Art. 60 Abs. 1 Istanbul-Konvention (IK) verpflichtet die Vertragsstaaten, schwere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt als eine Form der Verfolgung anzuerkennen, welche zur Flüchtlingsanerkennung führen kann. Die Flüchtlingsanerkennung aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung findet in der deutschen Auslegungs- und Anwendungspraxis hingegen nur unzureichende Berücksichtigung. Dies steht im Widerspruch mit den Vorgaben der Istanbul-Konvention. GREVIO, die Expert*innengruppe des Europarats für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, kritisiert, dass geschlechtsspezifische Gewalthandlungen von deutschen Behörden oft als unpolitisch und damit nicht asylrelevant eingeordnet würden und neben der Verfolgung aufgrund des Geschlechts die Erfüllung weiterer Kriterien gefordert werde.[1] Auch der EuGH hat wiederholt – in Bezugnahme auf die IK – festgestellt, dass Frauen, die in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts Gewalt ausgesetzt sind, eine soziale Gruppe darstellen und insofern die Voraussetzungen eines asylrelevanten Verfolgungsgrund erfüllen.[2] Dies gelingt in der deutschen Auslegungs- und Anwendungspraxis nicht.
Aus diesem Grund ist der Gesetzgeber aufgefordert, entsprechende Klarstellungen im Wortlaut des Asylgesetzes vorzunehmen, um sicherzustellen, dass geschlechtsspezifische Aspekte bei der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausreichend berücksichtigt werden. Vor dem Hintergrund völker- und europarechtlicher Vorgaben fordert der djb die ausdrückliche Aufnahme von geschlechtsspezifischer Gewalt als Verfolgungshandlung in § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG. Darüber hinaus bedarf es einer gesetzgeberischen Klarstellung in § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Hs. AsylG, sodass allein die Anknüpfung der Gewalt an das Geschlecht die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe begründen kann, wobei es dabei nicht zusätzlich auf das Kriterium der „Andersartigkeit“ in § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b AsylG ankommen darf.
Anders als im Gesetzentwurf zum GEAS-Anpassungsgesetz vorgesehen, sollte es nicht zu einer vollständigen Streichung der §§ 3 ff. AsylG kommen, vielmehr plädiert der djb nochmals nachdrücklich für den Erhalt und die Konkretisierung einer nationalen Regelung zur geschlechtsspezifischen Verfolgung.[3]
I. (Europa)- und völkerrechtswidrige Auslegung geschlechtsspezifischer Verfolgung
Immer mehr Frauen sind in den letzten Jahren aus Herkunftsländern wie Afghanistan, Iran, Eritrea oder Somalia nach Deutschland geflohen. In diesen Ländern ist derzeit geschlechtsspezifische Gewalt – etwa in Form von sexualisierter Kriegsgewalt, Zwangsverheiratung oder häuslicher Gewalt – sehr verbreitet. Dies lässt darauf schließen, dass der Anteil an Frauen, die aufgrund geschlechtsspezifischer Gewalt fliehen, sehr hoch ist.[4] Die Gewährung von Schutz durch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung scheitert jedoch oftmals an einer fehlerhaften behördlichen und gerichtlichen Auslegungs- und Anwendungspraxis in Deutschland, was sich unter anderem in der geringen Anerkennungsquote der geschlechtsspezifischen Verfolgung widerspiegelt.[5]
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt eine Verfolgung aufgrund bestimmter persönlicher Merkmale voraus. Bei geschlechtsspezifischer Gewalt kommt insbesondere eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in Betracht. So regelt § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter HS AsylG ausdrücklich, dass eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Die Regelung geht damit ausdrücklich über den Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 lit. d) der EU-Anerkennungsrichtlinie bzw. von Art. 10 Abs. 1 lit. e) der im Mai 2024 in Kraft getretenen Anerkennungsverordnung hinaus, wonach die Mitgliedstaaten lediglich verpflichtet werden, geschlechtsspezifische Aspekte angemessen zu berücksichtigen. Allerdings wird in der gegenwärtigen deutschen Rechtsanwendung geschlechtsspezifische Verfolgung als alleiniger Fluchtgrund häufig nicht anerkannt.[6]
Diese Auslegungs- und Anwendungspraxis widerspricht dem Gesetzeswortlaut von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG und ist mit den völker- und europarechtlichen Vorgaben unvereinbar.
