Stellungnahme: 09-01


Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern

Stellungnahme vom

 

zur öffentlichen Anhörung
im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
des Deutschen Bundestages
am Mittwoch, den 28. Januar 2009
 

I. Entgeltgleichheit allgemein

Fragen 1, 3, 4, 5, 9: Ursachen des Gender Pay Gap

Der Gender Pay Gap ist ein Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener Faktoren im Sinne einer strukturellen Frauenbenachteiligung in der deutschen Gesellschaft. Hierzu zählen insbesondere: Fortbestehende Abwertung von Tätigkeiten und Verhaltensweisen, die mit Frauen und Weiblichkeit identifiziert werden; Dominanz des Familienernährer-Zuverdienerinnen-Modells als Lebensform; Verbleiben der Haus- und Familienarbeit vorrangig bei den Frauen; geschlechtsspezifisch getrennte Arbeitsmärkte in der Volkswirtschaft und in den Betrieben, wobei die Frauen weniger Bereiche mit schlechterer Vergütung und schlechteren Aufstiegschancen besetzen; geringe Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit der Folge, dass Frauen ihre Erwerbstätigkeit häufiger und länger unterbrechen als Männer und in Teilzeitarbeit ausweichen; Diskriminierung von Teilzeitarbeit; Diskriminierung von Frauen bei der Einstellung, beim beruflichen Aufstieg und beim Entgelt; unverändert extreme Unterrepräsentanz von Frauen in Führungs- und Leitungspositionen.

Welchen Anteil diese Faktoren im Einzelnen genau am Gender Pay Gap haben, lässt sich wissenschaftlich nicht detailliert berechnen. Interessante Hinweise geben jedoch einige Zahlen des Statistischen Bundesamtes[1]. Demnach beträgt der Gender Pay Gap in den alten Bundesländern, wo das Familienernährer-Zuverdienerinnen-Modell weiterhin fest verankert ist, sogar 24 Prozent. In den neuen Bundesländern hingegen beträgt er nur 6 Prozent. Dort waren vor der Wiedervereinigung Frauen und Männer gleichermaßen in den Erwerbsbereich integriert, wobei allerdings das Gros der Hausarbeit auch hier bei den Frauen verblieb. Auch nach der Wiedervereinigung setzt sich in den neuen Bundesländern das Familienernährer-Zuverdienerinnen-Modell nur zögerlich und gegen den Willen der meisten Frauen durch. Die Unterschiede im Gender Pay Gap Ost-West legen nahe, einen relevanten Teil der Entgeltdifferenz zwischen den Geschlechtern dem Familienernährer-Zuverdienerinnen-Modell in allen seinen Ausprägungen anzulasten. Dennoch wird dieses Lebensmodell in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin massiv gefördert: Durch das Ehegattensplitting, die vom Hauptverdiener abgeleitete soziale Sicherung der übrigen Familienmitglieder und die geplante Zahlung von Geld an Familien, in denen eine Person zur Kindererziehung zuhause bleibt.

Zudem verdienen die Männer in den alten Bundesländern mit um 49 Prozent höheren Stundenlöhnen auch sehr viel mehr als Männer in den neuen Bundesländern, bei Frauen liegt diese West-Ost-Differenz „nur“ bei 19 Prozent. Dahinter könnte neben den immer noch unterschiedlichen Familienformen in West und Ost auch noch stehen, dass es bestimmte Führungs- und Leitungspositionen im Osten (noch) nicht gibt, weil bei größeren Unternehmen die wirklichen Entscheidungsebenen im Westen verblieben sind und nur die eigentliche Produktion oder Dienstleistung im Osten erfolgt. Insofern könnte die Unterrepräsentanz von Frauen auf Führungspositionen (sog. gläserne Decke für Frauenaufstieg) auch einen quantitativ erheblichen Anteil am Gender Pay Gap haben.

Schließlich zeigen die Zahlen des statistischen Bundesamtes auch, dass schlecht bezahlte Berufe Frauensache sind. Zudem gibt es Wirtschaftszweige, wo der Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern besonders hoch ist: Verarbeitendes Gewerbe (29 Prozent, Tendenz steigend!), Kredit- und Versicherungsgewerbe (29 Prozent, Tendenz unverändert) und unternehmensnahe Dienstleistungen (30 Prozent, Tendenz unverändert). In diesen Fällen dürften für die Differenz auch die bestehenden Tarifverträge eine erhebliche Mitverantwortung für geschlechtsspezifische Entgeltdifferenzen tragen.

Fragen 2 und 14: Wandel zu egalitären Partnerschaftsmodellen?

In der Bundesrepublik Deutschland ist ein Wandel hin zum egalitären Partnerschaftsmodell noch immer nicht eingetreten. Die neue Elternzeit mit Partnermonaten ist allerdings ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Elternzeit wird inzwischen zu erfreulichen 17 Prozent von Männern beantragt, Tendenz steigend. Allerdings nehmen zwei Drittel dieser Väter nur die zwei Partnermonate, die sonst verfallen würden .[2] Diese Zeit lässt sich in den Unternehmen immer noch wie eine verlängerte Urlaubs- oder Weiterbildungszeit kompensieren, erfordert also keine grundlegenden Umstrukturierungen und führt noch nicht dazu, dass Männer aus Unternehmenssicht wie Frauen als durch Elternschaft „belastet“ angesehen werden. Zur Förderung egalitärer Lebensmodelle müssten die Partnermonate auf vier Monate verlängert werden. Noch deutlicher wäre eine Gleichverteilung auf beide Eltern, wobei es dann allerdings gestattet sein müsste, einige Monate auf den anderen Elternteil zurück zu übertragen. Vor allem aber dürften Paare, die sich die Kinderbetreuung egalitär teilen und deswegen beide parallel in Elternteilzeit arbeiten wollen, nicht weiterhin durch das Bundeserziehungsgeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) bestraft werden. Nach § 4 Abs. 2 BEEG halbiert sich für diesen Fall doppelter Teilzeitarbeit nämlich bisher die Bezugsdauer auf nur sieben anstatt sonst 14 Monate trotz des jeweils nur hälftigen Bezuges von Elterngeld.

