Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) bedankt sich für die Möglichkeit zur Stellungnahme zum oben genannten Referentenentwurf.
Angesichts der mittlerweile sehr weit vorgeschrittenen 7. Wahlperiode, der Landtagswahl am 1. September 2024 und der in wenigen Wochen beginnenden Sommerpause verwundern der späte Beginn der Verbändeanhörung sowie die unüblich lange Stellungnahmefrist. Es steht zu befürchten, dass das Gesetzesvorhaben zur Novellierung des Sächsischen Vergabegesetzes dem 7. Sächsischen Landtag nicht mehr vorgelegt oder dort abschließend behandelt werden wird und (erneut) der Diskontinuität unterfallen wird.
Vor diesem Hintergrund können die folgenden Ausführungen zum vorgelegten Referentenentwurf nicht nur als fachliche Einschätzungen, sondern auch als Sammlung von Anregungen für einen eventuellen weiteren Anlauf zur Novellierung des nicht mehr zeitgemäßen Sächsischen Vergabegesetzes in der nächsten Wahlperiode angesehen werden.
I. Grundsätzliches
Der djb setzt sich seit Jahrzehnten mit seiner umfassenden rechtlichen Expertise auf verschiedenen Ebenen dafür ein, dass bei vergaberechtlichen Novellierungen und Reformen der Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit umfassend mitgedacht wird.[1] Dieser Aspekt, der nicht nur die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen, sondern z. B. auch die bessere Vereinbarkeit von Familienarbeit und Berufstätigkeit für alle Unternehmensangehörigen umfasst, wird bei politischen und wirtschaftlichen Abwägungsprozessen im Bereich Vergaberecht regelmäßig vernachlässigt.
In den wenigen Fällen, in denen soziale Kriterien wie Frauenförderung, Chancengleichheit oder Entgeltgleichheit in vergaberechtlichen Regelungen normiert wurden, bleiben sie fast ohne Auswirkung auf die konkret gelebte Vergabepraxis. Dabei sollte der Staat bei seiner Marktteilnahme seiner Verantwortung zur Förderung eines gemeinwohlorientierten Wirtschaftens nachkommen. Deswegen darf bei der Transformation des Vergaberechts, sei es auf Europa-, Bundes- oder Landesebene, auch die lang überfällige und verfassungsrechtlich zwingende Förderung einer geschlechtergerechten Unternehmenskultur nicht außer Acht gelassen werden. Dabei bietet sich eine obligatorische Einbeziehung von Gleichstellungkriterien bei der öffentlichen Vergabe von Aufträgen an. Eine explizite Einbeziehung und Definition von Gleichstellungskriterien, die im Vergaberecht verankert werden, könnten gleichstellungsorientierten Unternehmen Vorteile bringen und damit zu sozialen Innovationen motivieren und diese stärken.
Zum vorliegenden Referentenentwurf im Einzelnen:
II. Geschlechtergerechte Sprache
In seiner sprachlichen Gestaltung verwendet der Entwurf leider entgegen der Vereinbarung der Koalitionspartnerinnen im Koalitionsvertrag von 2019 (Seite 105) und entgegen Ziffer I. 2. f) der Anlage 2 zur Verwaltungsvorschrift der Sächsischen Staatsregierung über den Erlass von Rechtsnormen und Verwaltungsvorschriften (VwV Normerlass, zuletzt enthalten in der Verwaltungsvorschrift vom 28. November 2023 (SächsABl. SDr. S. S 238)) ausschließlich das generische Maskulinum. Nicht nur im Interesse der gemäß der VwV Normerlass gebotenen Rechtsförmlichkeit ist eine sprachliche Überarbeitung des gesamten Entwurfs zwingend angezeigt. Dabei können die verwendeten männlichen Sprachformen sehr leicht durch substantivierte Partizipien (Singular: der/die Auftraggebende, Auftragnehmende, Bietende, Arbeitnehmende; im Plural jeweils ergänzt durch ein „n“) ersetzt werden und nicht nur Personen weiblichen, sondern jeglichen Geschlechts einbeziehen und sichtbar machen.