1. Anerkennung von gewaltbetroffenen bzw. -bedrohten Frauen als soziale Gruppe
Vor dem Hintergrund völker- und europarechtlicher Anforderungen fordert der djb eine klarstellende Anpassung des Wortlauts des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG: Im Einklang mit der Istanbul-Konvention muss geschlechtsspezifische Gewalt in ihrer strukturellen Dimension und ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen anerkannt werden, unabhängig davon, ob sie von staatlichen oder privaten Akteur*innen ausgeht. Denn auch Vergewaltigungen sowie andere Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt, wie weibliche Genitalverstümmelung, Gewalt in Zusammenhang mit der Mitgift, schwere häusliche Gewalt oder Menschenhandel werden als Mittel zur Verfolgung eingesetzt.[7] Verfolgung, die an das Geschlecht bzw. die geschlechtliche Identität anknüpft, kann die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe begründen, ohne dass es auf weitere Verfolgungsgründe und andere Kriterien – etwa die Größe der Gruppe oder Zusammengehörigkeit der Personen – ankommen darf. Sofern eine „abgegrenzte Identität“ gefordert wird, kann bei der Auslegung – im Einklang mit der EuGH-Rechtsprechung – nur darauf abgestellt werden, ob Frauen aufgrund moralischer, rechtlicher oder sozialer Normen ungleich behandelt und dadurch gesellschaftlich schlechter gestellt sind.[8] Auch fehlender rechtlicher Schutz vor u. a. häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt ist als Verfolgungshandlung einzustufen.[9]
a) Geschlechtsspezifische Gewalt als Anknüpfungspunkt für die Verfolgung
Die IK verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung und schwere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt als mögliches Mittel der Verfolgung anzuerkennen.[10] § 3a AsylG nennt in Abs. 2 Regelbeispiele, nach denen von Verfolgungshandlungen auszugehen ist, sofern sie die erforderliche Schwere i. S .d. § 3a Abs. 1 AsylG aufweisen.[11] Hierzu gehören gem. § 3a Abs. 2 Nr. 1 die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, sowie gem. § 3a Abs. 2 Nr. 6 Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
Für die Frage, ob die Verfolgung von Frauen an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft, muss darauf abgestellt werden, ob sich die Gewalthandlungen gegen Frauen richten, weil sie Frauen sind, oder ob sie Frauen unverhältnismäßig stark betreffen.[12] Auch häusliche Gewalt und Partnerschaftsgewalt richten sich ganz überwiegend gegen Frauen. In ihnen drücken sich patriarchale Machtansprüche aus, welche die Selbstbestimmung der Frau in Frage stellen. Auch der Erläuternde Bericht zur Istanbul-Konvention nennt schwere häusliche Gewalt explizit als mögliche Verfolgungshandlung.[13]
Gerade Partnerschaftsgewalt und häusliche Gewalt werden in der aktuellen Rechtsanwendung jedoch immer wieder als „innerfamiliäre Konflikte“ oder „kriminelles Unrecht“ eingeordnet, die sich nicht auf das Geschlecht der betroffenen Frau bezögen, sondern Ehr-, Moral- oder Traditionsverständnisse beträfen.[14] So wurde etwa die drohende Tötung einer Frau nach behauptetem Ehebruch wurde nicht als Verfolgungshandlung eingeordnet, die an die Geschlechtszugehörigkeit der Frau anknüpft. Ob die Tötung nach der „Ehrverletzung des Ehemanns“ realisiert würde, hinge von dem „traditionellen Verständnis“ der Familie ab.[15] Die Erfahrung schwerer häuslicher Gewalt richte sich nicht auf den „Genderstatus“ der Frau, sondern betreffe „nur“ ihre Rolle als Ehefrau.