Fragen 6 bis 8: Rechtsdurchsetzung des Verbots der Entgeltdiskriminierung, Handlungsoptionen

Der bisherige gesetzliche Diskriminierungsschutz ist schon allgemein von der gesetzgeberischen Konstruktion her unzureichend. Ohne Beweislastumkehr oder zumindest Auskunftsansprüche an Unternehmen zu beweiserheblichen Informationen, über die nur das Unternehmen selbst verfügt, wird es auch künftig kaum Klagen wegen Diskriminierung geben. Die befürchtete Klagewelle ist ausgeblieben, konstatiert selbst das Institut der deutschen Wirtschaft[3]. Gerade die Anwendung diskriminierender Tarifverträge kann wegen § 15 Abs. 3 AGG (Entschädigung nur bei grober Fahrlässigkeit des Arbeitgebers/der Arbeitgeberin) bislang kaum effektiv sanktioniert werden. Die Einzelklage Diskriminierter, wenn sie denn überhaupt gelingt, kann zudem keine Veränderung der innerbetrieblichen Entlohnungssysteme oder der Tarifverträge erzwingen. Es bedarf hier der Verbandsklage sowie direkter institutioneller Kontrollmöglichkeiten, um gegen Entgeltdiskriminierung in Kollektivsystemen wirksam vorgehen zu können.

Die Bundesrepublik ist bei der Frage der Entgeltgleichheit leider auch nicht auf einem „guten Weg“. Der Verdienstabstand wächst tendenziell weiter. Nur im Bereich Verkehr- und Nachrichtenübermittlung hat sich der Abstand der durchschnittlichen Bruttostundenverdienste 2006 bis 2007 verringert – um gerade einmal ein Prozent. Um hier Veränderungen anzustoßen, bedarf es weniger zusätzlicher empirischer und statistischer Studien dazu, was die Ursachen der Entgeltungleichheit sind und welche Anteile die einzelnen Ursachen zur Entgeltdifferenz beitragen. Die Ursachen für die Frauenbenachteiligung im Erwerbsleben sind hinlänglich bekannt und vielfach analysiert. Auf freiwilliger Basis jedoch ändern nur wenige Unternehmen ihre Praxis.

Auch Empfehlungen der Verbände bewirken kaum Veränderung in Richtung von mehr Gleichstellung der Geschlechter, soweit überhaupt welche ausgesprochen werden. Zudem kann sich bei Tarifverträgen immer die eine Seite durch die Veränderungsunwilligkeit der anderen Seite exculpieren. Und immer mehr Unternehmen treten aus den Verbänden aus, um überhaupt jeglicher Tarifbindung zu entgehen. Im Bereich des öffentlichen Dienstes ist der Staat allerdings selbst Tarifvertragspartei. Deshalb besteht hier eine besonders gute Einwirkungsmöglichkeit für den Staat, durch eigene gleichstellungspolitische Konzepte und die Verhandlung eines diskriminierungsfreien Entgeltsystems selber mit gutem Beispiel voranzugehen.

Ansonsten müsste der Gesetzgeber durch eigene Intervention die Tarifvertragsgestaltung zwischen Unternehmensverbänden bzw. Unternehmen und Gewerkschaften zu beeinflussen suchen. Da hierbei die Tarifautonomie der arbeitsrechtlichen Koalitionen zu beachten ist, kämen vor allem verfahrensmäßige Absicherungen zur Verhinderung von Entgeltdiskriminierung in Betracht. Weiter müsste der Gesetzgeber auch stärker als bisher direkt auf das sonstige Verhalten der Unternehmen Einfluss zu nehmen suchen, um direkte, mittelbare und strukturelle Benachteiligungen von Frauen im Vorfeld der Entgeltfrage zu beseitigen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist gemeinschaftsrechtskonform nachzubessern und an Schwachstellen, insbesondere bei Beweislast, Sanktionen und Verbandsklage, weiter auszubauen. Da sich Frauenbenachteiligung im Form struktureller Benachteiligung nicht durch bloßen Schutz vor Diskriminierung beseitigen lässt, sondern einer aktiv gestaltenden Gleichstellungspolitik in den Unternehmen (sog. positive Maßnahmen) bedarf, müsste der Gesetzgeber darüber hinaus endlich ein umfassendes Gleichstellungsgesetz für den Bereich der Privatwirtschaft mit einer Verpflichtung zu positiven Gleichstellungsmaßnahmen erlassen.

Fragen 10 und 11: Migrantinnen

Migrantinnen haben nach der Unternehmensbefragung zum AGG, die wir in Hamburg gerade abgeschlossen haben[4], noch schlechtere berufliche Chancen als sog. Einheimische. Sie sind in den Betrieben (und wohl auch Verwaltungen) auf attraktiveren Positionen kaum präsent. Wenn sich die inzwischen an deutschen Hochschulen ausgebildeten Migrantinnen bewerben, haben sie noch mehr Schwierigkeiten eine ihrer Qualifikation angemessene Tätigkeit zu finden als andere Absolventinnen. Sie werden nach meinen Beobachtungen eher auf Positionen zur Integration weiterer Migranten/innen eingestellt als in reguläre Jobs. Hier gibt es jedoch eine Forschungslücke. Zudem zeigte unsere AGG-Befragung, dass es in vielen Unternehmen Vorbehalte gegenüber Kopftuchträgerinnen gibt, soweit es nicht um unqualifizierte Tätigkeiten oder Tätigkeiten ohne Außenkontakte wie Reinigung oder Küche geht. Hier droht ein wichtiges, hoch qualifiziertes Arbeitskräftepotential von den Unternehmen ignoriert und ausgegrenzt zu werden.

