Auf der 95. Justizministerkonferenz am 5. Juni 2024 haben die Justizministerinnen und Justizminister der Länder den Beschluss gefasst, „dass grundlegender Reformbedarf [der volljuristischen Ausbildung] nicht besteht” (s. TOP I.4, der auf Initiative der berichterstattenden Länder Berlin und Nordrhein-Westfalen aufgenommen wurde).
Dieser Beschluss verkennt die Realität und ist eine anachronistische Feststellung, die den Ergebnissen unterschiedlicher Erhebungen und den Erkenntnissen unterschiedlicher Verbände und Initiativen widerspricht. Auch aus dem Kreis der Professorinnen und Professoren werden immer wieder Reformen angemahnt. Es entsteht deshalb der Eindruck, dass die Forderungen nach einer notwendigen Fortentwicklung der juristischen Ausbildung durch den Beschluss der Justizministerkonferenz ohne Beteiligung aller relevanten Stakeholder abgewiegelt werden sollen.
Die Folge des Beschlusses darf – insbesondere vor dem Hintergrund des auch von der Justizministerkonferenz anerkannten Problems der Nachwuchsgewinnung in kernjuristischen Arbeitsfeldern (siehe TOP 3) – nicht unterschätzt werden: Der Beschluss droht den Rückgang der Studierenden im Studiengang Rechtswissenschaften (um 20 % seit 2007) und damit den bereits jetzt offenkundigen und bis 2030 viel drastischer werdenden Fachkräftemangel zu beschleunigen.
Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses Offenen Briefes, stellen uns deshalb entschieden gegen den Beschluss der Justizministerkonferenz und fordern die Justizministerinnen und Justizminister auf, den grundlegenden Reformbedarf in der juristischen Ausbildung anzuerkennen.
Dieser wurde vielfach durch Studien belegt:
- Die iur.reform-Studie mit fast 12.000 Teilnehmenden aus den Gruppen der Studierenden, Referendarinnen und Referendare, Praktiker und Praktikerinnen und Lehrende zeigte, dass mehr als die Hälfte der Befragten mit der juristischen Ausbildung unzufrieden ist.
- Die regelmäßige Absolvent:innenbefragung des Bundesverbands rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V. (BRF) ergab zuletzt, dass zwei Drittel der Absolventinnen und Absolventen das Studium der Rechtswissenschaften nicht weiterempfehlen würden.
- Die JurSTRESS-Studie der Universität Regensburg kam zu dem Ergebnis, dass 48 % der Studierenden in der Examensvorbereitung und insbesondere während der Prüfungen von Zuständen berichteten, die eine weitergehende ärztliche Abklärung einer Angststörung rechtfertigen würden. Rund 19 % der Studierenden litten an Symptomen, die mit einer depressiven Verstimmung verbunden werden. Dies sind deutlich erhöhte Werte in Bezug auf die gleichaltrige Vergleichsgruppe (Angstgefühle bei ca. 27 %, depressive Verstimmung bei ca. 6 %).
- Eine Erhebung an der juristischen Fakultät in München und eine Untersuchung der Professoren Griebel/Schimmel lieferten Anhaltspunkte dafür, die Benotung von juristischen Aufsichtsarbeiten auf ihre Anfälligkeit für subjektive Einflüsse genauer zu untersuchen.
Wir rufen die Justizministerinnen und Justizminister dazu auf, sich für einen offenen Prozess einzusetzen, bei dem Professorinnen und Professoren, Studierende, Referendarinnen und Referendare, Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte und Volljuristinnen und Volljuristen aus Unternehmen und der Verwaltung eingebunden und beteiligt werden. Eine ernsthafte Auseinandersetzung über die Zukunft der juristischen Ausbildung kann nur gelingen, wenn alle relevanten Stakeholder in die Fortentwicklung der juristischen Ausbildung einbezogen werden. Dies kann nicht durch eine Befragung von lediglich 90 Personen ersetzt werden, wie sie dem Beschluss der Justizministerkonferenz zugrunde liegt.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Zukunft der juristischen Ausbildung erfordert auch, die Reformdiskussionen der vergangenen Wochen, Monate und Jahre zur Kenntnis zu nehmen und sich damit inhaltlich auseinanderzusetzen, so zum Beispiel mit dem Hamburger Protokoll
vom 1. Dezember 2023, in dem 16 Professorinnen und Professoren, der BRF und iur.reform vier Kernforderungen für die Reform der juristischen Ausbildung herausgearbeitet haben. Wir sind uns einig, dass es notwendig ist, zu untersuchen, welche Elemente der derzeitigen juristischen Ausbildung wichtig und hilfreich sind, um Juristinnen und Juristen auszubilden, die auch in Zukunft den Bestand des Rechtsstaates zu sichern vermögen.
Wir sind uns einig, dass wir hierzu auch offen sein müssen, Elemente zu verändern, abzuschaffen oder neu aufzunehmen. Wir sind uns einig, dass die juristische Ausbildung besser werden kann und dass sie besser werden muss, um ausreichend attraktiv für junge Menschen zu sein, die grundsätzlich bereit
sind, sich in den Dienst unseres demokratischen Rechtsstaates zu stellen. Der Beschluss der Justizministerkonferenz verkennt die Zeichen der Zeit.
