Stellungnahme: 06-22


zum Gemeinsamen Standpunkt für den Entwurf einer Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt (KOM [2004] 2)

Stellungnahme vom

Der Deutsche Juristinnenbund (djb) begrüßt grundsätzlich die Annahme des gemeinsamen Standpunktes des Ministerrates vom Juli 2006 als wichtigen Schritt in die richtige Richtung, aber unterbreitet im Folgenden aus Sicht des djb notwendige Änderungen und Ergänzungen.

Allgemeine Bewertung

Der djb begrüßt, dass mit dem Instrument der Dienstleistungsrichtlinie das Ziel des im EGV auf den 31. Dezember 1992 statuierten, aber bislang nur unzureichend verwirklichten Binnenmarkts im Dienstleistungsbereich vorangetrieben und damit dem Lissabon-Prozess wichtige Impulse gegeben werden sollen, damit mitgliedstaatliche Hemmnisse für die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung abgebaut und hierdurch insbesondere qualifizierte Beschäftigungs­formen in Europa gestärkt und ausgebaut werden können. Der djb befürwortet namentlich, dass die Mitgliedstaaten stärker verpflichtet werden sollen, die bereits bestehenden Instrumente in diesem Bereich wirksam umzusetzen und alle Hindernisse durch Beschränkungen wie Staats­angehörigkeits- und Wohnsitzvorbehalte, Zugangsregelungen und Genehmigungspflichten zu beseitigen bzw. auf ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen.

Der djb heißt in diesem Sinne die Bemühungen der Kommission gut, die im Wesentlichen auf der EuGH-Rechtsprechung beruhende Dogmatik zur Dienstleistungsfreiheit zu kodifizieren und durch nützliche Verfahren und Instrumente, wie der Schaffung einheitlicher Ansprechpartner, der Koordinierung und Stärkung der Zusammenarbeit der mitgliedstaatlichen Behörden unter Einsatz moderner Informationstechnologie und Vereinfachung von Verfahren sowie der Qualitätssicherung zu flankieren. Der Richtlinienentwurf in der Fassung des Gemeinsamen Standpunkts des Ministerrats bietet in dieser Hinsicht viele gute Ansätze, nachdem zahlreiche bedenkliche und einseitige Vorschläge aus dem ursprünglichen Kommissionsentwurf heraus­genommen worden sind. Dies betrifft in Sonderheit die Behandlung der Dienstleistungen von allgemeinem und allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, darunter die sozialen und Gesund­heitsdienstleistungen. Weiter ist die bessere Klarstellung des Verhältnisses der horizontalen Richtlinie zu den sektorspezifischen Instrumenten hervorzuheben. Begrüßt wird auch die Beschränkung des von der Kommission angedachten „radikalen“ Herkunftslandprinzips. Das zukünftige Zusammenwirken über die Kontrollzuständigkeit des Staates, in dem die Dienstleis­tung erbracht wird, bei gleichzeitiger Verpflichtung des Herkunftsstaates bewertet der djb positiv, wenngleich die Maßnahmen zur Qualitätssicherung nach Auffassung des djb noch weiter nachgebessert werden müssten.

Das von der Kommission propagierte Ziel der Einfachheit, Transparenz, Effizienz und Rechts­sicherheit wird aus Sicht des djb allerdings nicht erreicht, wobei davon auszugehen ist, dass diese Ziele sowieso kaum zu realisieren waren. So begrüßenswert sie auch sind, so dürfen diesen Zielen nicht die Einzelfallgerechtigkeit und eine sinnvolle Differenzierung ungleicher Sach­verhalte geopfert werden. Dienstleistungen umfassen eine ganze Bandbreite von Tätigkeiten, von handwerklichen über freiberuflichen zu hoheitlichen Tätigkeiten, von rein wirtschaftlichen bis zu Leistungen der Daseinsfürsorge. Diese unterliegen – in jedem Mitgliedstaat unterschied­lichen politischen Wertentscheidungen folgenden – nationalen Regimen, die einen Ausgleich der unterschiedlichsten Interessen suchen. Diese nationalen Regelungen a priori mit einem General­verdacht der unzulässigen Hinderung der Dienstleistungsfreiheit zu belegen, schießt weit über das Ziel der Dienstleistungsfreiheit hinaus und wird den jeweiligen Besonderheiten verschiede­ner Dienstleistungsbereiche nicht gerecht.

Zu Recht haben das Europäische Parlament und der Ministerrat den ursprünglichen Kommis­sionsentwurf inzwischen inhaltlich abgeschwächt. Dies konnte zwangsläufig nur auf Kosten der postulierten Einfachheit und Übersichtlichkeit geschehen. Die Richtlinie, deren 46 Artikel zur Erklärung 118 Erwägungsgründe benötigen, enthält in der jetzigen Fassung gerade zu den Kernbereichen des Anwendungsbereichs und der Regelungen zur Dienstleistungsfreiheit eine verwirrende Vielzahl von Regelungen, Ausnahmen und Gegenausnahmen, Lücken und Unwäg­barkeiten. Diese bedürfen einer umfangreichen Auslegung des EuGH, was zu Jahren neuer Rechtsunsicherheit führt, weil nicht auf die bisherige Rechtsprechung zurückgegriffen werden kann. Insgesamt ist die Richtlinie ein vergeblicher Versuch, eine so vielfältige Erscheinungsform, wie es die Dienstleistungsfreiheit im weitesten Sinne ist, einem simplifizierten Regularium zu unterwerfen.

Der djb bedauert, dass sich der Richtlinienentwurf in dem Bestreben, die Erbringung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen im Binnenmarkt voranzubringen, von der in mehr als drei Jahrzehnten vom EuGH in seiner Rechtsprechung ausgearbeiteten und in der Praxis bewährten Dogmatik zu den Grundfreiheiten und ihren Schranken weit entfernt hat. Das ausgewogene Gleichgewicht zwischen dem Wunsch der Dienstleistungserbringenden an einer schrankenlosen Tätigkeit im gesamten Binnenmarkt zu den Bedingungen des Sitzstaates einer­seits und den legitimen Interessen des Tätigkeitsstaats andererseits, aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls verhältnismäßig zu beschränken, soll zugunsten einer einseitigen Privilegie­rung der Dienstleistungserbringenden zerstört werden. Der djb hält es im Interesse aller Seiten - Verbraucherinnen und Verbraucher, Dienstleistungsempfangende sowie anderer betroffener Rechtsgüter – für unerlässlich, dass die Mitgliedstaaten ihr bestehendes justiziables und von der Kommission im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens zu sanktionierendes Ermessen weiter­hin frei ausüben dürfen, ohne eine Festlegung auf nur noch vier berechtigte „zwingende Gründe im Allgemeinwohl“ durch die Richtlinie. Der djb befürchtet, dass hierdurch aus bloßen temporären ökonomischen Gegebenheiten unterschiedliche Regime unter den vier Grundfrei­heiten errichtet werden.