Im Jahr 2024 widerspricht die Verwendung des generischen Maskulinums schlicht dem in der Allgemeinen Begründung des Entwurfs erklärten Ziel eines „modernen und zeitgemäßen“ Sächsischen Vergabegesetzes. Zahlreiche sprach- und sozialwissenschaftliche Studien haben immer wieder bewiesen: Beim generischen Maskulinum werden Frauen weder automatisch mitgedacht und noch mitgemeint. Somit werden im vorliegenden Entwurf die zahlreichen sächsischen Unternehmerinnen und auch Arbeitnehmerinnen im Vergabeverfahren unsichtbar gemacht.
III. Zu § 9 – Berücksichtigung sozialer Kriterien
Die Regelung des § 9 Absatz 1 SächsVergabeG-E setzt grundsätzlich die Vereinbarung des Koalitionsvertrags (Seite 27) um, wonach „soziale Kriterien als Anforderungen berücksichtigt werden“ „können“.
1. Kann-Regelung
Den Auftraggebenden ohne jegliches verpflichtende Element oder weitere Anreize nur die Möglichkeit zu geben, soziale Kriterien im Rahmen der Wertung zu berücksichtigen, dürfte bestenfalls nur einen sehr geringfügigen Beitrag zur Stärkung von sozialen und Gleichstellungsbelangen im Vergabeverfahren leisten. Es ist davon auszugehen, dass die Regelung in der Praxis keine Wirkung entfalten wird.
Denn es stellt sich die Frage, welchen Anreiz die Auftraggebenden im ohnehin aufwändigen Vergabe- und Abwägungsverfahren haben, über die zwingenden Vergabekriterien hinausgehende, weitere Wertungskriterien zu berücksichtigen. Schlimmstenfalls führt die freiwillige Berücksichtigung dieser neuen sozialen Kriterien zu Beanstandungen des Vergabeverfahrens und Verzögerungen der Vergabe. Dieses Risiko wird jede auftraggebende Stelle vermeiden wollen, vor allem wenn es keinerlei rechtliche Veranlassung zur Berücksichtigung sozialer Kriterien gibt.
Sollten sich Auftraggebende doch dazu entscheiden, von § 9 Absatz 1 SächsVergabeG-E Gebrauch zu machen, treten die einzelnen sozialen Kriterien bzw. dahinterstehenden Belange aufgrund der gleichrangigen Benennung in Konkurrenz zueinander. Es stellt sich hier die Frage, wie in der Wertung damit umzugehen ist, wenn sich bei grundsätzlich gleichrangigen Unternehmen unterschiedliche Kriterien des Absatz 1 gegenüberstehen. Die gleichstellungspolitische Erfahrung zeigt, dass in solchen internen Rankings sozialer Belange die Belange der Frauenförderung eher das Nachsehen haben.
Zusammenfassend ist die Kann-Regelung im § 9 Absatz 1 SächsGleiG-E nicht mehr als ein Lippenbekenntnis, das keine Aussicht auf eine praktische Anwendung hat. Von einer Stärkung der genannten sozialen Belange in den Vergabeverfahren ist nicht auszugehen.
Zur Überprüfung der hier aufgestellten These regen wir an, die tatsächliche Umsetzung des § 9 SächsVergabeG-E im Rahmen der in § 14 SächsVergabeG-E vorgesehenen jährlichen Vergabeberichte und der geplanten Evaluation ab Inkrafttreten des Gesetzes statistisch zu erfassen, möglichst auch binnendifferenziert nach den einzelnen in § 9 Absatz 1 SächsVergabeG-E aufgeführten sozialen Kriterien.
2. Zu Nr. 4 und 5 – Gleichstellungsmaßnahmen
Im Koalitionsvertragwerden „Gleichstellung und Chancengleichheit“ ausdrücklich als soziale Kriterien benannt. In der konkreten Ausgestaltung der entsprechenden Ziffern 4 und 5 des § 9 Absatz 1 SächsVergabeG-E werden erfreulicherweise weitgehend die Begrifflichkeiten des am 1. Januar 2024 in Kraft getretenen Sächsischen Gleichstellungsgesetzes (SächsGleiG) übernommen. Dies spricht für das Koalitionsziel einer einheitlichen, harmonisierten Gleichstellungspolitik.
In der entsprechenden Gesetzesbegründung (S. 67 des vorliegenden Entwurfs) werden sodann konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, die dem zweiten und dritten Abschnitt des SächsGleiG entstammen. Angesichts dessen regen wir an, im Begründungstext ausdrücklich auf das Sächsische Gleichstellungsgesetz und dessen zugrundeliegende Begründung in der Landtagsdrucksache 7/13243 hinzuweisen. Das ermöglicht interessierten öffentlichen Auftraggebenden, aber auch Auftragnehmenden, leicht weitere Informationen zu möglichen Maßnahmen zur Erfüllung der in § 9 Absatz 1 Nr. 4 und 5 SächsVergabeG-E benannten Kriterien zu erhalten.
