Am 25. Mai veröffentlichte das Bündnis iur.reform eine groß angelegte Studie betreffend die Reform der juristischen Ausbildung, an der der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) sich mit einem Vorwort beteiligt hat und zu der er im Folgenden Stellung nimmt.
Das Anliegen von iur.reform, eine Neugestaltung der juristischen Ausbildung anzustoßen, teilt der djb und betont die Notwendigkeit, den Reformbedarf insbesondere aus gleichstellungspolitischer Perspektive in den Blick zu nehmen. Der djb regt in diesem Zusammenhang an, das Erscheinen der Studie als Ausgangspunkt für weitere Forschung und Diskussion zu nehmen, besonders in den Bereichen Diversität und intersektionaler Diskriminierungsschutz.
Im Folgenden werden die Themenbereiche der Umfrage in den Mittelpunkt gestellt, die thematisch dem Arbeitsschwerpunkt und den Satzungszielen des djb entsprechen. Dies sind zum einen Thesen mit impliziter Diskriminierungsrelevanz. Dazu zählen etwa die emotionale Belastung in und Zufriedenheit mit der juristischen Ausbildung (Thesen 1.a, 1.d, 1.p), denn sie weisen in ihren Zustimmungswerten deutliche Geschlechterunterschiede auf. Zum anderen sind dies Thesen, die sich explizit mit Geschlechtergerechtigkeit und Diversität befassen (Thesen 3.g, 5.f).
Zusammenhang der Studienergebnisse mit Diskriminierungskategorien
Bei Lektüre der Studie fällt der deutliche Geschlechterunterschied in den Antworten auf. Die Teilnehmerinnen stimmen den implizit diskriminierungsrelevanten Reformvorschlägen fast durchweg häufiger zu als ihre männlichen Kollegen. Nach den Ergebnissen der These 1.a sind insgesamt 52,8 Prozent der Befragten mit der Ausbildung überwiegend oder vollständig unzufrieden. Während 46,1 Prozent der teilnehmenden Männer überwiegend oder vollständig unzufrieden sind, beläuft sich der Anteil bei diversen Teilnehmenden auf 50 Prozent und bei Frauen sogar auf 58,9 Prozent.
Die größere Unzufriedenheit der Umfrageteilnehmerinnen ist plausibel, weil Frauen strukturelle und individuelle Diskriminierungserfahrungen machen, die ihnen die Ausbildung erschweren und ihren Wunsch nach Reformen bestärken. Dies deckt sich auch mit den Ergebnissen feministischer rechtssoziologischer Forschung: Bei Jurastudium und Referendariat handelt es sich trotz des mittlerweile 50 Prozent übersteigenden Frauenanteils unter den Studierenden noch immer um Räume, die die Diversität der Gesellschaft nicht abbilden und in denen strukturell kaum Vorkehrungen gegen Diskriminierungen getroffen werden.[1] Vielmehr sind juristische Fakultäten häufig besonders konservativ geprägt und weisen diverse ex- und implizite Exklusionsmechanismen auf.[2]
Dies wird auch bei den Antworten zu der These 1.p zur emotionalen Entlastung im Jurastudium deutlich. Hier ist der Geschlechterunterschied in der Abstimmung eklatant: 72,3 Prozent der abstimmenden Frauen stimmen der These, es solle mehr für emotionale Entlastung gesorgt werden, absolut zu. Bei Männern beträgt diese Quote 46,4 Prozent. Bei der überwiegenden Zustimmung ergeben sich nur marginale Unterschiede (18,3 Prozent bei Männern, 12,6 Prozent bei Frauen). Fast dreimal so viele Männer wie Frauen lehnen die These komplett ab. Dies zeigt, wie geschlechtsspezifisch die negativen Erfahrungen in der juristischen Ausbildung sind. Um optimale Lernbedingungen für alle zu schaffen und die Chancen im Examen und Berufsleben fairer zu verteilen, müssen diese Missstände von künftigen Reformvorhaben berücksichtigt und gezielt adressiert werden. Dies ist insbesondere deshalb zentral, weil die juristische Ausbildung entscheidenden Einfluss darauf hat, wer später in welchen juristischen Berufen arbeiten kann und in der juristischen Fachwelt gehört wird.