[16] Paradoxerweise erkennen die Gerichte zwar oft an, dass die Frauen in den betreffenden Ländern systematisch diskriminiert werden, schutzlos gestellt sind und sich die Ehemänner bzw. Familien (Verfügungs-)Macht über sie anmaßen, schließen daraus jedoch nicht auf eine geschlechtsspezifische Betroffenheit.[17] In dieser Praxis spiegelt sich ein großer Widerspruch: Zwar wird die Ungleichheit zwischen Geschlechtern in Drittländern – oft in stereotyper Weise – festgestellt, gleichzeitig wird die Diskriminierung der Frauen durch die Verkennung der geschlechtsspezifischen Verfolgung im Asylverfahren reproduziert.[18]
Die Zuordnung der Gewalt in die Sphäre des Privaten bzw. der Tradition verkennt, dass sich strukturelle Diskriminierung und Ungleichbehandlung in allen gesellschaftlichen Bereichen abbilden. Dies wird durch die künstliche Trennung von Öffentlichem und Privatem verschleiert. Indem die Gerichte schon die Anknüpfung der Gewalt an das Geschlecht verkennen, kommt eine weitere Prüfung der Flüchtlingsanerkennung – insbesondere der Frage, ob es ausreichend staatlichen Schutz gibt – nicht mehr in Betracht.
Aufgrund dieser problematischen Rechtsprechungspraxis fordert der djb eine Klarstellung in § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG, dass zu Handlungen, die an das Geschlecht anknüpfen, auch geschlechtsspezifische Gewalt i. S. d. Istanbul-Konvention gehört.
b) Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ wegen der Verfolgung aufgrund des Geschlechts
Die Regelung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylG geht über den Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 lit. e) Anerkennungsverordnung hinaus, welcher den Mitgliedstaaten lediglich auferlegt, geschlechtsbezogene Aspekte einschließlich der geschlechtlichen Identität bei der Bestimmung der Zugehörigkeit der sozialen Gruppe angemessen zu berücksichtigen. Der deutsche Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entschieden – in Anlehnung an die Regelung in § 60 Abs. 1 S. 3 a. F. AufenthG – die Verfolgung aufgrund des Geschlechts bzw. der geschlechtlichen Identität ausdrücklich als Anknüpfungspunkt für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zu regeln, da dies den Antragsteller*innen eine günstigere Rechtsposition vermittelt.[19] Diesem gesetzgeberischen Anliegen wird die gegenwärtige Anwendungspraxis nicht gerecht:
In der deutschen und europäischen Rechtsanwendung des § 3b AsylG hat sich, entgegen des Wortlauts und völkerrechtlicher Vorgaben, ein sogenannter kumulativer Auslegungsansatz durchgesetzt, nach welchem für die Bestimmung der sozialen Gruppe einerseits auf ein unverfügbares bzw. identitätsstiftendes Merkmal (z.B. Geschlecht, sexuelle Orientierung) als internes Merkmal und andererseits auf das externe Merkmal der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Gruppe als „andersartig“ abgestellt wird. Diese Auslegung ist aus völker- und europarechtlicher Perspektive nicht zwingend: So kommt es bei der Bestimmung der sozialen Gruppe nach Art. 10 Abs. 1 lit. d) EU-Qualifikationsrichtlinie „insbesondere“ auf das Vorliegen eines gemeinsamen Merkmals und einer abgegrenzten Identität an. Die Verwendung des Wortes „insbesondere“ – welches auch in § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG aufgegriffen wurde – lässt darauf schließen, dass die kumulative Erfüllung der beiden Merkmale nicht stets vorausgesetzt wird.[20] Nach den Richtlinien des UNHCR zu geschlechtsspezifischer Verfolgung kommt es ebenfalls lediglich alternativ auf das Vorliegen eines geteilten Merkmals oder die gesellschaftliche Wahrnehmung als Gruppe an.[21]