Auch wenn der europäische Gesetzgebungsprozess nahezu abgeschlossen ist, soll im Folgenden auf einige Punkte hingewiesen werden, die eine nochmalige Befassung verdienen.

Der Ansatz – ein Paradigmenwechsel

Art. 1 Abs. 1 formuliert die Intention der Richtlinie, durch die Schaffung eines allgemeinen Rechtsrahmens die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit durch Dienstleistungserbringende sowie den freien Dienstleistungsverkehr für sonstige Dienstleistungserbringende zu erleichtern. Die Beseitigung von mitgliedstaatlichen Hindernissen für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen bei gleichzeitiger Wahrung des Schutzes der Rechte der Dienstleistungs­empfangenden sowie die Schaffung von Rechtssicherheit[1] durch die Vereinheitlichung und Vereinfachung von Regeln sind grundsätzlich zu billigen. Besonders positiv hervorzuheben ist dabei, dass die vom Europäischen Parlament[2] vorgeschlagene Ergänzung der Ziele um das Merkmal der hohen Qualität in den Gemeinsamen Standpunkt Eingang gefunden hat[3].

Alle Ziele sollen mit Hilfe eines Paradigmenwechsels in der Binnenmarktpolitik umgesetzt werden. Der frühere, namentlich bei der Warenverkehrsfreiheit erprobte sektorspezifische Harmonisierungsansatz hat sich nicht ganz zu Unrecht als ein teilweise umständlicher, zeitraubender und in sich widersprüchlicher „Flickenteppich“ erwiesen. Die Kommission wollte dagegen mit ihrem ursprünglichen Entwurf einen konsequent horizontalen Ansatz verfolgen, der alle Dienstleistungssektoren und sämtliche Ausübungsformen der Dienstleistung erfassen sollte, unabhängig davon, ob die Dienstleistungserbringenden ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat dauerhaft verlegen (der von der Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EGV geregelte Bereich) oder ob sie sich ohne Sitzverlegung entweder a) vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat begeben, b) die Dienstleistungsempfangenden aus einem anderen Mitgliedstaat zu sich kommen lassen oder c) allein die Dienstleistung Grenzen überschreitet (die von der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EGV geregelten Bereiche).

Herkunftslandprinzip

Dreh- und Angelpunkt der Richtlinie ist nach dem Willen der Kommission das vom EuGH ursprünglich zur Warenverkehrsfreiheit entwickelte und dann auch auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit ausgedehnte Herkunftslandprinzip. Nach der Rechtsprechung des EuGH impliziert Art. 49 EGV neben dem Diskriminierungsverbot von Produkten und Personen auch ein Beschränkungsverbot, das jede unmittelbare oder mittelbare, tatsächliche oder potentielle Behinderung des Dienstleistungsverkehrs grundsätzlich für unzulässig erklärt[4]. Üben die Dienstleistungserbringenden ihre Tätigkeit zulässig in seinem Sitzstaat aus, dann soll dies auch in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie grenzüberschreitend tätig werden, akzeptiert[5] und Dienstleistende nicht durch eine doppelte Regelung belastet werden[6]. Inhaltlich ging es allerdings nicht bloß um die Kodifizierung der seit Jahrzehnten vom EuGH zu den Grund­freiheiten unter dem Schlagwort „Herkunftslandprinzip“ entwickelte Rechtsprechung, die neben dem im EGV enthaltenen Diskriminierungsverbot auch die Beschränkung des Zugangs und die Ausübung grenzüberschreitender Dienstleistungen verbietet, soweit nicht ein spezifischer Rechtfertigungsgrund im Allgemeinwohlinteresse gegeben ist. Die Kommission wollte diese Rechtsprechung auch auf bisher nicht betroffene Bereiche ausweiten und die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, hiervon abzuweichen, extrem reduzieren. Die Kodifizierung des Prinzips ist grundsätzlich als positiv zu bewerten, allerdings bestehen Bedenken, es prinzipiell und unterschiedslos auf alle Aspekte der Dienstleistungstätigkeit zu übertragen.

Der djb begrüßt insbesondere, dass das Herkunftsland nicht mehr wie ursprünglich geplant die Frage des anwendbaren Rechts regeln soll. Dies stellt Art. 17 Nr. 15 Rats-Text im Anschluss an Art. 3 Abs. 2 nochmals ausdrücklich klar.

Gender Impact Assessment (Geschlechterverträglichkeitsprüfung)

Der Richtlinienvorschlag der Kommission wurde keinem Gender Impact Assessment (Geschlechterverträglichkeitsprüfung) unterzogen. Im begleitenden Dokument Impact Assess­ment zum Richtlinienvorschlag[7] sind zwar Hinweise zu den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen sowie solchen auf die Umwelt thematisiert, aber eine Geschlechterverträglich­keitsprüfung hat nicht stattgefunden. Auch zum geänderten Richtlinienvorschlag der Kommission ist kein Gender Impact Assessment erfolgt. Der djb hat schon früh festgestellt, dass die Kommission bedauerlicherweise auf die im Rahmen des „Gender Mainstreaming Prinzips“ (Art. 3 Abs. 2 EGV) erforderliche diesbezügliche Folgenabschätzung verzichtet hat. Dabei ist nur mit diesem Instrumentarium abzuschätzen, welche Auswirkungen der Vorschlag auf die Gleichstellung von Frauen und Männern haben wird. Um eine Abschätzung zu ermöglichen, muss zuvor die empirische Basis dafür gelegt werden, indem geprüft wird, welche Personen von der Maßnahme auf welche Art und Weise betroffen werden. Die Europäische Kommission hat dies weder für den Bereich der Dienstleistungserbringenden noch für den der Dienstleistungs­empfangenden getan. Es müsste unter anderem festgestellt werden, wie viele Dienstleistungs­unternehmen von Frauen geleitet werden und wie hoch der Anteil der Frauen an den Beschäftigten dieser Unternehmen ist. Weiterhin sind Angaben dazu erforderlich, ob und inwiefern diese Unternehmen ihre Dienstleistungen vorwiegend Frauen oder Männern anbieten und ob sich die Angebote nach Geschlecht unterscheiden.