Fragen 12 und 13: Veränderung des Berufswahlverhaltens von Frauen

Frauen haben durch eigene Bildungsanstrengungen, steigende Erwerbsbeteiligung und verkürzte Berufsunterbrechungen sowie mühsame Diskussionen mit ihren Lebenspartnern und Arbeitgeber/innen das ihnen derzeit Mögliche zum sozialen Wandel hin zu mehr Geschlechteregalität beigetragen. Das vordergründig irrationale Berufswahlverhalten vieler junger Frauen ist durchaus rational, blickt man genauer auf die typischen Männerberufe und die Ergebnisse der Begleitforschungen zu den Projekten „Frauen in Männerberufe“. Denn in Männerdomänen werden ausgebildete Frauen immer noch seltener übernommen und treffen auch nach der Ausbildung auf Vorbehalte wegen Geschlecht und potentieller Mutterschaft. Betriebliche Strukturen und Kommunikationsformen sind in Männerdomänen weiterhin auf Männer ausgerichtet und auf eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie schlechter eingerichtet als andere Bereiche. Das dürfte nicht nur für den gewerblich-technischen Bereich, sondern auch für die MINT-Berufe gelten. Es käme jetzt darauf an, die ungleichen Chancen für Frauen und Männer im Erwerbsleben und die Benachteiligung von Frauen bei der Entgeltzahlung durch staatliches Handeln gezielt und effektiver als bisher auf der Unternehmensseite zu bekämpfen, anstatt den Frauen immer weiter mehr Engagement und Veränderungswillen abzuverlangen, ohne dass sich ihnen dadurch die Tore der Unternehmen weiter öffnen.

Fragen 8 und 16: Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft

Die Freiwillige Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2001 muss nach nunmehr sieben Jahren Praxis und drei Berichten als wirkungslos bezeichnet werden. Sie erfasst nur die Wirtschaftsverbände, aber nicht die einzelnen Unternehmen und Betriebe und verpflichtet zu nichts. Keiner der Berichte der Bundesregierung konnte Zahlen vorlegen, die einen Strukturwandel in der Wirtschaft belegen oder auch nur andeuten. Es gibt unverändert eine Elite von ca. 200 bis 300 Unternehmen, die Gleichstellungspolitik engagiert betreiben und deswegen als Beispiele guter Unternehmenspraxis immer wieder präsentiert werden; überwiegend, aber nicht ausschließlich Großbetriebe. Der Rest der Betriebe verharrt in Untätigkeit, verhält sich vielleicht im Einzelfall frauenfreundlich oder trägt einfach seine unternehmensbezogene Arbeitszeitflexibilisierung umstandslos als Frauenförderung in Fragebögen ein, selbst wenn die Flexibilisierung mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch so kollidieren mag. Es bedarf verbindlicherer gesetzlicher Instrumente.

 

II. Rechtlicher Rahmen

Frage 17: Mindestlöhne

Da Frauen an den gering vergüteten Tätigkeiten einen überproportional hohen Anteil haben, würden ihnen Mindestlöhne auch überproportional zugute kommen. Voraussetzung wäre ein flächendeckender Mindestlohn und nicht ein Mindestlohn gerade nur für Männerbranchen wie die Bauwirtschaft. Eine Neubewertung von Tätigkeiten bewirken Mindestlöhne hingegen nicht.

Fragen 18, 20, 21: Beförderungs- und Entgeltgleichheit auf dem Klageweg nach dem AGG?

Es gibt besonders wenig Diskriminierungsklagen wegen Beförderung. Denn eine Diskriminierungsklage gefährdet immer auch die dem Beschäftigungsverhältnis zugrunde liegende soziale Beziehung und damit die berufliche Weiterentwicklung im Unternehmen. Das Maßregelungsverbot des § 16 AGG kann Benachteiligungen wegen einer Diskriminierungsklage im fortgesetzten Arbeitsverhältnis immer nur unzulänglich verhindern. Es gibt zu viele und gerade auch viele informelle Möglichkeiten der Benachteiligung beim beruflichen Aufstieg. Das Urteil des LAG Berlin-Brandenburg gegen die GEMA z. B. deckt mit der vordergründig betrachtet hohen Summe von 20.000,- Euro Schadensersatz den mit der Klage verbundenen Perspektivverlust der hoch qualifizierten Klägerin in ihrem Unternehmen keinesfalls ab. Und der Betrag dürfte das Unternehmen auch nicht von weiteren Diskriminierungen im Aufstiegsbereich abschrecken, potentielle Klägerinnen wegen Aufstiegsdiskriminierung umgekehrt aber schon.

Im Bereich der Entgeltgleichheit hat es zwar mehr Klagen gegeben. Eine Diskriminierung ist auch hier jedoch von der einzelnen Klägerin zumeist nur schwer zu beweisen, weil sie keinen Einblick in das gesamte Entlohnungssystem des Unternehmens oder Tarifvertrages und seine Hintergründe hat. Auch dort, wo solche Klagen gewonnen werden, erstreckt sich die Rechtskraftbindung nur auf den Einzelfall. Die Tarifverträge verändern sich nur langsam, auch wenn Gerichte in Einzelfällen einzelne Regelungen wegen Geschlechtsdiskriminierung für nicht anwendbar erklären. So hat das BAG Lohnabschlagsklauseln für Frauen schon 1955 für geschlechtsdiskriminierend erklärt. Die letzte tarifvertragliche Abschlagsklausel fiel aber erst 1972, also nach 17 Jahren! Über bloße Einzelklagen wird sich auch künftig keine Entgeltgleichheit durchsetzen lassen.