Es ist Zeit für eine Reform der juristischen Ausbildung!
Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner:
Vereine und Verbände
- Bündnis zur Reform der Juristischen Ausbildung e.V. (iur.reform)
- Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V.
- Deutscher Anwaltverein e.V.
- Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
- Neue Richtervereinigung e.V.
- Deutscher Juristinnenbund e.V. (djb)
- Landesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften Baden-Württembergs e.V.
- Landesfachschaft Jura Nordrhein-Westfalen e.V.
- Dachverband Studentischer Rechtsberatungen e.V.
Forschung und Lehre
- Prof. Dr. Stephan Breidenbach, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Internationales Wirtschaftsrecht, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)
- Prof. Dr. Dr. hc. Dauner-Lieb, Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs für das Land NRW
- Prof. Dr. Ulla Gläßer, LL.M. (UC Berkeley), Professur für Mediation, Konfliktmanagement und Verfahrenslehre, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)
- Prof. Dr. Georgios Gounalakis, Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung und Medienrecht an der Universität Marburg
- Prof. Dr. Jörn Griebel, Professur für Öffentliches Recht und Internationales Wirtschaftsrecht, Universität Siegen
- Prof. Dr. Reinhard Greger, Richter am BGH a.D. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
- Prof. Dr. Michael Grünberger, LL.M. (NYU), Präsident, Bucerius Law School, Hamburg
- Prof. Dr. Axel Halfmeier, Dekan der Fakultät Staatswissenschaften, Leuphana Universität Lüneburg
- Prof. Dr. Susanne Hähnchen, Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsche sowie Europäische Rechtsgeschichte, Universität Potsdam
- Prof. Dr. Dr. Hanjo Hamann, JSM (Stanford), Qualifikationsprofessor für Bürgerliches Recht, Wirtschafts- und Immaterialgüterrecht, insbesondere Recht der Digitalisierung und Rechtslinguistik, EBS Law School
- Prof. Dr. Felix Hanschmann, Dieter Hubertus Pawlik Stiftungslehrstuhls Kritik des Rechts – Grundlagen und Praxis des demokratischen Rechtsstaates, Bucerius Law School, Hamburg
- Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Hoffmann-Riem, Richter am Bundesverfassungsgericht a.D., Affiliate Professor – Recht und Innovation, Bucerius Law School, Hamburg
- Prof. Dr. Eva Kocher, Bürgerliches Recht, Europäisches und Deutsches Arbeitsrecht, Zivilverfahrensrecht, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
- JProf. Dr. Tobias Lutzi, Universität Augsburg
- Prof. Dr. Erol Pohlreich, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
- Prof. Dr. Markus Roth, Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaften, Universität Marburg
- Prof. Dr. Niclas Schaper, Hochschulforscher und Organisationspsychologe, Wissenschaftliche Leitung der Hochschuldidaktik, Universität Paderborn
- Prof. Dr. Roland Schimmel, Frankfurt University of Applied Sciences
- Prof. Dr. Volker Steffahn, Professor für juristisches Lernen im Öffentlichen Recht, Bucerius Law School
- Prof. Dr. Alexander Thiele, Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, BSP Business & Law School Berlin
- Prof. Dr. Emanuel Towfigh, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Empirische Rechtsforschung und Rechtsökonomik, EBS Law School
Praxis
- Julina Ade, Mediationskanzlei – Rechtsanwältin, Mediatorin und Ausbilderin BM
- Robert Briske, Rechtsanwalt und Partner bei Osborne Clarke Rechtsanwälte Steuerberater, Berlin
- Daniella Domokos, Diplomjuristin, Legal Tech Expertin
- Christian Franz, LL.M., Rechtsanwalt bei Franz Partners
- Björn Frommer, Rechtsanwalt bei FROMMER LEGAL
- Sabine Gries-Redeker, Rechtsanwältin, Heinle Redeker und Partner Rechtsanwälte
- Julia Hirsch, Rechtsanwältin, Vogel & Partner, Karlsruhe
- Dr. Maximilian R. Jahn, Rechtsanwalt bei Jahn Hettler Rechtsanwälte
- Dr. Miriam Kell, Richterin am LG Berlin
- Stephan Klawitter, Rechtsanwalt bei Schwoerer & Kollegen
- Johanna Koch, LL.M. Vorsitzende Richterin am LG Berlin II
- Pia Lorenz, LL.M.oec, Chrefredakteurin beck-aktuell, Host Gerechtigkeit & Loseblatt, Mitglied der Schriftleitung NJW
- Anne-Ruth Moltmann-Willisch, LL.M., Richterin am Landgericht a.D.
- Marie Rulfs, Richterin, LG Berlin
- Dr. Christoph Smets, Stadtrechtsrat Stadt Mönchengladbach
- Christian Twardy, LL.M, Rechtsanwalt und Mediator
- Nina Lucia Twardy, Justiziarin, Berlin
- Dr. Miriam Vollmer, Rechtsanwältin, re|Rechtsanwälte, Lehrbeauftragte der Universität Bielefeld
- Tilman Winkler, Rechtsanwalt und Geschäftsführer der Rechtsanwaltskammer Freiburg
- Dr. Finn Zeidler, Rechtsanwalt