In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 23./24. März 2006[8] ist ein Europäischer Pakt für die Gleichstellung der Geschlechter (Ziff. 40 in Verbindung mit Anlage 2) angenommen worden. Die Staats- und Regierungschefinnen bzw. –chefs sind sich bewusst, wie wichtig eine Geschlechtergleichstellungspolitik für Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Wettbewerbs­fähigkeit ist. Insbesondere die Gewährleistung, dass die Auswirkungen für die Geschlechter­gleichstellung in den Folgenabschätzungen berücksichtigt werden sollen, ist für den djb ein wichtiges Anliegen.

Zu den einzelnen Vorschriften

Artikel 1 und 2: Gegenstand und Anwendungsbereich

Umfasst werden nach der Grundregel in Art. 2 Abs. 1 alle Dienstleistungen, die von in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringenden angeboten werden. Dienstleis­tungserbringende sind nach Art. 4 Nr. 2 jede natürliche Person mit der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats oder jede juristische Person, die ihre Dienstleistung in einem Mitgliedstaat erbringt. Die Definition der Dienstleistung in Art. 4 Nr. 1 kodifiziert sinnvollerweise die EuGH-Rechtsprechung zu Art. 50 EGV und erfasst damit alle selbständigen wirtschaftlichen und ent­geltlichen Tätigkeiten, die Dienstleistungsempfangende für berufliche oder andere Zwecke in Anspruch nehmen.

Der djb begrüßt, dass der Gemeinsame Standpunkt den ursprünglich sehr weiten Anwendungs­bereich der Richtlinie eingeschränkt und dabei ausdrücklich in Art. 1 Abs. 2 sowie Erwägungs­grund 35 klargestellt hat, dass die Richtlinie keine Liberalisierung, Privatisierung oder Abschaf­fung zulässiger Monopole intendiert und nationale Regelungen zum Schutz der kulturellen und sprachlichen Vielfalt oder des Medienpluralismus nicht berührt. Vor allem wird jetzt auch klargestellt, dass die Gemeinschaft nicht in die Definitionshoheit hinsichtlich der Dienst­leistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse eingreifen kann.

Zwar ergibt sich bereits aus Art. 50 EGV, dass die EU keine Kompetenzen in den Bereichen hat, die nicht marktbezogen, d.h. dem Wettbewerb geöffnet sind. Hierunter fallen die klassischen Bereiche der deutschen Daseinsfürsorge. Da es während der Diskussionen jedoch Befürchtungen gab, die Richtlinie könnte auf kaltem Wege zu einer Liberalisierung solcher Dienstleistungen von allgemeinem Interesse führen, dient die ausdrückliche Herausnahme dieser Dienstleistungen in Art. 2 Abs. 2 lit. a) der Klarheit.

Zu Recht sind daneben in Art. 1 Abs. 6, Art. 2 Abs. 2 lit. f) und j) auch weitere sensible Bereiche, darunter das Arbeitsrecht, sämtliche Gesundheitsdienstleistungen, soziale Dienst­leistungen in den Bereichen sozialer Wohnungsbau, Kinderbetreuung und Familiendienste herausgenommen. Insbesondere die Gesundheitsdienstleistungen sollen nun in einer eigenen sektorspezifischen Richtlinie geregelt werden. Wie sich das Zusammenspiel der Dienstleistungs­richtlinie mit dieser neuen Gesundheitsrichtlinie, die nach den Ankündigungen der Kommission neben Fragen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit auch die Kostenerstattung regeln will, gestaltet, bleibt abzuwarten.

Art. 2 Abs. 2 lit. i) wiederholt die bereits im vorrangigen Primärrecht (Art. 45 EGV) geregelte Bestimmung, wonach die EU keine Kompetenz für Tätigkeiten hat, die dauernd oder zeitweise mit der Ausübung von öffentlicher Gewalt verbunden sind. Dieser Buchstabe sollte im Interesse der Vermeidung doppelter Regelungen im Primär- und Sekundärrecht gestrichen werden, zumal der Grund, weshalb die Regelung vom Europäischen Parlament ursprünglich aufgenommen wurde, weggefallen ist. Buchstabe l) regelt jetzt speziell, dass Notarinnen und Notare sowie Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher, die durch staatliche Stellen bestellt werden, insgesamt vom Anwendungsbereich ausgenommen werden. Dies ist eine sehr erfreuliche Regelung, denn sie vermeidet den Streit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten mit lateinischem Notariat, darunter Deutschland, ob Notarinnen und Notare per se hoheitlich tätig sind und daher kategorisch nach Art. 45 EGV aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausfallen, oder ob nach der tätigkeitsbezogenen Definition des Art. 45 EGV auch bei diesen jeweils im Einzelfall zu differenzieren ist[9].

Die anwaltsspezifischen Richtlinien für Dienstleistungen 77/249/EWG und Niederlassungen 98/5/EG[10] wurden entgegen dem Vorschlag des Europäischen Parlaments nicht aus dem Anwendungsbereich herausgenommen[11]. Dies ist sinnvoll, da das Verhältnis zwischen diesen Richtlinien und der Dienstleistungsrichtlinie im Sinne eines Vorrangs der ersteren nunmehr in Art. 3 geregelt ist und kein Grund besteht, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte auch im Übrigen vom Regime der horizontalen Richtlinie auszunehmen.

Weiter hat der Gemeinsame Standpunkt eine vernünftige Lösung im Hinblick auf Regelungen des Strafrechts gefunden. Die vom Europäischen Parlament geforderte grundsätzliche Ausnahme für das Strafrecht stößt sich an der Rechtsprechung des EuGH, wonach es weder für das öffentliche Recht im Allgemeinen noch für das Strafrecht im Besonderen eine Bereichs­ausnahme aus dem Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit gibt, damit die Mitglied­staaten nicht über die Einordnung einer Norm Einfluss auf gemeinschaftsrechtliche Vorgaben nehmen können[12]. Der Gemeinsame Standpunkt enthält nunmehr in Art. 1 Abs. 5 lediglich eine Ausnahme für das „allgemeine“ Strafrecht und erläutert die Ratio in einem Erwägungsgrund 12. Art. 1 Absatz 7 stellt schließlich klar, dass die Richtlinie nicht so ausgelegt werden darf, dass sie in irgendeiner Weise die Ausübung der in den Mitgliedstaaten und durch das Gemein­schaftsrecht anerkannten Grundrechte einschließlich des Rechts auf Arbeitskampfmaßnahmen berührt. Da die Grundrechtecharta noch nicht verbindlich ist, wird hierauf lediglich in einem Erwägungsgrund 15 verwiesen. Dieser Verweis ist positiv, da hierdurch unter anderem auch der Gleichberechtigungsgrundsatz nochmals Geltung erhält.

