dahin, ob es außerhalb der spezifischen Bestimmungen des Artikels 119 im Gemeinschaftsrecht einen allgemeinen Grundsatz gibt, der auf dem Geschlecht beruhende Diskriminierungen in bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für männliche und weibliche Arbeitnehmer verbietet.

Der Gerichtshof hat bereits wiederholt festgestellt, daß die Wahrung der Grundrechte des Menschen Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ist, deren Einhaltung er zu sichern hat. Es läßt sich nicht bezweifeln, daß die Beseitigung der auf dem Geschlecht beruhenden Diskriminierungen zu diesen Grundrechten gehört. Die gleiche Auffassung wird übrigens auch in der Europäischen Sozialcharta vom 18. November 1961 und in der Konvention Nr. 111 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 25. Juni 1958 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf vertreten. [...]“

Auf dieses Grundrecht auf “Beseitigung der auf dem Geschlecht beruhenden Diskriminierung“ nahm der EuGH in der Sache Razzouk und Beydoun (Rs. 75 und 117/82; Slg. 1984, 1509, 1530) wieder Bezug:

“Der Kläger beanstandet somit zu Recht, daß diese Vorschriften den Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter verletzen, der, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1978 in der Rechtssache 149/77 (Defrenne [...]) ausgeführt hat, zu den Grundrechten gehört, deren Wahrung er zu sichern hat.“

Der EuGH bekräftigte diese Rechtsprechung in der Sache P. (Rs. C-13/94; Slg. 1996, I-2159, 2165 = EuZW 1996, 398):

“Die Richtlinie [Anmerk. der Verf.: gemeint ist Richtlinie 76/207/EWG] ist somit nur eine Ausprägung des Gleichheitsgrundsatzes, der eines der Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts darstellt, in dem betreffenden Bereich.
Wie der Gerichtshof außerdem wiederholt festgestellt hat, stellt das Recht, nicht aufgrund des Geschlechts diskriminiert zu werden, eines der Grundrechte des Menschen dar, deren Einhaltung er zu sichern hat [...]“

Das Gericht Erster Instanz schloß sich dem in der Rechtssache Speybrouk (Rs. T-45/90; Slg. 1992, II-33, 46) an und bezog dabei ausdrücklich die sogenannte mittelbare Diskriminierung in den Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter mit ein:

“Nach dieser Klarstellung der Bedeutung dieses Klagegrundes stellt das Gericht weiterhin fest, daß der Grundsatz der Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Bereich der Berufstätigkeit und entsprechend das Verbot jeder unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts zu den Grundrechten gehört, deren Wahrung gemäß Artikel 164 EWG-Vertrag Aufgabe des Gerichtshofes und des Gerichts ist.“

Damit haben sowohl der EuGH als auch das Gericht Erster Instanz den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bzw. das Verbot der unmittelbaren wie mittelbaren Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts in ständiger Rechtsprechung als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts mit Grundrechtsqualität anerkannt. Als solchermaßen ungeschriebenes “Verfassungs“recht der Gemeinschaft steht er auf der gleichen Ebene mit den geschriebenen Bestimmungen des EG-Vertrags und geht wie diese als höherrangiges Primärrecht jeder EG-Richtlinie vor bzw. gibt verbindliche Maßstäbe für die Auslegung und Fortbildung des Sekundärrechts vor.

Daraus folgt, daß die vom Bundesverwaltungsgericht für maßgeblich gehaltene Kollision zwischen der Gleichstellungsrichtlinie 76/207/EWG und der vermeintlich spezielleren und jüngeren Ärzteausbildungsrichtlinie 93/16/EWG nur unter der besonderen weiteren Voraussetzung besteht, daß das in der Ausbildungsrichtlinie (Sekundärrecht) enthaltene Vollzeiterfordernis ohne jeden vernünftigen Zweifel mit dem primärrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter vereinbar ist. Anderenfalls ist die Ausbildungsrichtlinie wegen Verstoßes gegen höherrangiges europäisches Recht (teil-)nichtig. Die auch zu erwägende primärrechtskonforme Auslegung scheidet wegen der Eindeutigkeit des Wortlauts in mehreren hier berücksichtigten Sprachfassungen wohl aus; allerdings kommt eine lückenfüllende Rechtsfortbildung (z.B. Formulierung einer Ausnahme vom Vollzeiterfordernis für kindererziehende Frauen, an die der Gesetzgeber u.U. nicht gedacht hat) in Betracht.