Die zumindest hinsichtlich der Geschlechterdifferenzen gravierenden Ergebnisse müssen politische Akteur*innen wachrütteln. Sie zeigen, dass das diskriminierungskritische Engagement des djb weiterhin angezeigt und notwendig ist. Besonders klar offenbaren dies die Ergebnisse der These 3.g., nach der Kommissionen in mündlichen Prüfungen divers zu besetzen seien. Dieser vom djb vertretene Reformvorschlag[3] fand breite Zustimmung unter den Teilnehmenden. 44,8 Prozent aller Befragten sprechen sich vollständig dafür aus, Prüfungskommissionen diverser zu besetzen. Nur 12,1 Prozent der Befragten sprechen sich vollständig dagegen aus. Dabei ist auffällig, dass sich als divers und als Frauen Identifizierende Teilnehmende deutlich höhere Zustimmungsraten aufweisen als Männer. Die vollständig ablehnenden Personen identifizieren sich größtenteils als männlich.
Übersetzbarkeit der Studienergebnisse in politische Forderungen
So erhellend die Erkenntnisse aus der Umfrage sind, warnt djb zugleich davor, nur solche Thesen als gewichtige politische Forderungen zu lesen, die hohe Zustimmungswerte genießen.
Dies liegt zunächst daran, dass die befragte Gruppe überwiegend Personen beinhaltet, die erfolgreich in Jurastudium oder juristischen Berufen angekommen sind.[4] Die juristische Ausbildung ist jedoch immer noch sozialexklusiv, denn sie steht de facto vorwiegend weißen, wohlhabenden jungen Menschen mit akademischem Hintergrund offen.[5] Die Perspektiven und Beweggründe solcher Personen, die aufgrund struktureller und intersektionaler Diskriminierung ein Studium schon gar nicht aufnehmen können oder wollen, konnten sich daher naturgemäß in der Studie von vornherein nicht niederschlagen. Ihre Erfahrungen müssen aber bei der Neugestaltung der Ausbildung eine zentrale Rolle spielen, damit der juristische Berufsstand nicht nur den privilegiertesten Mitgliedern der jungen Generation offensteht.
Um intersektionale Diskriminierungserfahrungen sichtbar zu machen und diese gezielt adressieren zu können, ist es zudem aus Sicht des djb wünschenswert, in zukünftigen Forschungs- und Reformbemühungen Merkmale wie race, soziale Herkunft, Behinderung, sexuelle Orientierung oder Religion zu erfassen. Die iur.reform-Umfrage fragt demgegenüber allein Geschlecht, Alter und Studienort der Umfrageteilnehmenden ab.
Um die Reformbemühungen intersektional gerecht und diskriminierungssensibel zu gestalten, müssen Nachfolgestudien erarbeitet werden, die diese Themen priorisieren. Dass sie in der iur.reform-Studie zu kurz kommen, zeigt sich an der These 5.f. Sie lautet: „In der Lehre sollten Diversität und Diversitätskompetenz gestärkt werden.“ Sie hat folgenden Erklärungstext: „Beispielsweise könnte dies durch Repräsentation des gesamten Bevölkerungsspektrums in verschiedenen Rollen in Klausursachverhalten geschehen.“ Das Ausbildungsmaterial stellt jedoch nur einen kleinen Ausschnitt dessen dar, was Diversitätsförderung und Diskriminierungssensibilität an Universitäten und Hochschulen bedeuten würde. Grünberger / Mangold / Markard / Payandeh / Towfigh nennen u.a. die Notwendigkeit quantitativer und qualitativer empirischer Forschung, die Institutionalisierung von Diskriminierungsabbau sowie Evaluationen und Monitoring.[6] Um hier noch genauere Ergebnisse zu erzielen, regt der djb an, in Nachfolgestudien insbesondere Diversität und Diversitätskompetenz klar voneinander zu unterscheiden.