Art. 3: Verhältnis zum übrigen Gemeinschaftsrecht

Erfreulicherweise wurde im Gemeinsamen Standpunkt die im ursprünglichen Kommissions­entwurf sehr vage gehaltene Regelung zum Verhältnis der horizontalen Richtlinie und dem sonstigen Sekundärrecht etwas besser verdeutlicht. Entsprechend der Forderung des Europäi­schen Parlaments haben nach Art. 3 Abs. 1 sekundärrechtliche Bestimmungen, die spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regeln, entsprechend dem im deutschen Recht geläufigen Grundsatz der lex specialis Vorrang. Um möglichen Zweifelsfragen zu begegnen, werden in Abs. 1 lit. a)-d) die Arbeitnehmerentsenderichtlinie 96/71/EG, die Verordnung 1408/71/EWG zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit, die Fernsehrichtlinie 89/552/EWG sowie die Berufs­anerkennungsrichtlinie2005/36/EG genannt. Unklar ist, ob damit tatsächlich alle Instrumente, die nicht berufsspezifische Regelungen darstellen, aber dennoch eigentlich vorrangige Rege­lungen enthalten, abgedeckt sind und was im Fall einer solchen Kollision passiert.

Die politische Diskussion um die Dienstleistungsrichtlinie hat sich zwar an der Entsendeproblematik entzündet. Diese tangiert die Richtlinie allerdings nur marginal. Art. 3 Abs. 1 lit. a) des Gemeinsamen Standpunktes stellt jetzt klar, dass die Entsenderichtlinie 96/71/EG[13] weiterhin Vorrang genießt. Auch die im ursprünglichen Kommissionsentwurf in Art. 24 und 25 vorgesehenen Erleichterungen für Arbeitnehmende entsendende Dienstleistende, wonach es dem Entsendestaat untersagt werden sollte, Genehmigungen, Erklärungen, die Vorhaltung von Unterlagen oder die Bestellung einer inländischen Vertretung zu verlangen, wie es u.a. in Deutschland vorgesehen ist, wurden auf politischen Druck zu Recht zurückgenommen.

Zwar werden die anwaltsspezifischen Richtlinien für Dienstleistungen (77/249/EWG) und Niederlassungen (98/5/EG)[14] nicht ausdrücklich aufgeführt. Dies ist auch nicht erforderlich, weil sie zweifelsfrei unter die allgemeine Vorrangregelung berufsspezifischer Instrumente fallen. Problematisch und von Rechtsprechung, Lehre und Praxis hinsichtlich der Abgrenzungsfragen noch dringend näher zu beleuchten ist dagegen der (in Art. 17 Ziff. 6 wiederholte) Vorrang der Berufsanerkennungsrichtlinie, soweit deren Art. 5 Abs. 3 für bestimmte Tätigkeiten reglemen­tierter Berufe das Bestimmungslandprinzip und nicht das Herkunftslandprinzip anordnet.

Sehr zu begrüßen ist schließlich, dass der ursprüngliche Wille der Kommission, mit der Richtlinie auch das Internationale Privatrecht, namentlich die Frage des auf einen grenzüberschreitenden Sachverhalt anwendbare Schuldrecht zu erfassen, in Parlament und Rat abgelehnt wurde (ausdrücklich Art. 3 Abs. 2). Damit bleibt klargestellt, dass das Internationale Privatrecht einer anderen Ratio folgt. Dort gelten die Grundsätze der Parteiautonomie, der Anerkennung jeder Rechtsordnung (auch der von Drittstaaten) als gleichwertig und der Suche nach einem Anknüpfungspunkt, der den Schwerpunkt der Rechtsbeziehung spiegelt und der stets eine  einzelfallorientierte Anknüpfung im pflichtgemäßen Ermessen des Richters ermöglicht. Zudem wird eine Zersplitterung zwischen dem Kollisionsrecht im Binnenmarkt und mit Drittländern vermieden. Der djb weist an dieser Stelle ausdrücklich darauf hin, dass die Entwicklungen der Vergemeinschaftung des Römischen Schuldvertragsübereinkommens (Rom I-VO) aufmerksam zu beobachten sein werden. Möglichen Bestrebungen der Kommission, stattdessen umgekehrt in die Rom-I-VO die Grundsätze der Dienstleistungsrichtlinie einzufügen, verkennen die unter­schiedliche Interessenlage der Instrumente.

Art. 5-8: Verwaltungsvereinfachung

Der Gemeinsame Standpunkt übernimmt ferner den Vorschlag des Europäischen Parlaments, die ursprünglich auf die Niederlassungsfreiheit beschränkten Bestimmungen zur Verwaltungs­vereinfachung ebenfalls auf die Dienstleistungsfreiheit zu erstrecken. Die ganz überwiegend für gut befundenen Bestimmungen kommen damit auch den vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat tätigen Dienstleistungserbringenden zugute. Ein neues Kapitel II zur „Verwal­tungsvereinfachung“ sieht in Art. 5 Abs. 1 eine allgemeine Verpflichtung zur Verwaltungs­vereinfachung mit der Möglichkeit zur Schaffung gemeinschaftlicher Formblätter vor. Dies wird um die Möglichkeit einer elektronischen Verfahrensabwicklung ergänzt (Art. 8).

Eine der wichtigsten Neuerungen stellt die Einrichtung der so genannten „Einheitlichen Ansprechpartner“ („one-stop-shops“) durch die Mitgliedstaaten nach Art. 6 dar. Über diese Anlaufstelle sollen die Dienstleistungserbringenden alle für ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat erforderlichen Verfahren und Formalitäten abwickeln und sich nach Art. 7 über alle Erfordernisse im Tätigkeitsstaat informieren können. Art. 7 Abs. 6 stellt klar, dass davon keine Rechtsberatung erfasst wird. Dabei stellt die Richtlinie es den Mitgliedstaaten frei, die Ansprechpartner staatlich, privat oder standesrechtlich zu organisieren. Wichtig ist bei der Umsetzung daher, dass diese Ansprechpartner sich gut in das nationale System einfügen und nicht zu Doppelstrukturen führen, sondern Synergien ausgenutzt werden. Es ist daher sinnvoll, dass entgegen dem Vorschlag des Europäischen Parlaments von der Einrichtung koordinierender Ansprechpartner auf EU-Ebene abgesehen wurde.  