Damit Einzelklagen überhaupt erhoben werden können, bedarf es einer Umkehr der Beweislast. Denn potentielle Klägerinnen haben zumeist keinen Zugang dazu, wie das Einstellungs- oder Beförderungsverfahren in ihrem Fall abgelaufen ist, wie sich die Personalentwicklung im Unternehmen gestaltet und wie die Entgeltstrukturen in Tarifvertrag und Betrieb sind. So konnte die GEMA-Angestellte ihren statistischen Beweis einer Frauenbenachteiligung im Unternehmen nur führen, weil sie selbst im Personalbereich dieses Unternehmens tätig war. Zumindest müsste das AGG bei einem berechtigten Interesse individuelle Auskunftsansprüche gegen das Unternehmen geben. Eine gesetzliche Publizitätspflicht für Unternehmen, was gleichstellungspolitisch relevante Unternehmensdaten angeht, wäre ebenfalls hilfreich.

Die Privilegierung von diskriminierenden Kollektivvereinbarungen in § 15 Abs. 3 AGG (Entschädigung nur bei grober Fahrlässigkeit des anwendenden Unternehmens), die auch europarechtswidrig ist, ist zu streichen.

Fragen 19, 20, 24: Verbandsklagerecht ins AGG?

Die Einführung eines Verbandsklagerechts für Antidiskriminierungsverbände gegen ganze Entlohnungssysteme und Tarifvertragsstrukturen würde den Druck in Richtung auf diskriminierungsfreie Entgeltsysteme im Vergleich zur bisherigen bloßen Einzelklage verstärken und wirksamer und schneller Abhilfe bei Entgeltdiskriminierung schaffen. Das Verbandsklagerecht sollte mit entsprechenden Auskunftsansprüchen der Verbände gegenüber den Tarifvertragsparteien und/oder das Unternehmen verbunden werden. Einzelne Klägerinnen würden dann nicht mehr durch Klagen belastet und eventuell ihr eigenes Beschäftigungsverhältnis und seine Weiterentwicklung gefährden müssen. Eine Breitenwirkung der Gerichtsentscheidung wäre gegeben. Insofern sollte das AGG hier über die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien hinausgehen, die nur allgemein eine „Beteiligung“ der Verbände fordern.

Frage 22: Europarechtskonforme Ausgestaltung des AGG, Klagefristen und Schadensersatz

Die Ausschluss-Formulierungen bei Betriebsrenten und Kündigungen in § 2 Abs. 2 Satz 2 und § 2 Abs. 4 AGG müssen beseitigt werden. Beide Gebiete unterliegen voll den EU-Antidiskriminierungsrichtlinien und sind im AGG gegen Diskriminierung zu schützen. In diese Richtung weist auch eine neue Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts[5].

In § 8 AGG ist für zulässige Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot des § 7 AGG die alte Formulierung des § 611a Abs. 1 Satz 2 BGB „Geschlecht als unverzichtbare Voraussetzung“ beizubehalten. § 8 Abs. 1 AGG bestimmt derzeit auch für das Merkmal Geschlecht, dass schon „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen nach Art der auszuübenden Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung“ zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung ausreichen sollen. Das ist eine nach den EU-Antidiskriminierungsrichtlinien unzulässige Absenkung bisheriger Schutzstandards für das Merkmal Geschlecht.

Das Verschuldenserfordernis für Schadensersatz und Entschädigung in § 15 Abs. 1 und 3 AGG ist zu streichen. Das Verschuldenserfordernis in beiden Vorschriften steht in offenem Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung des EuGH[6].

§ 15 Abs. 2 Satz 1 AGG bestimmt: Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Diese Vorschrift gibt die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an die Höhe der zu leistenden Entschädigung mit dem Erfordernis „angemessen“ nur unvollkommen wieder. Artikel 6 Abs. 2 der Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG verlangt nicht nur „angemessene“ sondern auch „abschreckende“ Sanktionen als Rechtsfolge einer Diskriminierung. Der Gesetzgeber müsste zumindest die Formulierung „abschreckend“ in das AGG übernehmen. Statt der bisherigen Höchstgrenzen für Entschädigung in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG wäre an Mindestbeträge bei bestimmten Arten von Diskriminierung, z.B. sexueller Belästigung, zu denken, wie sie beispielsweise das Gleichbehandlungsgesetz in Österreich kennt.

