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Editorial 2017/1

Reproduktive Rechte

 

Der Schwerpunkt dieses Hefts widmet sich reproduktiven Rechten und dem Stand ihrer Umsetzung in Deutschland. Im Völker- und Europarecht sind die Begriffe der reproduktiven Rechte und der reproduktiven Gesundheit klar definiert. In Deutschland werden beide Begriffe leider (noch) kaum verwendet und vor allem nicht in Bezug gesetzt zu den Debatten über Reproduktionstechnologien, Pränataldiagnostik, Abstammungsrecht, Gleichberechtigung der Geschlechter, Betreuungsrecht, der gesundheitlichen Versorgung von Schwangeren und Gebärenden oder dem Mutterschutz im Betrieb. Dies zu ändern, ist der Arbeitsstab „Reproduktive Rechte“ des Deutschen Juristinnenbundes e.V. (djb) mit seinen Mitgliedern Dr. Ulrike Lembke, Prof. Dr. Friederike Wapler und mir angetreten. Wir knüpfen damit an eine Auseinandersetzung an, die der djb schon in den 1980er Jahren auf Initiative von Prof. Dr. Dagmar Coester-Waltjen in einer Arbeitsgruppe und späteren Kommission unter dem Titel „Gentechnologie“ geführt hat – im Porträt dieser Ausgabe erinnert sich Dr. Monika Zumstein an die damaligen Kontroversen.

Reproduktive Rechte sind für die Gleichstellung von Frauen und Männern in einer Gesellschaft besonders wichtig. Die Entscheidung für oder gegen Kinder ist für den Lebensverlauf von Frauen immer noch enorm prägend, weil die Rollenverteilung der Geschlechter ihnen die Hauptverantwortung für die Kinderbetreuung zuweist. Gleichzeitig ist der Körper Schauplatz dieser Auseinandersetzungen – ob es um die freie Wahl des Geburtsorts geht (wenn immer häufiger Kreißsäle geschlossen werden und Hebammen ihren Beruf aufgeben müssen), um Zugang zu einer Samenspende auch ohne Partner, den selbstbestimmten und schonenden Schwangerschaftsabbruch oder schlicht die Möglichkeit, das Baby im Café zu stillen. Sind reproduktive Rechte in Deutschland verwirklicht? Die genannten Themen werfen zumindest erste Fragen auf. Gleichzeitig setzen vor allem rechtspopulistische Parteien, die derzeit weltweit neuen Zuspruch verzeichnen können, auf traditionelle Geschlechterrollen und die Förderung der Kleinfamilie mit möglichst vielen Kindern unter Ausschluss anderer Lebensweisen und somit auch auf die Einschränkung reproduktiver Freiheiten.
Reproduktive Rechte haben auch Grenzen. Die Auseinandersetzung mit ihnen kann schmerzhaft sein, ist aber gesellschaftspolitisch umso wichtiger. Bei der Diskussion über die Diagnostik vor (PID – Präimplantationsdiagnostik) und während der Schwangerschaft (PND – Pränataldiagnostik) findet ein Screening auf bestimmte Krankheiten oder Behinderungen statt. Dies ist hoch problematisch, weil es den Eindruck erweckt, es gäbe lebensunwertes Leben oder Behinderung wäre etwas, was sich durch richtige Planung oder rechtzeitiges Entdecken „vermeiden“ ließe und diese Vermeidung sei wünschenswert. Im August 2016 leitete der Gemeinsame Bundesausschuss ein Prüfverfahren über die Frage ein, ob der nicht-invasive Bluttest, der bestimmte Formen der Trisomie diagnostiziert, eine Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung werden sollte. Bereits heute berichten Eltern von Kindern mit Trisomie 21 („Down-Syndrom“), dass sie gefragt werden, ob sie vor der Geburt davon nichts gewusst (und unausgesprochen sonst die Schwangerschaft abgebrochen) hätten. Dies wirft auch die Frage nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für freie reproduktive Entscheidungen auf.
Die Mitglieder des Arbeitsstabes wollen in diesem Heft mehr Fragen stellen als Antworten geben und eine Debatte über reproduktive Rechte einleiten, die wir mit den djb-Mitgliedern und anderen Interessierten gemeinsam führen möchten. Der Bundeskongress im September 2017 in Stuttgart wird ein Ort für nicht immer einfache, aber stets lohnende Kontroversen und die Entwicklung rechtspolitischer Positionen sein. In diesem Heft wollen wir ein breites Spektrum der Perspektiven auf das Thema reproduktive Rechte zu Wort kommen lassen und zum Nachdenken und Diskutieren anregen. Wir freuen uns, so viele renommierte Expertinnen als Autorinnen gewonnen zu haben! Und einige von ihnen werden auch in Stuttgart als Referentinnen zu Wort kommen.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Wenn etwas fehlt, wenn Sie etwas anders sehen oder auch Ihre Zustimmung signalisieren wollen – schreiben Sie uns (geschaeftsstelle@djb.de). Wir freuen uns auf die Diskussion mit Ihnen!


Prof. Dr. Maria Wersig
Vorsitzende der djb-Kommission Recht der sozialen Sicherung, Familienlastenausgleich und des djb-Arbeitsstabes Reproduktive Rechte