Art. 14 und 15: Unzulässige bzw. zu prüfende Anforderungen für die Niederlassungsfreiheit

Art. 14 Abs. 1 enthält eine sinnvolle Negativliste mit acht unzulässigen Anforderungen, von denen das Bestimmungsland die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistung nicht abhängig machen darf. Hierzu zählen u.a. diskriminierende Staatsangehörigkeitserfordernisse, Residenz­pflichten oder doppelte Eintragungs- und Registrierungspflichten (sofern sie nicht eine reine Formalie sind).

Daneben müssen die Mitgliedstaaten ihre weiteren Anforderungen daraufhin überprüfen, ob sie diskriminierungsfrei, erforderlich und verhältnismäßig sind (Art. 15 Abs. 3 lit. a) - c)) und ihre Rechtsordnung entsprechend anpassen. Die Bestimmung versteht sich angesichts der Tatsache, dass sich die Mitgliedstaaten auf Gemeinschaftsebene oftmals zügig auf den Abbau von Hemmnissen für den Binnenmarkt einigen, dies in der Praxis aber nur schleppend umsetzen. Die Konsequenzen der Regelung sind nicht zu unterschätzen. Abgesehen von der Pflicht, das gesamte Recht auf ungerechtfertigte beschränkende Wirkungen und Diskriminierungen zu „scannen“, verschiebt es die Beweislast zugunsten der Kommission. Statt in langwierigen Vertragsverletzungsverfahren, die grundsätzlich nur inter partes wirken, den Mitgliedstaaten Vertragsverstöße nachzuweisen, tragen diese fürderhin die Verantwortung für gemeinschafts­konforme Regelungen. Dies dient im Ergebnis der Dienstleistungsfreiheit. Maßstab der Erforderlichkeit sind die vom EuGH entwickelten zwingenden Gründe des Allgemeininteresses. Die einzelnen bisher vom EuGH zu Art. 43 und 49 EGV anerkannten Gründe werden in Art. 4 Ziff. 8 aufgeführt, sind jedoch nicht abschließend zu verstehen[15]. Hierauf weist Erwägungsgrund 40 ausdrücklich hin und fügt darüber hinaus sogar noch weitere Gründe auf. Dazu zählen u.a. die in der deutschen Rechtsordnung wichtigen Gründe der Wahrung einer geordneten Rechtspflege und des Gläubigerschutzes. Ohne diese Rechtfertigung wäre es beispielsweise nicht möglich, die in Art. 15 Abs. 2 lit. g) genannten festgeschriebenen Mindest- und/oder Höchstpreise – mithin Gebührenordnungen – im Rahmen von Gerichtsverfahren zu rechtfertigen. Dass die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses – wie vom EuGH intendiert – nicht abschließend ausgestaltet sind, ist unerlässlich, um den Besonderheiten der nationalen Rechtsordnungen und ihrer politischen Grundentscheidungen gerecht zu werden. Auch kann auf diese Weise künftigen Entwicklungen flexibel Rechnung getragen werden.

Art. 16: Dienstleistungsfreiheit[16]

Nach der in Art. 15 Abs. 3 kodifizierten Rechtfertigungslehre des EuGH sind Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit nur gerechtfertigt, soweit sie aus zwingenden Gründen des Allgemein­interesses erforderlich, verhältnismäßig und nicht diskriminierend sind[17]. Diese Rechtsprechung soll nun für die Dienstleistungsfreiheit nach dem Willen der Kommission - vom Ministerrat und dem Europäischen Parlament nur in Teilbereichen zurückgenommen - radikal zugunsten der Geltung eines universalen Herkunftslandprinzips eingeschränkt werden.

Die Kommission wollte in Art. 16 ursprünglich sämtliche Aspekte der Dienstleistungstätigkeit, darunter Verhalten, Qualität, Inhalt, Werbung, Verträge und Haftung vom Herkunftslandprinzip erfasst wissen. Das Prinzip sollte drei Aspekte haben; neben der Rolle als negatives Beschränkungsverbot sollte es zugleich positive Kollisionsregel zum anwendbaren Recht sein und schließlich den Herkunftsstaat auch für die Kontrolle der Einhaltung seiner Bestimmungen bei der Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat zuständig machen. Statt einer allgemeinen Ausnahme für Beschränkungen entsprechend Art. 15 Abs. 3 sollte es nur wenige eng umgrenzte und abschließend in Art. 17 aufgezählte Ausnahmen geben, v.a. bei generellen Verboten aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit oder aufgrund von spezifischen Anforderungen, die unmittelbar mit den besonderen Merkmalen des Marktortes verknüpft sind (z.B. Sicherheits-, Hygiene- und Umweltbestimmungen). Ausnahmen im Einzelfall waren ebenfalls nur restriktiv, namentlich aus Gründen der öffentlichen Gesundheit und des Minder­jährigenschutzes erlaubt. Art. 17 enthielt daneben weitere Ausnahmen für spezielleres Gemeinschaftsrecht oder sensible Bereiche, die in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbleiben sollten.

Wenngleich die Berichterstatterin im Europäischen Parlament nach Veröffentlichung der Stellungnahme am 16. Februar 2006 verlautbaren ließ, dass das Herkunftslandprinzip aus der Richtlinie herausgenommen worden sei[18], so ist dies nur teilweise richtig. Zutreffend ist, dass der stigmatisierte Begriff aus der Kapitelüberschrift und den nachfolgenden Artikeln verbannt und das Herkunftslandprinzip inhaltlich eingeschränkt wurde. Gleichwohl geht der Gemeinsame Standpunkt weiterhin über die EuGH-Rechtsprechung weit hinaus.