Im Wortlaut des § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG („allein an das Geschlecht“) ist daher klarzustellen, dass es der zusätzlichen gesellschaftliche Wahrnehmung von Frauen als „andersartig“ nicht bedarf, auch um die Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung zu sichern. Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts ungleich bzw. minderwertig behandelt werden und daher Gewalt ausgesetzt sind, kommt schon aufgrund dieser Diskriminierung eine andere gesellschaftliche Stellung und damit eine „abgegrenzte Identität“ zu, unabhängig von ihrer Zusammengehörigkeit oder Zahl. Mit der IK ist völkerrechtlich normiert, dass geschlechtsspezifische Gewalt eine Form der Diskriminierung darstellt.[22] Geschlechtsspezifische Verfolgungsmaßnahmen sind folglich schon ein Indiz für die Zugehörigkeit gewaltbetroffener Frauen zu einer sozialen Gruppe.[23] Die Gruppe kann die Frauen eines Landes insgesamt oder eine umgrenzte Gruppe von Frauen erfassen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen.[24]
c) Gewaltbetroffene Frauen müssen keine „Untergruppe“ bilden bzw. keine „fest umrissene Identität“ aufweisen
Entgegen der Vorgaben der IK und der Rechtsprechung des EuGH wird in der deutschen Rechtsanwendung die Verfolgung bzw. gesellschaftliche Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oftmals nicht als ausreichend für die Zugehörigkeit der Frauen zu einer bestimmten sozialen Gruppe angesehen. Vielmehr bilden die Gerichte Unterkategorien bzw. -gruppen gewaltbetroffener Frauen, wobei eine „fest umrissene Identität“ bzw. die „Wahrnehmung als gesellschaftlicher Fremdkörper“ gefordert wird. Dabei bleibt völlig unklar, woran dies gemessen wird. Die überhöhten Anforderungen an Zahl, Zusammengehörigkeit und weitere Verfolgungsmotive führen dazu, dass der Schutzbereich des geschlechtsspezifischen Verfolgungsgrundes ausgehöhlt wird. So hat das VG Göttingen zwar anerkannt, dass eine pakistanische Klägerin dauerhafter häuslicher Gewalt ausgesetzt war und ihr auch kein staatlicher Schutz zur Verfügung stand, da Gerichte und Polizei die Gewalt als „Familienproblem“ einordnen würden. Gleichzeitig reiche jedoch ihre „Eigenschaft als Frau“ nicht aus, um die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zu begründen.[25] Im Fall einer von Zwangsheirat bedrohten gambischen Klägerin wurde festgestellt, dass es sich bei drohenden Zwangsverheiratungen um die „allgemeine Lage“ der Frauen in Gambia handele, sodass den Betroffenen keine abgrenzbare Identität zukommen könne.[26] Ebenso gehörten Betroffene von häuslicher Gewalt in der Türkei keiner sozialen Gruppe an, da Frauen einen „erheblichen Teil der Bevölkerung“ ausmachen und insofern nicht als „gesellschaftlicher Fremdkörper“ angesehen würden.[27]
Damit wird Frauen „als solchen“ abgesprochen, eine soziale Gruppe darstellen zu können, sodass das externe Kriterium – das Erfordernis der gesellschaftlichen Wahrnehmung als andersartig – die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vollständig verdrängt.[28] Diese Wertung steht der Rechtsprechung des EuGH entgegen, wonach Frauen insgesamt eine bestimmte soziale Gruppe bilden können, „wenn feststeht, dass sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind.“[29]
