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Editorial 2019/2

Gleichberechtigung kommt noch!

 

„Sehr geehrte Herren und Damen!“, so eröffnete die Sozialdemokratin Marie Juchacz am 19. Februar 1919 ihre Rede in der Weimarer Nationalversammlung, die erste Rede einer Frau in einem deutschen Parlament. Und sie rief den erheiterten Herren zu, das Frauenwahlrecht sei eine Selbstverständlichkeit, ein Recht, dass den Frauen jahrzehntelang zu Unrecht vorenthalten worden war. Was Frauenrechte angeht, das lehrt uns die Geschichte, ist leider gar nichts eine Selbstverständlichkeit. Jeder Fortschritt wurde erkämpft und zum Teil gegen erbitterte Widerstände durchgesetzt!

Der Fokus dieses Heftes ist (ergänzt durch weitere Texte zum Thema) entstanden aus Veranstaltungen des Deutschen Juristinnenbunds e.V. (djb) im Kontext 100 Jahre Frauenwahlrecht: Am 12. November 2018 feierte der djb gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Maxim-Gorki-Theater in Berlin vor ausverkauftem Haus unter dem Titel „Gleichberechtigung kommt noch...“. Am 15. Januar 2019 luden der Bundespräsident und Elke Büdenbender in Kooperation mit dem djb ins Schloss Bellevue, zu einer feierlichen Matinee zum Jubiläum 100 Jahre Frauenwahlrecht. Beide Veranstaltungen werden allen Beteiligten und Anwesenden noch lange in Erinnerung bleiben.

Ich war für den djb auf vielen weiteren Veranstaltungen zu diesem historischen Jubiläum, unter anderem beim Festakt im Deutschen Historischen Museum des Bundeskanzleramtes, des BMFSFJ und der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF) Berlin am 12. November 2018, wo unsere Ehrenpräsidentin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit mit der Bundeskanzlerin auf dem Podium diskutierte. Auf die Frage, ob es sie eigentlich störe, dass sie immer als Beispiel dafür herhalten müsse, dass die Gleichberechtigung nun erreicht sei, bejahte die Bundeskanzlerin, dass sie das tatsächlich störe, denn „eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“. Persönlich sehr berührt hat mich auch die Rede der ehemaligen Bundesfrauenministerin Christine Bergmann beim Festakt des Deutschen Bundestages zum Jubiläum 100 Jahre Frauenwahlrecht am 17. Januar 2019, in der sie unter anderem erzählte, wann ihre ersten freien Wahlen waren: Im Jahr 1990.

Am 20. Mai 2019 endet die Jubiläumskampagne „100 Jahre Frauenwahlrecht“ mit einem Zukunftskongress der EAF Berlin in Kooperation mit dem djb, bei dem wir 100 Jahre Frauenwahlrecht und 70 Jahre Grundgesetz (sowie 25 Jahre Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG) begehen und in die Zukunft schauen. Auf dieser Veranstaltung werden wir, wenige Tage vor der Europawahl und gemeinsam mit Politiker*innen und der Zivilgesellschaft, das Thema Parität in der Politik erneut ins Zentrum rücken. Das ist auch gut so, denn die Europawahl ist ein wichtiges Datum für Frauen in Deutschland und in allen europäischen Ländern. Mit einem Wahlaufruf hat der djb klargemacht: Frauen geht wählen und: Wählt Europäerinnen, also Frauen, die sich für die Idee Europa stark machen und gegen nationalistische Sonderwege engagieren.

Eines ist in den letzten Monaten klar geworden: Frauen werden nicht mehr 100 Jahre auf die Selbstverständlichkeit der Parität warten. Wir schreiben das Jahr 2019, aber es gibt noch viel zu tun! Seit 100 Jahren Frauenwahlrecht aber gab es noch nie ein paritätisch besetztes deutsches Parlament. Oder gar eines mit weiblicher Mehrheit. Und die Liste der politischen Spitzenämter, die noch nie eine Frau innehatte, ist (trotz Bundeskanzlerin und Parteivorsitzender beider aktuellen Regierungsparteien im Bund) immer noch recht lang. Zum Beispiel die erste Bundesfinanzministerin würde ich gern erleben.

Machen Frauen automatisch eine andere Politik? Nein. Es geht um die Grundsatzfrage, nämlich, dass die Hälfte der Bevölkerung auch repräsentiert sein muss in der Gesetzgebung. Trotzdem sehen wir als Frauenverband, dass bei vielen wichtigen politischen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte, von „Nein heißt nein“ bis zu Quoten in den Aufsichtsräten es die Parlamentarierinnen waren, die parteiübergreifend und gemeinsam mit den Frauen der Zivilgesellschaft die Dinge vorangebracht haben. Also wir brauchen die Frauen in der Politik. Wo die Frauen fehlen oder auf ihre Stimmen keinen Wert gelegt wird, dort weht viel zu oft der Wind der Vergangenheit. Der Frauenanteil und die Themen, die politisch für wichtig gehalten werden, hängen doch zusammen.

Das Thema Parität in der Politik werden wir weiter vorantreiben. Elisabeth Selbert sagte über den eklatant niedrigen Frauenanteil in der Volksvertretung einmal, dies sei „Verfassungsbruch in Permanenz“. Als Juristinnen wissen wir: Formal gleiche Rechte bedeutet nicht automatisch gleiche Chancen. Die Gleichberechtigung ist ein Versprechen, das eingelöst werden muss, jeden Tag.

Das historische Jubiläum hat dem politischen Anliegen der heutigen Frauenbewegung viel Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen. Viele Frauen und Organisationen haben an diesem Erfolg mitgearbeitet und auch wir als djb haben mit großem Einsatz unseren Anteil daran geleistet. Also lassen Sie uns die Erfolge der Frauenbewegungen und die Kämpferinnen, die sie uns ermöglicht haben, feiern. Und lassen Sie uns in die Zukunft schauen und gemeinsam die Gleichberechtigung endlich für alle Frauen und Männer in allen Lebensbereichen zur Realität machen!


Maria Wersig

Präsidentin des djb