Art. 16 Abs. 1 S. 1 variiert jetzt lediglich den Grundsatz des Art. 49 EGV, wonach die Mitgliedstaaten das Recht der Dienstleistungserbringenden achten, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ihrer Niederlassung zu erbringen. Satz 2 verpflichtet den Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, für die Möglichkeit der freien Aufnahme und Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten innerhalb seines Hoheitsgebiets zu sorgen. Absatz 2 formuliert schließlich das Beschränkungsverbot und nennt – parallel zur Niederlassungs­freiheit - unzulässige Anforderungen. Wie bei Art.15 dürfen nach Art. 16 Abs. 1 S. 3 lit. a) - c) Ministerratstext Aufnahme und Ausübung einer Dienstleistung nur von Anforderungen abhängig gemacht werden, die diskriminierungsfrei, erforderlich und verhältnismäßig sind. Damit endet aber die – bisher gegebene und sinnvolle – Parallelität von Niederlassungs- und Dienstleistungs­freiheit. Als erforderlich werden nämlich nur noch die vier Gründe der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit und der Schutz der Umwelt anerkannt. Gleiches gilt nach Absatz 3 auch für sonstige Anforderungen an die Erbringung der Dienstleistung. Mit dieser Lösung beschreitet der Gemeinsame Standpunkt einen Mittelweg zwischen Status Quo und ursprünglicher Kommissionsidee, indem die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, vom Beschränkungsverbot im zwingenden Allgemeininteresse Ausnahmen zu schaffen, massiv eingeschränkt werden. Warum aber ausgerechnet die vier genannten restrik­tiven Gründe (die Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sind gemeinschaftsrechtlich und danach weit enger auszulegen als im deutschen Recht) gegenüber allen anderen privilegiert sein sollen, erhellt sich auch aus den neuen Erwägungsgründen nicht. Aus Gründen des Verbraucherschutzes, der Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung, der Betrugsbekämpfung, der Verwirklichung sozialer oder kulturpolitischer Ziele oder des Tierschutzes, um nur einige zu nennen, können sich nationale Regelungen nicht mehr ausländischen Dienstleistenden entgegenstellen. Es ist sowohl rechtsdogmatisch als auch politisch kaum nachvollziehbar, warum zwar für die Niederlassungsfreiheit, nicht aber für die Dienstleistungsfreiheit die vom EuGH anerkannten Rechtfertigungsgründe plötzlich nicht mehr uneingeschränkt gelten sollen. Die vom EuGH proklamierte Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Hürden bei nur vorübergehender inländischer Dienstleistungserbringung niedriger zu halten als bei einer endgültigen Niederlassung im Inland[19], verlangt eine solche radikale Lösung nicht. Ob Dienst­leistungserbringende nur vorübergehend im Inland tätig sind oder nicht, ändert nichts an der grundsätzlichen Feststellung, dass zwingende Gründe im Allgemeininteresse durch diese Tätigkeit tangiert werden. Als Stellschraube reicht auch insoweit die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer Beschränkung aus. Zudem laden unterschiedliche Regime für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nachgerade dazu ein, nur noch vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat tätig zu werden und in demjenigen Staat mit den geringsten Anforderungen seinen Sitz zu nehmen[20].

Angesichts dessen regt der djb an, insbesondere Art. 16 nochmals zu überarbeiten und mit den Regelungen zur Niederlassungsfreiheit in Art. 15 zu synchronisieren.

Art. 17 Weitere Ausnahmen von der Dienstleistungsfreiheit

Statt der zunächst von der Kommission vorgesehenen 23 Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip in Art. 17 sieht der Gemeinsame Standpunkt nunmehr nur noch 15 Ziffern vor. Allerdings sind ein Teil der Streichungen lediglich die Konsequenz des verkleinerten Anwendungsbereichs in Art. 1 und 2. Eine der wichtigsten neuen Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip enthält die erste Ziffer. Danach gilt für grenzüberschreitende Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (Dienstleistungen von allgemeinem nicht-wirtschaftlichen Interesse fallen bereits aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie) das Herkunftslandprinzip nicht. Nur beispielhaft sind in lit. a) bis e) die im ursprünglichen Vorschlag enthaltenen Post-, Elektrizitäts-, Gas-, Wasser und Abfallbehandlungsdienstleistungen aufgeführt. Auf diese Weise wird zumindest vermieden, dass Systeme einer öffentlich-rechtlichen Versorgung mit diesen Dienstleistungen faktisch liberalisiert werden.

Die schon im ursprünglichen Entwurf enthaltene Ausnahme für die Rechtsanwalts­dienst­leistungsrichtlinie 77/249/EWG wird nunmehr in Ziffer 4 genannt. Daneben wurde die Sicherstellung des Rechtsberatungsmonopols in einer eigenen Ziffer Nr. 6 in allgemeiner Form aufgenommen, wonach Anforderungen im Bestimmungsland, „die eine Tätigkeit einem besonderen Beruf vorbehalten“, weiterhin zulässig sind.

Zu begrüßen ist, dass nach dem Vorschlag des Europäischen Parlaments die Kategorie der vorübergehenden Ausnahmen ganz gestrichen wurde. Sie fallen entweder ganz aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie heraus (Spiele, Wetten) oder werden zu endgültigen Ausnahmen nach Art. 17 Ziffer 5 (gerichtliche Beitreibung von Forderungen, d.h. Inkasso­tätigkeiten).

Auch die ursprünglich vorgesehenen Ausnahmen im Einzelfall gehen jetzt zum Teil in den verbleibenden vier Rechtfertigungsgründen für mitgliedstaatliche Beschränkungen auf. Gleichwohl bleibt diese Kategorie quasi als Notbremse erhalten (Art. 18). Der Gemeinsame Standpunkt enthält jetzt vier allgemeine Bedingungen, unter denen die Mitgliedstaaten einzelfallbezogene Maßnahmen zur Sicherheit der Dienstleistung ergreifen können. Voraus­setzung ist, dass a) auf diesem Gebiet noch keine Harmonisierung erfolgt ist, b) das Bestimmungsland für die Dienstleistungsempfangenden einen höheren Schutz bietet, c) der Herkunftsstaat noch keine oder keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen hat und d) die Maßnahmen verhältnismäßig sind. Diese Regelung gewährleistet im Einzelfall ein Eingriffs­instrumentarium für den Tätigkeitsstaat. Die Praxis muss zeigen, ob die Begrenzung auf nichtharmonisierte Bereiche und den alleinigen Schutz der Dienstleistungsempfangenden nicht zu restriktiv ist. Möglicherweise könnte sich anbieten, hier ähnlich wie im Polizeirecht eine ausdrückliche vorläufige Eilzuständigkeit der Behörden im Tätigkeitsstaat vorzusehen, wenn rechtzeitig die Hilfe der zuständigen ausländischen Behörde nicht erlangt werden kann.

Art. 19–21: Rechte der Dienstleistungsempfangenden

Nach der Rechtsprechung des EuGH enthält Art. 48 EGV auch eine negative Dienstleistungs­freiheit der Dienstleistungsempfangenden, grenzüberschreitende Dienstleistungen ohne Beschränkungen in Anspruch zu nehmen. Entsprechend verbieten die Art. 19 und 20 Diskriminierungen und unzulässige Beschränkungen. Mit der Richtlinie sollen aber auch weitreichende Informations- und Unterstützungspflichten zugunsten der Dienstleistungs­empfangenden geschaffen werden, die u.a. die Aufnahme und Ausübung der Dienstleistungs­tätigkeit, die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe in Streitfällen und Angaben zu Verbraucherschutzverbänden betreffen. Diese Regelungen könnten – mit Leben erfüllt – die Situation der Dienstleistungsempfangenden erheblich erleichtern.