Zu dieser entscheidungserheblichen Frage nach der Gültigkeit der Ärzteausbildungsrichtlinie 93/16/EWG hat der allein zuständige EuGH bisher noch keine Entscheidung getroffen. Eine solche ist auch nicht etwa wegen Offenkundigkeit entbehrlich, denn ein “Acte clair“ liegt nach der Rechtsprechung des EuGH nur dann ausnahmsweise vor, wenn sich eine allein richtige Auslegung den Gerichten aller Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft geradezu aufdrängen muß (EuGH, Slg. 1982, 3415, 3429 f.). Bedenkt man, daß es hier um die Vereinbarkeit eines zwingenden Vollzeiterfordernisses zulasten von Müttern mit Kleinkindern mit dem höherrangigen Verbot der auch mittelbaren Frauendiskriminierung geht, kann von einer solchen Eindeutigkeit der primärrechtlichen Unbedenklichkeit der Ausbildungsrichtlinie überhaupt keine Rede sein. Vielmehr ist es, zumal nach dem Inkrafttreten von Art. 3 Abs. 2, 13 n.F. EGV, sehr wahrscheinlich, daß der EuGH das Vollzeiterfordernis zulasten von Müttern grundsätzlich für eine mittelbare Diskriminierung und als solche für unvereinbar mit dem primärrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz halten, zumindest aber eine entsprechende Regelungslücke in der Ausbildungsrichtlinie erkennen wird. Wie auch immer er jedoch entscheiden sollte: Die Frage mit europaweiter Wirkung einheitlich zu klären, ist gerade Gegenstand und Zweck der Pflicht zur Vorlage an den EuGH, dem das Verwerfungsmonopol über Sekundärrechtsakte zusteht (EuGH, Slg. 1987, 4199; Rs. 314/85 –Foto-Frost). Diese Pflicht hat das Bundesverwaltungsgericht willkürlich mißachtet, indem es ungeachtet einer ständigen Rechtsprechung des EuGH zur Geltung des gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes (s.o.) die Vereinbarkeit der Richtlinie 93/16/EWG mit diesem hier allein einschlägigen höherrangigen Recht bzw. die daraus u.U. folgende Teil-Nichtigkeit nicht einmal problematisierte.


2. Zum Verhältnis beider Richtlinien zueinander im (unwahrscheinlichen) Falle einer Kollision

Wenn die primärrechtskonforme Auslegung der Ärzteausbildungsrichtlinie 93/16/EWG zu dem Ergebnis führt, daß das Vollzeiterfordernis grundsätzlich nicht auf Mütter mit Kleinkindern erstreckt werden kann (siehe zuvor I.1.), kommt es auf das vom Bundesverwaltungsgericht problematisierte Verhältnis dieser jüngeren Richtlinie zur älteren Gleichstellungsrichtlinie 76/207/EWG gar nicht an. Selbst wenn man aber zur Kollision zwischen den beiden Richtlinien gelangt, das Vollzeiterfordernis also auch auf diesen Personenkreis bezieht, wäre eine verdrängende Spezialität der Ärzteausbildungsrichtlinie gegenüber der Gleichstellungsrichtlinie bzw. die verdrängende Anwendung der lex posterior-Regel keineswegs so klar, wie dies das Bundesverwaltungsgericht angenommen hat. Aufschlußreich ist insoweit das Urteil des EuGH in der Rechtssache Travel Vac vom 22.4.1999 (Rs. C-423/97; Internet: curia.eu.int/jurisp/), in dem es um die Anwendbarkeit der Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (“Haustürgeschäfte“) in einem Fall ging, der von der späteren Richtlinie 94/47/EG des Rates zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien vom 26.10.1994 erfaßt wurde. Auch hier hätte es nahegelegen, eine verdrängende Wirkung der jüngeren und spezieller scheinenden Timesharing-Richtlinie anzunehmen. Hätte man auf diese Kollision die vom Bundesverwaltungsgericht verwendete Argumentation übertragen, hätte sich auch hier der Rat wegen der Typizität der Problemlage bewußt gewesen sein müssen, daß die an Urlaubsorten geschlossenen Timesharing-Verträge in aller Regel nicht zustande kommen, indem die Urlauber von sich aus die Geschäftsräume der Timesharing-Vertreiber aufsuchen; habe die Timesharing-Richtlinie aber ungeachtet dessen kein Widerrufsrecht vorgesehen, habe, so müßte die analoge Argumentation lauten, der europäische Gesetzgeber einen solchen Schutz des Verbrauchers eben nicht gewollt; folglich hätte die Timesharing-Richtlinie als jüngere und speziellere Richtlinie die Richtlinie über Haustürgeschäfte verdrängt.