Es wird eine Ergänzung der beispielhaften Aufzählung in der Gesetzesbegründung um die folgenden konkreten Maßnahmen zur Verdeutlichung des Gesetzesziels angeregt:
Zu Nr. 4 – Förderung der gleichberechtigten beruflichen Entwicklung von Frauen und Männern im Unternehmen:
- aktive Förderung der Fortbildungsteilnahme von Frauen;
- bei gleicher Eignung einer Bewerberin und eines Bewerbers für eine Stellenbesetzung und bei bestehender Unterrepräsentation von Frauen im Bereich der zu besetzenden Stelle: bevorzugte Berücksichtigung der Bewerberin;
- regelmäßiges Gleichstellungsmonitoring im Unternehmen (Gleichstellungsplan o. ä.) mit Analyse der Geschlechterverteilung in den Funktionsebenen und Entgeltbereichen und bei den Teilzeitbeschäftigten; bei Feststellung einer Unterrepräsentation von Frauen (z. B. in der Führungsebene): Festlegung konkreter personeller, organisatorischer oder fortbildender Maßnahmen zu Schaffung eines Ausgleichs; Umsetzungskontrolle;
- geschlechterparitätische Besetzung betriebsinterner Gremien und verstärkte Entsendung von Frauen in externe Gremien bei entsprechender fachlicher Eignung.
Zu Nr. 5 – Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Pflege mit der Berufstätigkeit:
- Zurverfügungstellung der Ressourcen und Arbeitsmittel für mobile Arbeit, um die tatsächliche Nutzung der grundsätzlich eingeräumten Möglichkeit zu fördern;
- Erprobung alternativer Arbeitszeit- und Arbeitsortmodelle;
- mit Einverständnis der Beschäftigten in familienbedingter Beurlaubung regelmäßiger Kontakt zur Information über aktuelle Entwicklungen im Betrieb und über Fortbildungsmaßnahmen;
- Teilnahmemöglichkeit familienbedingt beurlaubter Beschäftigter an Fortbildungen inkl. Auslagenerstattung;
- bei Stellenbesetzungen bevorzugte Berücksichtigung von Beschäftigten mit Familien- oder Pflegeaufgaben, die aus einer familienbedingten Beurlaubung zurückkehren oder ihre familienbedingt reduzierte Arbeitszeit erhöhen möchten.
Hinsichtlich der in Nr. 5 verwendeten Begrifflichkeiten „Familie und Pflege“ regen wir an, wie im SächsGleiG die Begriffe „Familienaufgaben“ und Pflegeaufgaben“ zu verwenden. Denn es muss nicht die Familie an sich mit der Berufstätigkeit in Einklang gebracht werden, sondern die Aufgaben bzw. die (unbezahlte) Arbeit, die das Familienleben für jede einzelne Person, ganz unabhängig vom Geschlecht, mit sich bringt. Es ist aus gleichstellungspolitischer Sicht ungemein wichtig, dass die unbezahlte Arbeit, die immer noch vornehmlich Frauen in den Familien leisten, als solche gesehen und benannt wird.
3. Zu Absatz 2 – Ausnahmeregelung
Die in § 9 Absatz 2 SächsVergabeG-E enthaltene Ausnahmeregelung für kleinere Unternehmen wird ausdrücklich begrüßt. Die Größenordnung von 20 Beschäftigten entspricht der Grenze, die im SächsGleiG für die Berücksichtigung der Belange kleiner Dienststellen gezogen wurde.
Es stellt sich jedoch die Frage nach dem Ergebnis der Wertung, wenn sich der engere Kreis der infrage kommenden Bietenden zusammensetzt aus einem kleinen Unternehmen, das unter Absatz 2 fällt und kein soziales Kriterium erfüllt, einem weiteren Unternehmen gemäß Absatz 2, das freiwillig eines oder mehrere Kriterien des Absatzes 1 erfüllt sowie zwei größeren Unternehmen, die unterschiedliche Kriterien des Absatzes 1 erfüllen. Wie wird angesichts der Ausnahmeregelung des Absatz 1 das besondere soziale Engagement des zweiten kleinen Unternehmens bewertet?