Die Zweimonatsfrist in § 15 Abs. 4 AGG ist zu kurz und könnte durch Tarifverträge sogar noch weiter verkürzt werden. Oft sind komplizierte Recherchen erforderlich, bis ein Anspruch wegen Geschlechtsdiskriminierung mit einiger Aussicht auf Erfolg geltend gemacht werden kann. Die Frist darf zudem im Gegensatz zur heutigen Regelung auch bei der Ablehnung von Bewerbungen oder Beförderungen erst beginnen, wenn von den diskriminierenden Umständen der Personalentscheidung Kenntnis erlangt worden ist. Zur effektiven Rechtsdurchsetzung, wie sie Artikel 6 Abs. 1 der Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG gebietet, reicht die bloße Kenntnis von der Ablehnung der Bewerbung oder Nichtbeförderung nicht aus. Auch verstößt § 15 Abs. 4 AGG gegen das Verschlechterungsverbot des Artikel 8a Abs. 1 der Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG: Eine Ausschlussfrist für die Geltendmachung von Ansprüchen wegen Diskriminierung sah das deutsche Recht in § 611a Abs. 4 BGB bisher nur im Zusammenhang mit Bewerbungen vor. Nach § 15 Abs. 4 AGG gilt die Ausschlussfrist nunmehr für alle Fallgestaltungen, also auch die Entgeltdiskriminierung. Zudem wurde die Ausschlussfrist teilweise verkürzt. Nach § 611a Abs. 4 Satz 3 BGB betrug die Frist, wenn keine tarifliche Regelung existierte, sechs Monate im Gegensatz zu den heutigen zwei Monaten. Künftig sollte die Ausschlussfrist für Ansprüche aus dem AGG daher einheitlich sechs Monate betragen und erst mit der Kenntnis von den möglicherweise diskriminierenden Umständen beginnen.

Frage 23: Grundsatz der Entgeltgleichheit explizit in das AGG aufnehmen

Das AGG behandelt Entgeltgleichheit im Gegensatz zum vorausgegangenen § 612 Abs. 3 BGB nicht mehr ausdrücklich. § 8 Abs. 2 AGG nennt Entgeltgleichheit nur noch im Zusammenhang mit Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgrundsatz. Es macht das Problem der Entgeltdiskriminierung damit gesetzlich erneut unsichtbar. Die in Artikel 1 Abs. 1 der Richtlinie 75/117/EWG enthaltenen Bestimmungen und Präzisierungen zum Grundsatz des gleichen Entgelts bei gleicher Arbeit oder bei einer Arbeit, die als gleichwertig anerkannt wird, sind im deutschen Recht weder im AGG noch in einer anderen Bestimmung umgesetzt. Es fehlt auch ein ausdrücklicher Bezug auf den in Artikel 141 EG niedergelegten Anspruch auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit. Der Gesetzgeber sollte daher in das AGG ein ausdrückliches und differenziert geregeltes Verbot von Entgeltdiskriminierung aufnehmen, um dem Anspruch nach diskriminierungsfreier Entlohnung mehr Nachdruck durch Sichtbarkeit zu verleihen.

Fragen 27-29: Frauenquoten für Aufsichtsräte und Corporate Governance

Vor dem Hintergrund der stagnierenden Entwicklung auf den Spitzenpositionen der deutschen Wirtschaft und angesichts der hohen Bedeutung, die eine Beteiligung beider Geschlechter an der Unternehmensführung für den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen hat, ist auch in Deutschland eine gesetzliche Quote für die Besetzung von Aufsichtsratsmandaten mit Frauen einzuführen. Dies sollte ein Gebot nicht nur von Geschlechtergerechtigkeit, sondern auch von wirtschaftlicher Vernunft sein. Denn es ist wissenschaftlich belegt, dass Frauen und Männer aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Kompetenzen und Erfahrungen auch unterschiedliche Herangehensweisen, Analysen und Schlussfolgerungen in wirtschaftlichen Zusammenhängen und unternehmerischen Entscheidungen an den Tag legen und Diversity sich dadurch rechnet. Gerade weibliche Führungskräfte und Unternehmerinnen, die sich den Geschäftserfolg hart erarbeiten müssen, haben es gelernt, unternehmerisch zu denken und zu handeln. Diese Frauen denken in der Regel längerfristiger als ihre männlichen Kollegen, die sich oft eher dem schnellen Erfolg verpflichtet fühlen. Die Firmen mit den meisten Frauen im Vorstand erzielten in den USA im Vergleich zu solchen ohne Frauen eine bis zu 53 Prozent höhere Eigenkapitalrendite[7].

Die Erfahrungen in Norwegen mit einer 40-Prozent-Frauenquote für Aufsichtsräte sind positiv. Der Frauenanteil in Aufsichtsräten stieg in Norwegen schon unter der Drohung des künftigen Gesetzes von 18 Prozent in 2006 auf 30 Prozent in 2007. Im April 2008 meldete das norwegische Handelsregister, die gesetzliche 40-Prozent-Quote sei erfüllt. Grundlegende verfassungsrechtliche oder europarechtliche Bedenken gegen die Einführung von Frauenquoten in Aufsichtsräten unter Qualifikationsvorbehalt bestehen auch für Deutschland nicht.[8] Das Gesetz über die Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat sieht Geschlechterquoten für die Arbeitnehmerseite in Aufsichtsräten bereits vor. Auch die vom Bund zu vergebenden Aufsichtsratsmandate unterliegen durch das Bundesgremienbesetzungsgesetz schon geschlechtsspezifischen Regelungen. Nach Inkrafttreten des Bundesgremienbesetzungsgesetzes ist der Frauenanteil dort von 7,7 auf 20,5 Prozent gestiegen. Nur für die Kapitalseite fehlen also noch Besetzungsvorgaben zugunsten von Frauen.

Daher sollte auch im Aktiengesetz eine entsprechende Regelung verankert werden mit dem Ziel, dass die Aufsichtsräte deutscher Aktiengesellschaften bis zum Jahr 2012 mindestens zu 40 Prozent mit Frauen besetzt sein müssen. Wie in Norwegen könnte man dem Gesetz im Sinne von soft law eine Phase der freiwilligen Erfüllung mit Fristsetzung vorschalten und dafür eine Zielvorgabe in den deutschen Corporate Governance Kodex einfügen. Wenn diese Freiwilligkeit nicht greift, wie es leider auch in Norwegen der Fall war, sollte die Änderung des Aktiengesetzes umstandslos in Kraft treten. Parallel sollten für Männer und Frauen auch gesetzliche Qualifikationsanforderungen an Aufsichtsratsmandatsträger/innen statuiert sowie eine Begrenzung der Aufsichtsratsmandate pro Person festgelegt werden. Aufsichtsratsarbeit fordert eine erhebliche Qualifikation und den vollen Einsatz der damit Betrauten und ist nicht bloß nebenher zu verrichten. Darüber hinaus würden durch die Begrenzung der Mandate pro Person eine Vielzahl von Mandaten frei, die zur Besetzung mit Frauen zur Verfügung stünden.

