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Editorial 2020/3

Europa? – Europa!

 

Als 1957 der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in Kraft trat, enthielt er mit Artikel 119 ein nachgerade revolutionäres Element: das Gebot der Entgeltgleichheit für Männer und Frauen. So ist Gleichberechtigung ein Gründungselement von Europa als wirtschaftliche, rechtliche, soziale und politische Gemeinschaft. Allerdings blieb das Verbot der Entgeltdiskriminierung weitgehend Recht ohne Wirksamkeit, bis die strategische Rechtsmobilisierung der belgischen Anwältin Elaine Vogel-Polsky und ihrer Mandantin Gabrielle Defrenne in den 1970er Jahren europäische Rechtsgeschichte schrieb. Für viele Jahre wurde der EuGH zum Motor europäischer Gleichstellungspolitik, doch auch die europäische Rechtsetzung zog nach. Hoch innovative europäische Regelungen zu Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung waren den mitgliedstaatlichen Rechtsverhältnissen oft weit voraus. Immer wieder bedurfte es jedoch des Einsatzes konkreter Personen, um diese rechtlich, gesellschaftlich und politisch Wirklichkeit werden zu lassen.

Die vielfältigen Erfolge, primär- und sekundärrechtliche Regelungen, EuGH-Entscheidungen, europäische Politiken, können hier nicht im Einzelnen aufgezählt werden; Nora Wienfort (S. 105) wirft einige Schlaglichter. Der um die Jahrtausendwende erreichte europäische Standard ist jedoch durch die Krisen der Europäischen Union bedroht. Nationalistische und rechtspopulistische Regierungen verhindern Gleichstellungspolitiken wie den Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention, indem sie Gewaltschutz für Frauen als Gender-Ideologie verunglimpfen (hierzu Leokadia Melchior und Kristina Schönfeldt, S. 114). Auf die katastrophalen Folgen des Brexit, insbesondere für Frauen und Mädchen, weisen Jackie Jones und Hannah Manzur (S. 109) hin. Während die einen die EU verlassen wollen, können andere nicht hinein: Anne Pertsch und Farnaz Nasiriamini (S. 112) beschreiben die fehlende Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung und den mangelnden Gewaltschutz für geflüchtete Frauen und Mädchen in der EU. Europa hat sich nach außen abgeschottet und verliert nach innen immer weiter an Zustimmung und Zusammenhalt.

Eine Ursache hierfür dürfte bereits in der Finanzkrise 2008/09 zu sehen sein, auf welche in Europa mit Austeritätspolitiken und der Vernachlässigung von Sozialpolitiken und Zusammenhalt, Gleichberechtigung und rechtsstaatlichen Standards reagiert wurde. Leider nutzt auch Deutschland immer wieder seine starke Position, um progressive europäische Gleichstellungspolitiken auf den deutschen status quo zu reduzieren oder anderweitig zu torpedieren. Dies gilt für die Work-Life-Balance-Richtlinie (hierzu Julia Flockermann und Nora Wienfort, S. 107), die Aufsichtsrätinnenrichtlinie[1] oder die horizontale Antidiskriminierungs-Richtlinie. Zugleich wird das europäische Gleichstellungsrecht nur zögerlich und lückenhaft in Deutschland umgesetzt, wie sich am Verbot der Geschlechtsdiskriminierung bei Gütern und Dienstleistungen exemplarisch zeigen lässt (hierzu Ulrike Lembke und Farnaz Nasiriamini, S. 110). Ob die derzeitige deutsche EU-Ratspräsidentschaft hier zu einem Wandel führt, bleibt abzuwarten.

Doch Verzweiflung ist keine Option, schon, weil es keine vernünftige Alternative zu einem Europa gibt, das eine wirtschaftliche, rechtliche, soziale und Wertegemeinschaft ist. Zu Wort kommen daher auch diejenigen, die sich für dieses Europa und europäische Gleichberechtigungspolitik nachdrücklich einsetzen: Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley, berichtet im Interview mit Julie-Enni Zastrow von ihrer Arbeit (S. 156). Dace L. Luters-Thümmel porträtiert die European Women Lawyers Association (EWLA) mit einem Augenzwinkern (S. 118). Sabine Overkämping stellt die Europäische Bewegung Deutschland (EBD) vor, in der sie unermüdlich das Thema Gleichberechtigung auf der Agenda hält (S. 120). Und EWLA-Präsidentin Katharina Miller berichtet im Gespräch mit Margarete Hofmann (S. 116) von ihrem Weg zum europäischen Wirtschafts- und Gleichstellungsrecht und den aktuellen Herausforderungen.

Alle Autorinnen dieses Schwerpunkts, Kolleginnen im europäischen Gleichstellungsrecht und Aktivistinnen in europäischen Gleichstellungspolitiken, verbindet, dass wir wieder mehr von Europa erwarten und uns wünschen, dass Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird und im Bereich der Gleichstellung vorbildliche Positionen einnimmt. Trotz und wegen aller berechtigter Kritik bleiben wir der europäischen Idee treu: Europa? – Europa!

Prof. Dr. Ulrike Lembke

Vorsitzende der Kommission Europa- und Völkerrecht

Sabine Overkämping

Mitglied und ehemalige Vorsitzende der Kommission Europa- und Völkerrecht

 


[1] Ein geplanter Beitrag hierzu kam leider nicht zustande. Der djb fordert seit vielen Jahren die Einführung verbindlicher und sanktionsbewehrter gesetzlicher Geschlechterquoten in allen EU-Mitgliedstaaten und hat durch die ausgesprochen erfolgreichen Projekte „Aktionärinnen fordern Gleichberechtigung“ und „European Women Shareholders Demand Gender Equality“ wesentliche Änderungen anstoßen können.