Doch selbst wenn es um einen klar definierbaren Teil der Frauen der Herkunftsgesellschaft geht, wird die Zugehörigkeit gewaltbetroffener Frauen zu einer sozialen Gruppe häufig mit der Begründung verneint, dass „allein“ die geschlechtsspezifische Gewalt und damit einhergehende Stigmatisierung keine „Andersartigkeit“ begründen würde. So lehnt die Rechtsprechung eine Flüchtlingsanerkennung eritreischer Frauen, denen sexualisierte Gewalt im militärischen Teil des Nationaldienstes droht, weitgehend ab, da der Nationaldienst die gesamte erwachsene Bevölkerung Eritreas „ohne Ansehung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale“ betreffe und die betroffenen Frauen daher keine „eigenständige Gruppe“ bilden würden.[30] Zwar wird anerkannt, dass die Organisation des Nationaldienstes die sexualisierte Gewalt gegen Frauen dulde bzw. ermögliche und sexualisierte Gewalt gegen Männer kaum stattfinde.[31] Da jedoch alle verpflichtet seien, Nationaldienst zu leisten, käme Frauen aus gesellschaftlicher Perspektive keine andere Stellung zu. Die Gerichte kommen daher zu dem Ergebnis, dass die gewaltbetroffenen Frauen innerhalb des Nationaldienstes keine „abgrenzbare“ Gruppe darstellen würden.
In großen Teilen der deutschen Rechtsprechung wird in eklatanter Weise verkannt, dass bestehende soziale Normen, welche die Diskriminierung bzw. Gewalthandlungen gegen Frauen ermöglichen, auch ihre – von außen wahrnehmbare – Stigmatisierung manifestieren. Auch wenn Straffreiheit im Nationaldienst allgemein verbreitet ist, richten sich gravierende Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung fast ausschließlich gegen Frauen. Nicht die Wehrpflichtigkeit allein, sondern ihr Geschlecht bildet folglich den Anknüpfungspunkt für diese Gewalttaten und ihre Andersstellung im Vergleich zu den wehrpflichtigen Männern. Unter Bezugnahme auf die EuGH-Rechtsprechung und die IK hat das VG Regensburg einer eritreischen Geflüchteten, welcher die Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes droht, daher folgerichtig die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt: Die sexualisierte Gewalt, denen Frauen im Nationaldienst ausgesetzt sind, sei nicht allein Ausdruck eines „gewalttätigen Umfelds“, es handle sich vielmehr um geschlechtsspezifischer Gewalt- bzw. Verfolgungshandlungen im Sinne der IK. Einer geschlechtssensiblen Auslegung von § 3b AsylG werde nur Rechnung getragen, wenn die betroffenen Frauen auf Grund dieser Ungleichbehandlung als soziale Gruppe mit abgegrenzter Identität angesehen werden.[32]
Für die Gruppenzugehörigkeit ist auch irrelevant, ob alle (potenziellen) Gruppenmitglieder von der Gewalt bedroht oder betroffen sind, insofern es – anders als im Rahmen der sogenannten „Gruppenverfolgung“ – allein auf das individuelle Verfolgungsschicksal ankommt.[33]
Im Einklang mit der IK und den europarechtlichen Vorgaben muss die Zugehörigkeit gewaltbetroffener Frauen zu einer sozialen Gruppe unabhängig davon bejaht werden, ob die geschlechtsspezifische Gewalt Frauen insgesamt oder eine bestimmte Gruppe von Frauen betreffen. Anders als in der deutschen Rechtsanwendung vielfach angenommen, kann es folglich nicht darauf ankommen, dass eine „fest umrissene Identität“ bzw. abgrenzbare Untergruppe besteht oder weitere politische Motive für die Verfolgung vorliegen.[34]
2. Privatpersonen als taugliche Verfolgungsakteur*innen bei geschlechtsspezifischer Gewalt
Im Fall von geschlechtsspezifischer Gewalt durch Privatpersonen müssen diese als Verfolgungsakteur*innen nach § 3c AsylG eingeordnet werden, wenn der Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist, ihnen Schutz zu bieten. Es ist nicht erforderlich, dass auch der fehlende staatliche Schutz auf geschlechtsspezifischer Diskriminierung beruht. Umgekehrt reicht es aus, wenn die Verfolgung durch eine*n private*n Akteur*in nicht aus diskriminierenden Gründen wegen des Geschlechts bzw. der geschlechtlichen Identität erfolgt, die fehlende Bereitschaft bzw. Fähigkeit des Staates Schutz zu bieten, jedoch schon.[35]