Der EuGH folgte dieser Argumentation in der Sache Travel Vac nicht und befand im Gegenteil (EuGH a.a.O., Rdnrn. 22, 23):

“Zum einen schließt der Umstand, daß Teilzeitnutzungsverträge unter die Richtlinie 94/47 fallen, nicht aus, daß ein Vertrag, der u.a. eine Teilzeitnutzung betrifft, zugleich unter die Richtlinie 85/577 fällt, wenn die Voraussetzungen für deren Anwendung im übrigen erfüllt sind. Keine der beiden Richtlinien schließt nämlich die Anwendung der jeweils anderen ausdrücklich aus. Auch würde es dem Ziel der Richtlinie 85/577 zuwiderlaufen, wäre der Schutz, den sie gewährt, allein deshalb ausgeschlossen, weil der Vertrag zunächst unter die Richtlinie 94/47 fällt. Eine solche Auslegung nähme dem Verbraucher den Schutz der Richtlinie 85/577, obwohl der Vertrag außerhalb von Geschäftsräumen geschlossen wurde.“ (Hervorhebung durch Verf.)

Überträgt man diese schutzorientierte Auslegungsmethode des EuGH auf den hier gegebenen Fall, müßte das Ergebnis wohl lauten: Die Ärzteausbildungsrichtlinie 93/16/EWG schließt die Geltung der Gleichstellungsrichtlinie 76/207/EWG –vorausgesetzt sie ist sachlich einschlägig– ebenfalls nicht ausdrücklich aus; auch würde es dem Ziel der Richtlinie 76/207/EWG zuwiderlaufen, wäre der Schutz, den sie gewährt, allein deshalb ausgeschlossen, weil der Vertrag zunächst unter die Richtlinie 93/16/EWG fällt; eine solche Auslegung nähme nämlich speziell Frauen den Schutz der Richtlinie 76/207/EWG, obwohl sie als Mütter von Kleinkindern ungleich stärker bzw. häufiger als Männer vom Vollzeiterfordernis in der Ausbildung betroffen sind. Wie immer der EuGH diesen Kollisionsfall aber entscheiden würde: Auch hier gilt, daß die noch ungeklärte Frage nach dem Verhältnis zweier EG-Richtlinien zueinander nur vom EuGH für alle Mitgliedstaaten einheitlich beantwortet werden kann. Auch insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht als letztinstanzliches Gericht seine Vorlageverpflichtung willkürlich verletzt, indem es zur Lösung der vermeintlichen Kollision die ihm aus dem deutschen Recht vertrauten Grundsätze anwendet (BVerwG a.a.O. 2c: “Zum einen gilt, daß unter gleichrangigen Normen die speziellere die allgemeine verdrängt. Dieser Grundsatz greift hier ein, weil die Richtlinie [...]. Zum anderen gilt der Grundsatz, daß im Falle einer Normenkonkurrenz die spätere Norm der früheren vorgeht. Auch dies spricht für den Vorrang der Richtlinie [...].“), ohne auch nur die Frage aufzuwerfen, ob der EuGH dieselben Grundsätze in gleicher Weise anwenden und nicht auch andere Gesichtspunkte miteinbeziehen würde. Zu diesen zählen hier der besondere, auf alle Berufs- und Arbeitsbereiche zielende Schutzzweck der Gleichstellungsrichtlinie und der eben nicht ausdrückliche Ausschluß ihrer Geltung seitens der eine ganz andere Materie regelnden Ärzteausbildungsrichtlinie. Läßt in einem solchen Falle die vermeintlich speziellere Richtlinie (Ausbildungsrichtlinie) nicht einmal in der für ihren Erlaß erforderlichen Begründung erkennen, daß sie die umfassende und grundrechtsnahe Gleichstellungsrichtlinie in jedem Falle verdrängen soll, ist vom Gegenteil, das heißt, einem Nebeneinander beider Richtlinien auszugehen, welche notfalls im Wege lückenfüllender Rechtsfortbildung aneinander angeglichen werden müssen. Damit ist die Verdrängung der Gleichstellungsrichtlinie aber hier nicht “eindeutig“ (BVerwG a.a.O. 2c); an der Vorlage führt nach den Maßstäben des EuGH, wie sie in der Sache Travel Vac zum Ausdruck kommen, kein Weg vorbei.