Es gibt auch in Deutschland genügend für diese Aufgabe qualifizierte Frauen, wenn man nicht nur in den Vorständen der Dax-Unternehmen sucht, wo Frauen nachweislich fehlen, sondern auch in den Vorständen und Chefetagen großer mittelständischer Unternehmen, der zweiten Führungsebene großer Unternehmen oder in den Beratungsberufen. Der Deutsche Juristinnenbund hat bereits auf seinem Frauendinner im Oktober 2007 in Berlin im Beisein der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries dem damaligen Vorsitzenden der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex Dr. Gerhard Cromme eine Liste mit 450 Namen geeigneter Frauen übergeben und sie inzwischen auch an den heutigen Vorsitzenden Klaus-Peter Müller weitergereicht.

Frage 31: Freiwillige Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der Deutschen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit

Die freiwillige Vereinbarung von 2001 ist unwirksam geblieben und wird auch durch Zusätze innerhalb der Vereinbarung nicht wirksamer werden. Selbstverständlich gibt es vorbildliche Unternehmen in Sachen Gleichstellung der Geschlechter, und jedes Jahr kommen auf freiwilliger Basis auch einige hinzu. Aber die große Mehrzahl deutscher Unternehmen wird so nicht erreicht. Gebraucht werden verbindliche gesetzliche Vorgaben mit Sanktionen bei Nichterfüllung sowie effektive Kontrollinstanzen für alle Unternehmen.

 

III. Betrieblicher Rahmen

Fragen 32, 33: Gesetzliche Möglichkeiten, die Tarifvertragsparteien zur Überprüfung ihrer Entgeltsysteme zu verpflichten

Die Tarifvertragsparteien sind schon heute EU-rechtlich, verfassungsrechtlich und nach einfachem Gesetz, hier insbesondere § 2 Abs. 1 Nr. 2, § 7 Abs. 1 AGG, verpflichtet, ihre Tarifverträge diskriminierungsfrei zu gestalten. Diskriminierende Bestimmungen in Tarifverträgen sind nach § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Den arbeitsrechtlichen Koalitionen steht zwar die Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG zur Seite. Diese entbindet sie aber nicht von den Diskriminierungsverboten bzw. von der Verpflichtung, ihren Entgeltsystemen diskriminierungsfreie Arbeitsbewertungssysteme zugrunde zu legen.

Der Staat kann sich nicht mit dem Verweis auf die Tarifautonomie seiner eigenen Verpflichtung zum Schutz der Frauen vor Diskriminierung nach Gemeinschaftsrecht und dem Grundgesetz entziehen. Er ist nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG inzwischen sogar verfassungsrechtlich explizit verpflichtet, bestehende Benachteiligungen von Frauen zu beseitigen. Seiner Schutzpflicht kann der Staat ohne Art. 9 Abs. 3 GG zu tangieren durch eine verfahrensmäßige Absicherung des Verbotes, wegen des Geschlechts zu diskriminieren, nachkommen. Zu unterscheiden wäre dabei zwischen künftig neu abzuschließenden und bereits bestehenden Tarifverträgen.

Bei neuen Tarifverträgen könnte das Tarifvertragsgesetz dahingehend ergänzt werden, dass die Tarifvertragsparteien verpflichtet werden, ihren Entgeltsystemen diskriminierungsfreie Arbeitsbewertungssysteme zugrunde zu legen, jeden Tarifvertrag einem Diskriminierungscheck zu unterziehen und seine Diskriminierungsfreiheit zu bescheinigen, bevor er in Kraft treten kann. Dieser Check müsste einer staatlichen Stelle, in Betracht käme eine geschlechterparitätisch besetzte unabhängige Kommission, angebunden an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), mit entsprechenden Unterlagen mitgeteilt und von ihr registriert werden, wonach der Tarifvertrag in Kraft treten kann. Bei Unklarheiten und Zweifeln sollten vor der Registrierung Nachfragen der Kommission zulässig sein. Antidiskriminierungsverbände sollten durch das AGG ermächtigt werden, in diese Unterlagen bei der Registrierungsstelle jederzeit Einsicht nehmen zu können und für den Fall, dass sie einen Tarifvertrag im Hinblick auf ein Merkmal des § 1 AGG für diskriminierend halten, Verbandsklage zu erheben.

Schon bestehende Tarifverträge sollten innerhalb gesetzlich festzulegender Fristen nachträglich einer Überprüfung auf Diskriminierung durch die daran beteiligten Tarifvertragsparteien unterzogen und ggf. verändert werden müssen. Überprüfung, Ergebnis und Änderungen wären der Registrierungsstelle ebenso mitzuteilen wie im Fall neu abgeschlossener Tarifverträge. Kommt es bei der Überprüfung bestehender Tarifverträge nicht zu einer Einigung der Tarifvertragsparteien, könnte dem Tarifvertrag jedoch nicht einfach die weitere Wirksamkeit versagt werden. Denn sonst könnte eine Partei einen ihr unliebsamen Tarifvertrag auf diese Weise durch bloße Verweigerung des Konsenses beseitigen. Es wäre vielmehr eine Art Einigungsstelle im Sinne einer Entgeltgleichheitskommission unter einem unabhängigen Vorsitz einzusetzen, die über das weitere Vorgehen entscheidet. Auf die Person für den Vorsitz müssten sich beide Seiten einigen, ansonsten bestellt das Arbeitsgericht den Vorsitz.[9] Nur bei der Anwendung eines Tarifvertrages, der dieses Verfahren erfolgreich durchlaufen hat, dürfte die Haftung der Unternehmen auf Fälle grober Fahrlässigkeit beschränkt werden.