4. Zu Absatz 3 und 4 i. V. m. § 2 Absatz 3 Satz 2 SächsVergabeG-E
Hinsichtlich der Vergabe von Leistungen an Inklusionsbetriebe, Werkstätten für Menschen für behinderte Menschen u. ä. enthält § 9 SächsVergabeG in Absatz 3 und 4 grundsätzlich erfreulich klare und verbindliche Regeln. Allerdings ist gemäß § 2 Absatz 3 Satz 2 SächsVergabeG-E die Anwendung dieser Regelung kommunalen Auftraggebenden freigestellt.
Hier wiederholt sich ein aus dem Sächsischen Gleichstellungsgesetz bekanntes Regelungsmuster: Von der Modernisierung gesetzlicher Regelungen und Standards und der Stärkung der damit verbundenen Belange – sei es die Gleichstellung oder die Inklusion - werden die kommunalen Verwaltungen von der Staatsverwaltung abgekoppelt.
Ähnlich wie bei der Kann-Regelung in Absatz 1 ist es fraglich, welchen Anreiz die kommunalen Auftraggebenden haben, insbesondere die Regelung des Absatzes 3 tatsächlich anzuwenden. Im Zweifel sind damit sowohl Verwaltungs- als auch finanzieller Mehraufwand verbunden und es droht eine Beanstandung des Vergabeverfahrens. Für die Belange der Inklusionsbetriebe und Werkstätten wird jedenfalls nicht der gleiche Stärkungseffekt eintreten, der sich ergeben würde, wenn auch die Kommunen unter den Voraussetzungen der Absätze 3 und 4 zur Vergabe an Inklusionsbetriebe etc. verpflichtet wären.
IV. Anregungen
Anknüpfend an die Ausführungen in der Gesetzesbegründung zu § 1 Absatz 1 Satz 1 SächsVergabeG-E (S. 49 des vorliegenden Entwurfs) erlauben wir uns weitere Anregungen zur Einbeziehung von Belangen der Geschlechtergleichstellung und Chancengerechtigkeit im Sächsischen Vergabegesetz. In der Begründung wird auf § 128 Absatz 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und die Möglichkeit zur Festlegung besonderer Ausführungsbedingungen durch die öffentlichen Auftraggebenden verwiesen. Solche Bedingungen können demnach insbesondere auch soziale und beschäftigungspolitische Belange umfassen.
Ein Blick in die europarechtliche Grundlage hierfür genügt, um zu erkennen, dass auch Maßnahmen zur Geschlechtergleichstellung oder besseren Vereinbarkeit von Familienaufgaben und Berufstätigkeit als Ausführungsbedingungen festgelegt werden können: Erwägungsgrund 98 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (RL 2014/24/EU) benennt ausdrücklich Maßnahmen zur "Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz, die verstärkte Beteiligung der Frauen am Erwerbsleben und die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben" als mögliche Bedingungen für die Auftragsausführung.
Aber auch schon beim Zuschlag können gemäß § 127 Absatz 1 Satz 4 GWB soziale Aspekte wie Geschlechtergerechtigkeit und Frauenförderung im Rahmen der Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots berücksichtigt werden. § 58 Absatz 2 Satz 2 Nr. 2 der Vergabeverordnung konkretisiert, dass insbesondere die Organisation des mit der Auftragsausführung betrauten Personals als soziales Zuschlagskriterium berücksichtigt werden kann. Es muss eine Verbindung zum Auftragsgegenstand bestehen (§ 127 Absatz 3 Satz 1 GWB), an die jedoch keine zu hohen Anforderungen gestellt werden darf. So könnten z. B. die Anzahl weiblicher Führungspersonen, das Vorhandensein spezieller Karriereprogramme für Frauen oder die Schaffung von Anreizen für männliche Beschäftigte zur verstärkten Übernahme von Familienaufgaben bei der Auftragserfüllung ein zulässiges Zuschlagskriterium sein.
Susanne Köhler
Vorsitzende des Landesverbands Sachsen
Prof. Dr. Stefanie Killinger
Vorsitzende der Kommission Verfassungsrecht, Öffentliches Recht, Gleichstellung
[1] Zuletzt in seiner Stellungnahme 23-03 vom 17.02.2023 zur öffentlichen Konsultation zur Transformation des Vergaberechts ("Vergabetransformationspaket") des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz; https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st23-03 .