In der Vergangenheit haben Verwaltungsgerichte hier fehlerhafte Anforderungen gestellt. So wurde bei häuslicher Gewalt vorausgesetzt, dass sowohl die Gewalthandlung als auch der fehlende staatliche Schutz auf geschlechtsspezifischer Diskriminierung beruhen müsse.[36] Dadurch wird die Schwelle des Verfolgungsgrundes und der Verfolgungsgefahr rechtswidrig nach oben verschoben. Darüber hinaus ist struktureller Diskriminierung immanent, dass sie nicht zwangsläufig „aktiv“ nach außen tritt. Daher ist es verfehlt, eine aktive „institutionalisierte“ Steuerung oder Tolerierung der Gewalt durch den Staat zu fordern, insofern auch allein die Abwesenheit oder Nichtverfügbarkeit bestimmter Strukturen für Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt auf diskriminierenden Gründen beruhen kann.[37]
3. Die interne Fluchtalternative nach § 3e AsylG
Auch in Fällen, in denen von einer sogenannten Vorverfolgung ausgegangen wird, werden geschlechtsspezifisch verfolgte Frauen in vielen Fällen auf die interne Fluchtalternative nach § 3e AsylG verwiesen. Danach wird die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz (§ 4 Abs. 3 i. V. m. § 3e AsylG) nicht zuerkannt, wenn den Verfolgten zugemutet werden kann, sich in einem anderen, vor Verfolgung sicheren Teil des Landes niederzulassen.
Verfolgungsfreiheit wird dabei sehr häufig in den Hauptstädten der Herkunftsländer angenommen, weil dort ein Leben in der Anonymität möglich sei und die Betroffenen sich dort dem Zugriff der Verfolger entziehen könnten. In diesem Zusammenhang wird auch auf einzelne Hilfsorganisationen oder Schutzhäuser verwiesen, ohne die tatsächlichen Zugangsmöglichkeiten und Kapazitäten zu berücksichtigen.[38]
Der Verweis auf die interne Fluchtalternative erfordert auch die Möglichkeit einer Existenzsicherung in dem verfolgungsfreien Gebiet. Gefordert wird ein Existenzminimum auf einem Niveau, welches die Schwelle der unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK nicht unterschreitet.[39] Auch aus dem Gesichtspunkt des Kindeswohls sollen keine weitergehenden Ansprüche an die Lebensbedingungen gestellt werden können.[40] In diesem Zusammenhang wird häufig darauf verwiesen, dass die Frauen über einen Schul- oder Berufsabschluss verfügen, bereits berufstätig waren oder auf die Unterstützung von Familienangehörigen bauen können.[41] Selbst, wenn der Zuzug in eine Großstadt genehmigungspflichtig und ausgesprochen schwierig ist, reicht den Gerichten oftmals bereits die theoretische Möglichkeit eines Umzugs im Herkunftsland.[42] Die tatsächlichen Möglichkeiten einer Existenzsicherung werden oftmals keiner realitätsnahen Prüfung unterzogen.[43]
Nur in vereinzelten Entscheidungen wird die Situation von Frauen, die ohne familiären Rückhalt zurückkehren und zusätzlich mit der Betreuung und Erziehung von Kindern belastet sowie durch die Gewalterfahrung traumatisiert sind, hinreichend berücksichtigt.[44]
Geschlechtsspezifische Gesichtspunkte müssen auch bei der Bewertung interner Fluchtalternativen beachtet werden und die realen Lebens- und Überlebensbedingungen von alleinstehenden oder alleinerziehenden Frauen berücksichtigt werden. Frauen dürfen zum Überleben nicht auf Sexarbeit oder Survival Sex verwiesen werden.[45] Aus diesem Grund ist § 3e AsylG um geschlechtsspezifische Aspekte und das Kindeswohl zu ergänzen.