Für betriebliche Entgeltsysteme könnten entsprechende Regelungen auf der Ebene des Betriebsverfassungsgesetzes eingeführt werden, wobei notfalls eine betriebliche Einigungsstelle zu entscheiden hätte.

Fragen 34, 36 und 37: Neue Arbeitsbewertungsmaßnahmen und -systeme

Die Wissenschaft ist sich darüber einig, dass Verfahren zur analytischen Arbeitsplatzbewertung tendenziell besser zur diskriminierungsfreien Arbeitsbewertung geeignet sind als summarische. Denn erstere legen zuerst nach verschiedenen Merkmalen differenzierte, abstrakte Bewertungsgesichtspunkte fest und subsumieren dann jede einzelne konkrete Tätigkeit unter diese Merkmale. Erst die Gesamtsicht verschiedener Tätigkeiten und Tätigkeitsbestandteile auf einer beruflichen Position ergibt dann die Vergütung. Summarische Verfahren hingegen bilden nur grobe Fallgruppen, denen dann bestimmte Beschäftigtengruppen zugeordnet werden. Die Zuordnung erfolgt hier pauschal und weniger transparent.

Die bisher verbreiteten Arbeitsbewertungsverfahren leiden jedoch alle daran, dass die Anforderungen an und der Einsatz von Fähigkeiten, wie sie häufiger auf typischen Frauenarbeitsplätzen gefordert und eher von Frauen erbracht werden, nicht als Qualifikation, Leistung oder Belastung gesehen und bewertet werden. Neben Geschicklichkeit, feinmotorischen Belastungen oder monotonen Arbeitsbedingungen im Produktionsbereich geht es hier vor allem um soziokommunikative Fähigkeiten und die sorgende Verantwortung für Menschen im Dienstleistungsbereich. Das Schweizer Verfahren zur Arbeitsplatzbewertung Abakaba[10] bezieht auch solche Fähigkeiten, Anforderungen und Belastungen anteilig mit in die Bewertung ein, die eher von Frauen und auf typischen Frauenarbeitsplätzen zu erbringen sind. Dieses Verfahren wurde mit Unterstützung des Schweizer Staates entwickelt und ist in der Schweiz auch bereits mehrfach erfolgreich eingesetzt worden, vor allem von öffentlichen Einrichtungen.

Abakaba ist jedoch nicht der einzige Neuansatz. Auch Wissenschaftlerinnen in Deutschland[11] haben sich schon mit dem Einsatz neuer Instrumente und Systeme zur Arbeitsbewertung befasst. Zur Unterstützung der Tarifvertragsparteien könnte bei der ADS oder einer anderen Registrierungsstelle ein Referat eingerichtet werden, das Informationen über besonders geschlechtergerechte Verfahren zur Arbeits- und Leistungsbewertung sammelt und Interessierten zur Verfügung stellt sowie Personalverantwortliche, Betriebs- und Personalräte, Tarifvertragsparteien, Gleichstellungsbeauftragte usw. berät.

Fragen 35 und 36: Probleme beim Einsatz neuer Arbeitsbewertungssysteme

Kein Arbeitsbewertungssystem verändert jedoch die Lohnsumme insgesamt, die in einem Betrieb oder Unternehmen zu verteilen ist. Ein Wechsel des Arbeitsbewertungssystems führt daher zwangsweise zu Umverteilungen innerhalb seines Anwendungsbereichs. Der Abbau von Diskriminierung muss letztlich von denjenigen „bezahlt“ werden, die bisher von dieser Benachteiligung profitiert haben. Von den bestehenden Entgeltsystemen profitieren naturgemäß vor allem diejenigen, die in den diesbezüglichen Verhandlungen am durchsetzungsstärksten waren, weil sie am besten personell repräsentiert wurden oder wegen ihrer Arbeitsmarktposition und ihrer Kampfbereitschaft am meisten Berücksichtigung erzwingen konnten; – in der Praxis also Männer mit gewerkschaftlicher Organisierung und ohne Migrationshintergrund. Gegen den Widerstand dieser Akteure lassen sich neue Systeme mit Umverteilungseffekt nur schwer durchsetzen.

Gewisse Entspannung zwischen bisher benachteiligten Frauen und bisher begünstigten Männern könnte eine vorübergehende Besitzstandswahrung zugunsten der bislang Begünstigten sein, die sich erst schrittweise, z.B. durch Anrechnung auf künftige Tariferhöhungen, abbaut. Eine solche Besitzstandswahrung wiederum hätte aber die Unternehmensseite zu finanzieren. Insofern bietet sich eine mächtige Koalition zwischen den bislang begünstigten Männern und der Unternehmensseite zur Verhinderung grundlegender Veränderungen in Richtung auf weniger Diskriminierung der Frauen geradezu an. Diese Koalition ließe sich vielleicht dadurch aufbrechen, dass die Erhöhung der Frauenentgelte nur schrittweise im Umfang der Anrechnung künftiger Tariferhöhungen auf die Männerlöhne erfolgt. Allerdings verstieße diese weiche Lösung erneut gegen den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Entgeltgleichheit, wie er sich insbesondere aus Art. 141 EG als unmittelbar in Deutschland geltendem Recht ergibt, so dass diese nur schrittweise Anpassung des Entgelts von Männern und Frauen kein gangbarer Weg ist.