Art. 22-27: Qualitätssicherung

Daneben enthält der Abschnitt 2 weitere Maßnahmen zur Qualitätssicherung, wie die Verpflichtung zum Abschluss einer Berufshaftpflicht, die Erleichterung von Maßnahmen zur Streitbeilegung etc. Dagegen verpflichtet Art. 25 etwas systemfremd die Mitgliedstaaten, keine Anforderungen aufzustellen, die die Dienstleistungserbringenden verpflichten, ausschließlich eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, oder die die gemeinschaftliche oder partnerschaftliche Ausübung unterschiedlicher Tätigkeiten beschränken (sogenannte multidisziplinäre Tätigkeiten).

Das Kapitel zur Qualitätssicherung ist im Ergebnis zu heterogen und müsste noch um substanziellere Rechte der Dienstleistungsempfangenden angereichert werden, um ein wirkliches Gegengewicht zu den Dienstleistungserbringenden zu schaffen. Letztlich hängt die Frage der Durchsetzung ihrer Rechte auch von prozessrechtlichen Maßnahmen der Harmonisierung und gegenseitigen Anerkennung im Rahmen der zivilrechtlichen und strafrechtlichen Zusammenarbeit ab.

Art. 30 ff.: Kontrolle und Verwaltungsbestimmungen

Der djb begrüßt insbesondere, dass der Gemeinsame Standpunkt hinsichtlich des „dritten Flügels“ des ursprünglichen Herkunftslandsprinzips - der Kontrolle der anwendbaren Bestim­mungen – ebenfalls eine differenzierte Lösung verfolgt. Die gesonderten Regelungen in den Art. 30 ff. folgen nun dem Prinzip, dass jeder Mitgliedstaat für die Kontrolle seiner eigenen – nach den Regeln der Art. 14 bis 18 - geltenden Bestimmungen zuständig ist und im Übrigen eine enge Zusammenarbeit, gegenseitige Unterstützung und Information bzw. Vorwarnung über Verstöße und Gefahren postuliert wird. Diese akzessorische Kontrolle ist allein konsequent und praktikabel. Gleichwohl ist die entsprechende Umsetzung in den Mitgliedstaaten nicht zu unterschätzen und erfordert eine enge, gemeinschaftsweite Vernetzung der Behörden. Die Kommission könnte diesen Aufwand möglicherweise noch besser mit entsprechenden Ressourcen unterstützen. Bisher ist dies nach Art. 32 Abs. 2, Art. 36 lediglich auf den Aufbau eines gemeinschaftsweiten (elektronischen) Vorwarnmechanismus und Durchführungsmaßnah­men beschränkt.

Resümee

Entgegen mancher beschwichtigender Äußerungen will die Dienstleistungsrichtlinie mehr als nur den primärrechtlich gewährleisteten Grundfreiheiten in der Auslegung der EuGH-Recht­sprechung Geltung zu verschaffen. Aufgrund der mit der Realisierung verknüpften vielfältigen Unwägbarkeiten könnte man fast meinen, der europäische Gesetzgeber wolle gleich einem Zauberlehrling den gesamten Dienstleistungsmarkt zur Versuchsstation machen, ohne die Folgen richtig überschauen zu können.

Zu Recht hat das Europäische Parlament u.a. bei den Kernbestimmungen zum Anwendungs­bereich und dem Herkunftslandprinzip Änderungen vorgenommen, denen schließlich auch die Mitgliedstaaten im Rat gefolgt sind. Derzeit scheint allerdings noch nicht absehbar, welche Konsequenzen diese Änderungen nach sich ziehen werden und wie sie sich zum Ursprungstext verhalten. Dies gilt zunächst für den Kompromiss zum Herkunftslandprinzip in Art. 16 und 17. Es ist davon auszugehen, dass die Reduktion der bislang nach der EuGH-Rechtsprechung mannigfaltigen anzuerkennenden „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“ auf bloße vier in Art. 16 Abs. 3 unweigerlich zu einer Rechtszersplitterung zwischen inländischen Dienst­leistungen von Dienstleistungserbringenden im Inland und einem anderen Mitgliedstaat und damit letztlich zu einer Liberalisierung gegenüber dem Status Quo führen wird: Während auf rein nationale Sachverhalte weiterhin vollumfänglich das nationale Recht anzuwenden ist, werden sich die grenzüberschreitend tätigen Dienstleistungserbringenden nur wenigen dieser Regelungen zu unterwerfen haben. Dies kann mittelbar nicht ohne Folgen bleiben. Zwangsläufig werden sich die Mitgliedstaaten dazu veranlasst sehen, ihr Recht anzupassen, um die Diskriminierung der inländischen Dienstleistenden zu verhindern. Vor diesem Hintergrund ist es ein schwacher Trost, dass diese Folgen nach dem ursprünglichen Kommissionsentwurf noch viel deutlicher eingetreten wären.

Das ursprüngliche Projekt einer horizontalen, holistischen Regelung aller Dienstleistungen ist angesichts der jetzigen komplizierten Regelungen gescheitert. Als Kehrseite der vielen Änderungen des ursprünglichen Kommissionsvorschlages hat der jetzige Richtlinientext ganz erheblich an den ausdrücklich erklärten Zielen der Einfachheit, Rechtssicherheit und größt­möglicher Universalität einer Regelung für Dienstleistungen im Binnenmarkt eingebüßt. Dies muss allerdings nicht unbedingt bedauert werden. Es ist letztlich nur ein Eingeständnis, dass so vielfältige Bereiche, die unter den Begriff der Dienstleistung zusammengefasst werden, einer einheitlichen Regelung nicht zugänglich sind, ohne dass die Einzelfallgerechtigkeit hierunter leiden würde.

Der djb hätte eine sukzessive Vorgehensweise vorgezogen. Dabei hätte es zunächst genügt, den Status Quo der EuGH-Rechtsprechung zum Herkunftslandprinzip durch eine einfache Regelung zu kodifizieren und mit den vorgeschlagenen, quasi einhellig gebilligten Begleitmaßnahmen zu flankieren. Zugleich hätten besonders geeignete und bereite Dienstleistungssektoren inhaltlich voranschreiten können, um so die notwendigen Erfahrungen für sensiblere Bereiche zu sammeln und Widerstände auszuräumen. Auch hätten längere Übergangsfristen die Wirkungen etwas abfedern können.