II. Rechtspolitische Forderungen
Um die aufgezeigten Probleme zu lösen, sollte der Gesetzgeber verdeutlichen, dass auch geschlechtsspezifische Gewalt eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3a AsylG darstellen kann. Darüber hinaus bedarf es der gesetzgeberischen Klarstellung, dass die „bestimmte soziale Gruppe“ keine kumulative Erfüllung des internen und externen Merkmals voraussetzt.
1. Neufassung von § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG
„(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:
(…)
- Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen, einschließlich geschlechtsspezifischer Gewalt, oder gegen Kinder gerichtet sind.[46]
(…)“
2. Neufassung von § 3b Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylG
„4. eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
- die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten,und
- die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
ungeachtet des § 3b Abs. 1 Nr. 4 a) und b) kann als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch ungeachtet des § 3b Abs. 1 Nr. 4 a) und b) vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft
III. Weitere rechtspolitische Einordnung
1. Geschlechtssensible Auslegung der anderen Verfolgungsgründe, Art. 60 Abs. 2 IK
Auch bei der Auslegung der anderen Verfolgungsgründe gem. § 3 AsylG müssen im Sinne von Art. 60 Abs. 2 IK geschlechtsspezifische Aspekte berücksichtigt werden. Oftmals stehen geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen im Kontext einer Verfolgung wegen ethnischer Zugehörigkeit, religiöser oder politischer Anschauungen. Die einseitige Betrachtung der Verfolgung aufgrund des Geschlechts unter dem Aspekt der sozialen Gruppe kann eine bestehende Mehrfachdiskriminierung verdrängen: Die Verfolgung aufgrund mehrerer identitätsstiftender Merkmale, die sich gegenseitig beeinflussen, muss in ihrer ganzen Dimension erkannt werden.[47] Im Einklang mit den Richtlinien des UNHCR betont auch GREVIO die Bedeutung einer geschlechtssensiblen Interpretation, welche sich nicht nur auf die soziale Gruppe beschränken darf, sondern sich auf alle Verfolgungsgründe beziehen muss.[48]
2. Durchführung geschlechtssensibler Aufnahme- und Asylverfahren, Art. 60 Abs. 3 IK
Obwohl Deutschland sich völkerrechtlich verpflichtet hat, geschlechtssensible Aufnahme- und Asylverfahren zu gewährleisten, fehlt es weiterhin an verbindlichen und transparenten Leitlinien, um Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt frühzeitig zu identifizieren.[49] Die fehlende systematische Erfassung besonders vulnerabler Personen hat zur Folge, dass die notwendige medizinische Versorgung nicht gewährleistet und – mangels entsprechender rechtlicher Aufklärung und Begleitung – der erforderliche asylrechtliche Schutz oft nicht erteilt wird.[50] Darüber hinaus fehlt es an einheitlichen und flächendeckenden Gewaltschutzkonzepten, welche (sexualisierter) Gewalt in Sammelunterkünften vorbeugen und für Frauen und anderen vulnerable Personen separate Schutz- und Wohnräume vorsehen.[51]
Impressum
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Verantwortlich: Dilken Çelebi, LL.M. (Vorsitzende der Kommission für Strafrecht), Dr. Catharina Conrad (Vorsitzende der Arbeitsgruppe Geschlecht, Flucht und Asyl)
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