II. Die Verletzung der deutschen Grundrechte

1. Verkennung der Bedeutung der Grundrechte und der besonderen Schwere des Eingriffs durch das Bundesverwaltungsgericht

Hinsichtlich der Frage des möglichen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 3, 12 GG soll hier nicht im einzelnen Stellung genommen werden. Hervorzuheben ist jedoch, daß es für die Beschwerdeführerin laut Sachverhalt darum geht, ob sie ihre langjährige medizinische Ausbildung überhaupt erfolgreich abschließen kann oder viele Jahre völlig vergeblich auf dieses Ziel hingearbeitet hat. Diese besondere Schwere des Eingriffs ergibt sich daraus, daß es die damals durchlaufene Ausbildung zur “Praktischen Ärztin“ seit 1996 nicht mehr gibt und der Beschwerdeführerin Alternativen hierzu wegen der Kinder heute nicht mehr offenstehen. Diesen grundrechtsrelevanten und unter Verhältnismäßigkeitsaspekten sehr bedeutsamen Umstand übergeht das Bundesverwaltungsgericht völlig, indem es lediglich von der “Möglichkeit“ der Antragstellerin spricht, “die Ausbildung nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten“ (BVerwG a.a.O. 2d) und, ohne genauere Erkenntnisse über Praxisorganisation und Behandlungswesen mitzuteilen, ominöse “unnötige Risiken“ bei der medizinischen Versorgung im Falle einer Teilzeitbeschäftigung beschwört, die sich weitgehend auf “das Bild des Hausarztes“ (in der männlichen Form) beschränken. Anders als das Bundesverwaltungsgericht es darstellt, geht es aber gerade nicht um die persönliche Launigkeit einer sich ‘selbstverwirklichenden‘ Frau, sondern um einen schweren und gleichheitswidrigen Eingriff in die Berufsausbildungsfreiheit, im vorliegenden Fall um das berufliche “Aus“: Die Beschwerdeführerin soll deshalb endgültig an der Tätigkeit als Kassenärztin gehindert werden, weil sie einen der zahllosen Ausbildungsabschnitte wegen der Betreuung zweier Kleinkinder nicht ein halbes Jahr in Vollzeit, sondern ein ganzes Jahr in Teilzeit (ca. 23,5 Stunden pro Woche) absolvierte.

Sollte das Urteil Bestand behalten, wäre die von ihm ausgehende Breiten- und Signalwirkung in bezug auf den Schutz des ungeborenen Lebens verheerend. Müssen nämlich Frauen in der Lage der Beschwerdeführerin erkennen, daß Rechtsprechung und Gesetzgebung sie mittels starrer und wenig hinterfragter Vollzeiterfordernisse (z.B. “Bild des Hausarztes“) zur Wahl zwischen der Geburt von Kindern oder der Beendigung einer aufwendigen und schon weit gediehenen Ausbildung zwingen, bewirkt dies tendenziell die Schwächung und nicht die Stärkung der Entscheidung für das Kind. Dann hätten die folgenden Ausführungen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Schutzpflicht des Staates zugunsten des ungeborenen Lebens in seinem Urteil zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 88, 203 ff.) keine von den Frauen ernst zu nehmende Bedeutung mehr:

“Der Staat genügt seiner Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen menschlichen Leben nicht allein dadurch, daß er Angriffen wehrt, die diesem von anderen Menschen drohen. Er muß auch denjenigen Gefahren entgegentreten, die für dieses Leben in den gegenwärtigen und absehbaren realen Lebensverhältnissen der Frau und der Familie begründet liegen und der Bereitschaft zum Austragen des Kindes entgegenwirken. Darin berührt sich die Schutzpflicht mit dem Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 1 und 4 GG [...]. Sie verpflichtet die staatliche Gewalt, Problemen und Schwierigkeiten nachzugehen, die der Mutter während und nach der Schwangerschaft erwachsen können. [...] Diesem Auftrag entspricht es, Mutterschaft und Kinderbetreuung als eine Leistung zu betrachten, die auch im Interesse der Gemeinschaft liegt und deren Anerkennung verlangt. [...] Die der Mutter geschuldete Fürsorge der Gemeinschaft umfaßt die Verpflichtung des Staates, darauf hinzuwirken, daß eine Schwangerschaft nicht wegen einer bestehenden oder nach der Geburt des Kindes drohenden materiellen Notlage abgebrochen wird. Ebenso sind Nachteile, die einer Frau aus der Schwangerschaft für Ausbildung und Beruf erwachsen können, nach Möglichkeit auszuschließen. [...]“ (BVerfGE a.a.O. 258 f.)