Die These erfasst also zum einen nur einen sehr kleinen Ausschnitt des Themenkomplexes Diversität und Antidiskriminierung. Zum anderen wird an ihr besonders deutlich, dass die Zustimmungswerte nicht unbesehen in politische Forderungen übersetzt werden können. Denn auch hier tritt ein deutlicher Gender-Unterschied bei den Ergebnissen zutage: 35,5 Prozent der weiblichen und 37,5 Prozent der diversen Teilnehmenden stimmen der These absolut zu, im Gegensatz zu 17,6 Prozent der männlichen. Auch ist die absolute Ablehnungsquote bei Männern mehr als doppelt so hoch wie bei Frauen. Dass diejenigen, die sich in der Ausbildung und insbesondere dem Lehrkörper ausreichend repräsentiert sehen, bei Fragen von Diversität(-skompetenz) keinen Reformbedarf sehen, ist plausibel. Dass deswegen kein Reformbedarf besteht, wäre ein Fehlschluss, der Ungerechtigkeiten noch perpetuieren würde.
Für zukünftige Umfragen wäre es aus Sicht des djb wünschenswert, explizite Thesen zu Diversität und Diskriminierung noch mehr zu berücksichtigen und inhaltlich stärker auszudifferenzieren. Diese Themen wurden auch in der bisherigen Fachliteratur zu Reformen der juristischen Ausbildung zu wenig berücksichtigt. Der djb weist an dieser Stelle auf seine Forderungen nach einer stärkeren Repräsentation von Frauen und marginalisierten Gruppen in der Lehre, einer Einführung eines Gender- und Diversity-Curriculums[7], verpflichtenden Antidiskriminierungstrainings und Fortbildungen für Prüfende oder Beschwerde- und Kontrollmechanismen für mündliche Prüfungen hin.[8]
Fazit
Die Studie zeigt in Bezug auf Geschlecht, wie stark sich die Erfahrungen im juristischen Studium je nach Diskriminierungsbetroffenheit unterscheiden. Diese Geschlechterdimension muss ebenso wie andere Diskriminierungsmerkmale in künftigen Reformvorhaben berücksichtigt und gezielt adressiert werden. Die juristische Ausbildung ist ein wichtiger Eckpfeiler unseres Rechtssystems und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Deswegen ist es essenziell, sie zu einem inklusiven und gerechten Raum umzugestalten, in den alle Menschen ihre Expertise und Erfahrungen einbringen können und wollen. Vor diesem Hintergrund begrüßt der djb nachdrücklich die Reformbemühungen und den Anspruch der iur.reform-Umfrage, möglichst viele Beteiligtenperspektiven in den Blick zu nehmen sowie dringend notwendige Reformen der juristischen Ausbildung anzustoßen und ihnen Rückenwind zu verschaffen.
Prof. Dr. Maria Wersig
Präsidentin
Helene Evers |
Vorsitzende des Arbeitsstabs Ausbildung und Beruf |
[1] Grünberger / Mangold / Markard / Payandeh / Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, Baden-Baden 2021, S. 11, 71f.
[2] Böning, Jura studieren. Eine explorative Untersuchung im Anschluss an Pierre Bourdieu, Weinheim 2017, S. 216ff.; dies., Mit Pierre Bourdieu Jura studieren,https://barblog.hypotheses.org/1710 vom 29.05.2017; Schultz / Böning / Peppmeier / Schröder, De jure und de facto: Professorinnen in der Rechtswissenschaft. Geschlecht und Wissenschaftskarriere im Recht, Baden-Baden 2018, S. 232ff.
[3] Pressemitteilung des djb vom 03.05.2022,https://www.djb.de/presse/pressemitteilungen/detail/pm22-13; siehe dazu auch Heppner / Wienfort / Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina – eine Blackbox mit Diskriminierungspotential, ZDRW 1 (2022), S. 23ff.
[4] Der djb begrüßt in diesem Zusammenhang, dass die Stimmen von Studienabbrecher*innen und endgültig Durchgefallenen in der Umfrage erfasst wurden.
[5] Grünberger / Mangold / Markard / Payandeh / Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, Baden-Baden 2021, S. 30.
[6] Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, Baden-Baden 2021, S. 67ff.
[7] Vgl.djb-Stellungnahme zu § 5a Abs. 3 S. 1 Hs. 1 DRiG n.F.
[8] Zu Forderungen des djb bezüglich mündlicher Prüfungen siehe Heppner / Wienfort / Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina – eine Blackbox mit Diskriminierungspotential, ZDRW 1 (2022), S. 23ff.