Nun bleibt nur noch die dreijährige Umsetzungsfrist, in deren Verlauf sich vermutlich erst herauskristallisieren wird, wie mehr oder weniger gelungen der horizontale Ansatz in seiner veränderten Form ist. Unter den gegebenen Umständen wird es unerlässlich sein, die Umsetzung der Richtlinie sorgfältig zu planen, zwischen den Mitgliedstaaten und mit der Kommission abzustimmen und – wie von Art. 39 vorgesehen - nach einigen Jahren zu evaluieren. Sollten sich Defizite herausstellen oder einige Regelungen als zu voreilig erweisen, sollte nicht gezögert werden, Anpassungen vorzunehmen.

Der djb hält weiter daran fest, dass ein Gender Impact Assessment vorgenommen werden muss vor dem Hintergrund der Annahme des Europäischen Paktes für die Gleichstellung der Geschlechter.

 

 

Jutta Wagner                                     Dr. Katja Rodi

Präsidentin                                                                          Vorsitzende der Kommission Öffentliches Recht,
Europa- und Völkerrecht

 

                                                           Christel Riedel

Vorsitzende der Kommission Recht der sozialen Sicherung,
Familienlastenausgleich

 

                                                           Prof. Dr. Sibylle Raasch

                                                                               Vorsitzende der Kommission Arbeits-,
                                                                               Gleichstellungs- und Wirtschaftsrecht

 


[1]       Vgl. Erwägungsgrund 6 RL-E1.

[2]       Abänderung 72 des EP zu Art. 1 RL-E1.

[3]       Vgl. Art.1 Abs.1 Rats-Text.

[4]       EuGH, Dassonville, 11.7.1974, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837, EuGH, van Binsbergen, 3.12.1974, Rs. 33/74, Slg. 1974, 1299.

[5]       Dies folgt aus EuGH, Cassis de Dijon, Urteil v. 20.2.1979, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649.

[6]       Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, EL Dez. 2005, Art. 49/50 Rn. 71 unter Hinweis auf Generalanwalt Lenz in EuGH, Rs. C-379/92, Peralta, Slg. 1994, I-3453, 3479 f., Anm. 88).

[7]       SEC(2004)21 vom 13.1.2004

[8]       ue.eu.int

[9]       Die Kommission stützt sich hierzu auf die Rechtsprechung des EuGH, die auf die jeweilige Tätigkeit abstellt, vgl. EuGH, Rs. 4/74, Reyners, Slg. 1974, 631, 655 Rz. 48 ff.; Rs. C-42/92, Thijsen, Slg. 1993, I-4047, 4069 Rz. 8; Rs. C-114/97, KOM/Spanien, Slg. 1998, I-6717; 67, 42 Rz. 35; Rs. C-355/98, KOM/Belgien, EuZW 2000, 344 Ru. 25; wobei der EuGH allerdings die Einschränkung vornimmt, dass ein Beruf dann einheitlich nach Art. 45 EG aus dem Anwendungsbereich des EGV herausfällt, wenn sich die vom Vorbehalt erfassten Tätigkeiten nicht von den übrigen Tätigkeiten des Berufs trennen lassen (Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Ergänzungslieferung (EL) Dez. 2005, Art. 45 Rn. 7 m.w.N.), welches durchaus für den lateinischen Notar reklamiert werden kann.

[10]     Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22.3.1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte [ABl. L 78 vom 26.3.1977, S.17-18] und Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufes in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde [ABl. L 77/36 vom 16.2.1998, S.36-43].

[11]     Art. 2 Abs. 2 lit. f) der RL-EP.

[12]     EuGH, Rs. C-193/94, Skanavi, Slg. 1996, I-929; zusammenfassend Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, EL Dez. 2005, vor Art. 39-55, Rn. 46.

[13]      Richtlinie 96/71/EG des EP und des Rates vom 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. EG 97 Nr. L 18, S. 1.

[14]     Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22.3.1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte [ABl. L 78 vom 26.3.1977, S.17-18] und Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufes in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde [ABl. L 77/36 vom 16.2.1998, S.36-43].

[15]      Der Katalog umfasst u.a. die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Gesundheit, die Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit einschließlich der Gewährleistung einer für alle offenen ausgewogenen medizinischen Versorgung, Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher, der Dienstleistungsempfangenden und Arbeitnehmenden, gerechte Bedingungen bei Handelstransaktionen, Betrugsbekämpfung, Schutz der Umwelt einschließlich der städtischen Umwelt, der Gesundheit von Tieren und des geistigen Eigentums, Wahrung des nationalen historischen und künstlerischen Erbes oder Verwirklichung sozial- und kulturpolitischer Zielsetzungen.

[16]     Art. 16 gilt nicht für „Bestimmungen betreffend vertragliche und außervertragliche Schuldverhältnisse, einschließ­lich der Form von Verträgen, die nach den Vorschriften des internationalen Pri­vatrechts fest­gelegt werden.“ Die deutsche Regierung hat hierzu bei der Verabschiedung des Gemeinsamen Standpunktes eine Erklärung vom 14.7.2006 (11296/06 ADD1) abgegeben, wonach Nr. 15 in den gemeinsamen Sitzungen unter Billigung des Juristischen Dienstes des Rats einhellig so ausgelegt wurde, dass auch das Recht des Unlauteren Wettbewerbs aus dem Anwendungsbereich des Art. 16 Rats-Text ausgenommen ist.

[17]     Zur Struktur der Rechtfertigungsprüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit vgl. Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, EL Dez. 2005, vor Art. 39-55 Rn 157 ff.

[18]     „Nach langen und so konsequenten Verhandlungen ist es mir gelungen, den Stein des Anstoßes – das Herkunftslandprinzip – aus der Dienstleistungsrichtlinie herauszunehmen“, so Gebhardt in einer offiziellen Pressemitteilung der SPD-Fraktion vom 8.2.2006.

[19]     EuGH, Rs. 279/80, Webb, Slg. 1981, 3305, 3324 Rz. 16; Rs. 205/84, KOM/Deutschland, Slg. 1986, 3755, 3802 Rz. 26; Rs. 427/85, KOM/Deutschland, Slg. 1988, 1123, 1165 Rz. 40; Rs. C-76/90, Säger, Slg. 1991, I-4221, 4243, Rz. 13; Rs. C-58/98, Corsten, RIW 2000, 59 Rz. 43-46.

[20]     Zur Abgrenzung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nach dem Kriterium der „wirtschaftlichen Integration in eine Volkswirtschaft“ vgl. die maßgeblichen Ausführungen von  Generalanwalt Léger in EuGH Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Anm. 19; Randelzhofer/Forsthof, Das Recht der Europäischen Union, Grabitz, EL Dez. 2005, Art. 43 Rn. 22-44, Art. 49/50 Rn. 31 f. m.w.N.