2. Zur Bedeutung des deutschen Verfassungsrechts für das Europarecht

Sowohl das Bundesverwaltungsgericht als auch die Beschwerdeführerin gehen mit Recht davon aus, daß die hier betroffene Materie wesentlich durch Europarecht geregelt ist. Daher stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Verletzung deutscher Grundrechte in diesem Zusammenhang haben kann.

Unrichtig ist insoweit die Auffassung der Beschwerdeführerin, daß “die EG-Richtlinie zur Ärzteausbildung und das Hamburger Ärztegesetz in dem hier angegriffenen Punkt wegen Verstoßes gegen Verfassungsrecht unwirksam“ (Beschwerdeschrift S. 9) seien. Denn kein deutsches Gericht besitzt die Kompetenz, eine europäische Richtlinie für unwirksam zu erklären. Allenfalls stellt sich die Frage, ob die Grundrechte des Grundgesetzes in extremen Ausnahmefällen die deutsche Staatsgewalt zur Nichtanwendung europäischen Rechts zwingen und damit einen Anwendungsvorrang deutschen Verfassungsrechts im Einzelfall begründen könnten. Wie die “Solange-Rechtsprechung“ (BVerfGE 73, 339 ff.) jedoch zeigt, nimmt das Bundesverfassungsgericht diese theoretische Möglichkeit grundsätzlich nicht in Anspruch; daran ändert auch das Maastricht-Urteil, das insoweit ein “Kooperationsverhältnis“ (BVerfGE 89, 155, 175) zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH betont, im wesentlichen nichts.

Hier geht es aber eigentlich nicht um die Frage, ob der Grundrechtsschutz auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft versagt hat und deutsche Grundrechte daher an seine Stelle treten müssen, sondern darum, daß ein deutsches Gericht durch Nicht-Vorlage dem EuGH jede Möglichkeit vorenthalten hat, einen ausreichenden Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene zu gewährleisten: Hätte das Bundesverwaltungsgericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Ärzteausbildungsrichtlinie 93/16/EWG mit dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Gleichberechtigung von Männern und Frauen bzw. dem Verbot der auch mittelbaren Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts vereinbar ist, hätte der EuGH eine Grundrechtsprüfung nach europäischen Maßstäben vornehmen können. Dies wurde ihm gerade versagt.

In einem solchen Falle ist über Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hinaus auch den betroffenen Grundrechten des Grundgesetzes (hier: Art. 3 Abs. 3, 12 GG) eine verfassungskräftige unmittelbare Verpflichtung der deutschen Gerichte zu entnehmen, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen, wenn nur so ein Grundrechtsschutz überhaupt sichergestellt werden kann. Es kann nämlich dem Bundesverwaltungsgericht auch im Hinblick auf Art. 1 Abs. 3 GG nicht erlaubt sein, aus der vermeintlichen Spezialität einer EG-Richtlinie gegenüber einer anderen, dem allgemeinen “Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts“ (BVerwG a.a.O. sub 3) oder einer nach eigenen Vorstellungen interpretierten Acte clair-Doktrin zu entnehmen, daß die Grundrechtsprüfung sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene, also schlechterdings, entfallen könnte. Vielmehr verstärkt der objektive Wertgehalt der betroffenen deutschen Grundrechte in einer solchen Konstellation –es geht um die Geltung und Reichweite eines Grundrechts des Gemeinschaftsrechts, das allein den erforderlichen Schutz gegen die belastenden Wirkungen eines Sekundärrechtsakts der Gemeinschaft bietet– die gemäß Art. 234 Abs. 3 EGV ohnehin obligatorische Vorlagepflicht. Meinen deutsche Gerichte, in einer solchen Konstellation überhaupt keine europäischen Grundrechte erkennen zu können, und droht der Grundrechtsschutz dadurch wie im Falle der bundesverwaltungsgerichtlichen Entscheidung insgesamt auszufallen, erzwingen die einschlägigen Grundrechte des Grundgesetzes i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG die Vorlage an den EuGH. Setzt das Bundesverfassungsgericht eine solchermaßen grundrechtsessentielle Vorlageverpflichtung durch, gewährt es Grundrechtsschutz durch Verfahren, damit der EuGH die materielle Grundrechtsfrage abschließend beantworten kann. Dadurch greift es ganz im Sinne seiner bisherigen Rechtsprechung nicht in den europäischen Jurisdiktionsbereich ein, sondern erfüllt das zwischen den beiden Gerichten bestehende Kooperationsverhältnis (BVerfGE 89, 155, 175) im Interesse des Grundrechtsschutzes mit Leben.
 

Prof. Dr. Ursula Nelles
1. Vorsitzende

Dr. Dagmar Richter, Heidelberg