Bloße Einsicht in die Ungerechtigkeit diskriminierender Entgeltsysteme reicht als Veränderungsmotor jedenfalls nicht aus. Eine Veränderung ließe sich innerhalb des bisherigen Aushandlungssystems nur erreichen, wenn in den Verhandlungen um Entgeltregelungen auch die bisher benachteiligten Gruppen stärker repräsentiert wären als bisher. Daneben müsste die Kontrolle der kollektiven Verhandlungsergebnisse von außen durch den Staat und/oder durch Antidiskriminierungsverbände verstärkt werden wie schon beschrieben.

Frage 39: Senioritätsregelungen

Senioritätsregelungen benachteiligen im statistischen Durchschnitt Frauen. Denn Frauen werden aufgrund ihrer geschlechtstypisch häufiger gebrochenen Erwerbsbiografien im Durchschnitt seltener als Männer eine hohe betriebliche Seniorität erreichen. Das liegt nicht nur daran, dass Frauen zur Kindererziehung und künftig auch zur Versorgung Älterer ihre Berufstätigkeit häufiger unterbrechen (müssen) als Männer. Frauen ziehen auch häufiger ihren männlichen Partnern bei einem Wechsel seines Beschäftigungsortes hinterher und müssen dann dort jeweils beruflich neu anfangen mit immer neu einsetzender Senioritätsberechnung. Damit ist hier das erste Merkmal einer mittelbaren Geschlechtsdiskriminierung gemäß § 3 Abs. 2 AGG erfüllt. Das Merkmal Seniorität darf damit, soll es nicht geschlechtsdiskriminierend sein, nur eingesetzt werden, wo es durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und zur Erreichung dieses Zieles als Mittel angemessen und erforderlich ist.

Senioritätsregelungen in kollektiven Entgeltsystemen könnten zwei Ziele verfolgen: Sie könnten die Betriebstreue honorieren wollen oder die durch die Betriebstreue akkumulierte besondere Betriebserfahrung. Das Honorieren von Betriebstreue kollidiert allerdings damit, dass gesellschaftlich und innerbetrieblich heute vorrangig Flexibilität von den Beschäftigten gefordert wird. Seniorität zu honorieren ist in dieser Hinsicht also geradezu kontraproduktiv und dann auch kein gerechtfertigtes Ziel. Soweit sich Seniorität allerdings in für die zu leistende Arbeit vorteilhafter Erfahrung materialisiert, ist sie ein sinnvolles und zulässiges Kriterium zur Bewertung von Arbeit. Seniorität dürfte in dieser Bedeutung und Funktion jedoch nicht zusätzlich noch neben andere Kriterien treten, die ebenfalls die betriebliche Erfahrung honorieren sollen, wie z.B. die „Bewährungszeiten“ im öffentlichen Dienst. Es ist auch eine – wenngleich noch verdecktere – Geschlechtsdiskriminierung, wenn ein Tatbestand, der ein Geschlecht im Durchschnitt vor dem anderen günstiger bewertet, in einem Bewertungssystem verdoppelt herangezogen wird. Insofern ist das Merkmal Seniorität, wenn es in Arbeitsbewertungssystemen auftritt, zwar nicht generell unzulässig, aber doch einer besonders kritischen Prüfung in Hinblick auf Geschlechtsdiskriminierung zu unterziehen.

 

Prof. Dr. Sibylle Raasch
Vorsitzende der djb-Kommission
Arbeits-, Gleichstellungs- und Wirtschaftsrecht

 


Anmerkungen

[1] Statistisches Bundesamt, PM Nr. 427 vom 14.11.2008; Destatis 26.8.2008.

[2] Berth: Mehr Väter legen Babypause ein, in: SZ 12.6.2008.

[3] iwd Nr. 50 v. 11.12.2008 S.8.

[4] Raasch/Rastetter: Die Anwendung des AGG in der betrieblichen Praxis, Hamburg 2009.

[5]Zum Kündigungsschutz siehe inzwischen BAG Urt. v. 6.11.2008.

[6] EuGH vom 8.11.1990 Rs. 177/88 – Dekker, Slg. 1990, 3941, und vom 22.4.1997 Rs.C-180/95 – Draehmpaehl, Slg. 1997, 2195.

[7] Catalyst-Studie: The Bottom Line: Corporate Performance and Women’s Representation on Boards, Okt. 2007.

[8] Vgl. Frost/Linnainmaa: Corporate Governance, in: Die Aktiengesellschaft 2007 S. 601 ff.

[9] Ähnlicher Vorschlag schon von Pfarr: Entgeltgleichheit in kollektiven Entgeltsystemen, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004 S. 779 ff., sowie in ihren folgenden drei Aufsätzen: (1) Entgeltgleichheit in kollektiven Entgeltsystemen. Aufgabe für die Tarifparteien, die Rechtsprechung, aber auch die Gesetzgebung, (2) Entwurf eines Gesetzes zur Durchsetzung der Entgeltgleichheit in kollektiven Entgeltsystemen, (3) Vorschläge zu Regelungen zur Durchsetzung von Entgeltgleichheit, abrufbar bei www.boeckler.de bzw. hier: Aufsatz, Gesetzesentwurf, Verfahren.

[10] Näheres Katz/Baitsch: Arbeit bewerten – Personal beurteilen, Zürich 2006.

[11] Z.B. Tondorf/Jochmann-Döll (GEFA).