Editorial 2022/2
Der Koalitionsvertrag aus gleichstellungspolitischer Sicht
Am 7. Dezember 2021 wurde der Koalitionsvertrag der 24. Bundesregierung unterzeichnet. Die Ampelkoalition hat sich damit zu einer progressiven Gleichstellungspolitik bekannt, die Gleichstellung nicht als Nischen- sondern als Querschnittsthema versteht – eine jahrelange Kernforderung der gleichstellungspolitisch engagierten Zivilgesellschaft. Nun gilt es darauf zu pochen, dass der Geschlechtergerechtigkeit trotz der dramatischen Weltlage die notwendige, alle Politikfelder umfassende, Bedeutung zukommt und der angekündigte gleichstellungspolitische Aufbruch in die Tat umgesetzt wird. Denn sicherlich ist Geschlechtergerechtigkeit ein Schlüssel zur Lösung der enormen Herausforderungen, mit denen Deutschland, Europa und die Weltgemeinschaft aktuell konfrontiert sind. In diesem Sinne wird im Folgenden der Koalitionsvertrag unter die feministische Lupe genommen: Welche Potentiale bestehen, um Geschlechtergerechtigkeit voranzutreiben? Was sind die konkreten Vorhaben? Wo liegen die gleichstellungspolitischen Leerstellen? Das Positionspapier ab Seite 51 fasst die Positionen der einzelnen Fachkommissionen des Deutschen Juristinnenbundes e.V. (djb) zusammen und bietet somit einen ersten Überblick zu den gleichstellungsrechtlich relevanten Inhalten des Koalitionsvertrags. Im Weiteren werden einzelne Themenfelder vertieft diskutiert.
Zwar sind die Vorhaben im Hinblick auf geschlechtliche Selbstbestimmung und moderne Familienpolitik zu begrüßen. Die Pläne im Sorge- und Umgangsrecht aber werden kritisch in den Blick genommen. Dr. Anna Lena Göttsche weist in ihrem Beitrag auf die Gefahren des sog. Wechselmodells als gesetzlicher Regelfall nach einer Trennung hin. Wenn hier tatsächlich die paritätische Verteilung von Sorgearbeit gefördert werden soll, ist es mindestens verwunderlich, dass diese erst zu einem Zeitpunkt, in dem die elterliche Beziehung bereits gescheitert ist, im Fokus des Koalitionsvertrages steht, während die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit vorher nur am Rande Erwähnung findet. Das Wechselmodell führt durch die damit einhergehenden verringerten Unterhaltsansprüche in den meisten Familien dazu, dass die Frauen, die zuvor den größeren Anteil der Care-Arbeit geleistet haben, die ökonomischen Nachteile dieser Arbeitsteilung allein tragen müssen. Auch die im Koalitionsvertrag geplante Einführung der Verantwortungsgemeinschaft birgt Risiken einer mangelnden Absicherung im Trennungsfall, wie Dr. Gudrun Lies-Benachib in ihrem Beitrag reflektiert.
Im Bereich des Strafrechts knüpft der Koalitionsvertrag teilweise an die Forderungen des djb der letzten Jahre an, wie Dagmar Freudenberg analysiert: Die bundeseinheitliche Regelung zum Vorgehen gegen „Gehsteigbelästigungen“ von Abtreibungsgegner*innen, die Abschaffung des sogenannten Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche aus § 219a StGB und die Erweiterung des § 46 II 2 StGB um „geschlechtsspezifische Beweggründe“ haben in den Koalitionsvertrag Einzug gefunden. Insbesondere ist die explizite Bekennung zur Umsetzung der Istanbul-Konvention und der geplante Einsatz der Bundesregierung für die Ratifizierung weiterer Mitgliedstaaten erfreulich. Die dringend notwendige Rücknahme der Vorbehalte, die Deutschland zur Istanbul-Konvention eingelegt hat, ist jedoch nicht im Koalitionsvertrag vorgesehen, wie Professorin Dr. Dorothee Frings bemängelt.
Anschließend untersuchen Dr. Ulrike Spangenberg, Birgit Bachmann und Anne-Kathrin Gruber den Koalitionsvertrag im Hinblick auf das Thema Steuern und Finanzen. Obgleich eine progressivere Ausgestaltung des Steuersystems (insbesondere höhere Spitzensteuersätze und eine Änderungen der Besteuerung von Erbschaften, Kapitaleinkünften und Vermögen) im Koalitionsvertrag fehlt, enthält er einige gleichstellungspolitisch interessante Aspekte, wie die geplante (und wirklich überfällige) Abschaffung der Steuerklassenkombination III/V.
In der großen Bedeutung, die der Digitalisierung im Koalitionsvertrag zukommt, sehen Carola Wanser und Verena Haisch Anlass zur Hoffnung, dass Gleichstellungsaspekte hier mitgedacht und einbezogen werden. Insbesondere positiv zu bewerten ist das angekündigte Gesetz gegen digitale Gewalt, das Bekenntnis zum Kampf gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sowie der Schutz der Anonymität im Internet. Zu unkonkret ist hingegen die Ankündigung zur Überarbeitung des Rechtsrahmens digitaler Kommunikation. Ob beispielsweise sog. Plattformräte eingeführt werden, bleibt gänzlich offen.
Auch im Bereich der Forschung und Lehre erkennt der Koalitionsvertrag die fehlende Geschlechtergerechtigkeit, wie Katja Weber feststellt. Die Ausführungen des Koalitionsvertrages betrachtet sie jedoch als zu unpräzise, um den Defiziten tatsächlich zu begegnen.
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre und darf Ihnen versichern, dass der djb mit Engagement und klarem Kompass die Vorhaben der Koalition begleiten und weitere dringend notwendige Verbesserungen einfordern wird.
Prof. Dr. Maria Wersig
Präsidentin des djb