Der Regierungsentwurf für eine Kindergrundsicherung ist politisch umstritten und wurde von den Verbänden durchgehend kritisch bewertet. Ob die Kindergrundsicherung beschlossen wird, ist derzeit ungewiss.
Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) unterbreitet mit konkreten Regelungen zur Kindermindestsicherung einen Alternativvorschlag. Mit diesem kann die Existenzsicherung für Kinder noch in dieser Legislaturperiode verbessert werden, ohne dass dafür eine komplexe Systemumstellung notwendig ist. Ein Kindermindestsicherungsgesetz kann ein erster Schritt für ein einfaches Sozialrecht mit einer gerechten Grundsicherung für Kinder sein.
Im Folgenden wird zuerst der Vorschlag für ein Kindermindestsicherungsgesetz sowie für weitere kurzfristige und perspektivische Maßnahmen skizziert (A.) und anschließend begründet (B.).
A. Vorschlag des djb für konkrete Regelungen zur Kindermindestsicherung
I. Kindermindestsicherungsgesetz
Der djb schlägt ein Maßnahmenbündel zur Kindermindestsicherung vor, das kurzfristig umsetzbar ist.
- Die Existenzminima für Kinder im SGB II und XII sollten spürbar erhöht werden. Bis zu einer soliden Neudefinition des Existenzminimums von Kindern ist die Anhebung auf Grundlage geänderter Verteilschlüssel – wie er im Gesetzentwurf zur Einführung einer Kindergrundsicherung (kurz GE KGS) vorgesehen ist (Artikel 14 GE KGS) – ein sinnvoller erster Schritt. Zugleich sollte der Sofortzuschlag für Kinder dauerhaft als Startchancenzuschlag beibehalten werden. Auch für den Kinderzuschlag sind diese Verbesserungen zu berücksichtigen.
- Der Sofortzuschlag für Kinder im AsylbLG sollte in einen Startchancenzuschlag umgewandelt werden, statt den Zuschlag ersatzlos zu streichen (so in Artikel 3 GE KGS).
- Die weithin unterstützte Altersstaffelung, wie sie aktuell für Kinder im SGB II und SGB XII gilt, könnte auch für Kinder im Kinderzuschlag übernommen werden (entspricht inhaltlich Artikel 1 § 11 Absatz 2 GE KGS).
- Die Leistungen für Kinder bzw. die Berücksichtigung des Kindergeldes sollten im SGB II und SGB XII so gefasst werden, dass bei Kindergelderhöhungen immer sichergestellt ist, dass diese nicht zur Absenkung der bereits festgelegten Zahlbeträge führen. Es sollte also wie beim Kinderzuschlag keine Kürzungen im SGB II/XII-Bezug wegen einer Kindergelderhöhung geben (entspricht in der Sache GE KGS, vgl. Artikel 1 § 11 Absatz 3).
- Im SGB II und im SGB XII sollte der Kindergeldübertrag abgeschafft werden. Es sollte also geregelt werden, dass das Kindergeld ausschließlich für den Bedarf der Kinder eingesetzt werden muss. Bisher wird das Kindergeld, wenn und soweit es für die Deckung des Bedarfs des jeweiligen Kindes nicht benötigt wird, für den Bedarf der Eltern herangezogen (entspricht Artikel 7 § 11 Absatz 1 GE KGS).
- Die Problematik, dass in Fällen der Kindergeldrückforderung bei gleichzeitigem Bezug von SGB II/XII das Kindergeld zurückzuzahlen ist und gleichzeitig im SGB II/XII nicht berücksichtigt wird, dass sich dementsprechend dort ein höherer Bedarf ergibt, ist durch eine spezielle Regelung zu beheben (im GE KGS bisher nicht vorgesehen).
- Volljährigen Kindern, die nicht bei ihren Eltern wohnen und für die Kindergeld gezahlt wird, könnte ein Auszahlungsanspruch eingeräumt werden, der nicht von weiteren Voraussetzungen abhängt (ähnlich Artikel 1 § 8 GE KGS).
- Regelungen zum Datenaustausch und -abruf zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren bezüglich bestimmter Daten bzw. zur Vermeidung der doppelten Einreichung bestimmter Nachweise durch die Berechtigten sollten ausgebaut werden.
- Um die Entlastungsschere zwischen steuerlichen Freibeträgen für Kinder und Kindergeld perspektivisch zu schließen, sollte gesetzlich festgeschrieben werden, dass das Kindergeld bei jeder Anhebung der Freibeträge entsprechend erhöht wird (wie Artikel 1 § 7 GE KGS). Der djb lehnt es strikt ab, die für das Jahr 2024 geplante Anhebung der Freibeträge für Kinder ohne eine Anhebung des Kindergeldes umzusetzen.
II. Weitere Maßnahmen, die kurzfristig ergriffen werden können
Die Verbesserungen der Kindermindestsicherung sollten durch weitere Maßnahmen flankiert werden:
- Es bedarf einer besseren Beratung und Unterstützung der potentiell Leistungsberechtigten bei der Beantragung der Leistungen – ganz konkret im jeweiligen Verwaltungsverfahren und durch die jeweils zuständige Behörde. Zugleich müssen die zuständigen Verwaltungen in die Lage versetzt werden, schnellstmöglich richtige Verwaltungsentscheidungen zu treffen. Für beides braucht es vor allem zusätzliches qualifiziertes und angemessen bezahltes Personal. Der Zugang zu den einzelnen Leistungen sollte zudem online einfach und in mehreren Sprachen angeboten werden.
- Auch die Beratungsinfrastruktur durch Beratungsstellen, online-Portale etc. muss verbessert und auskömmlich finanziert werden.
- Um der Nichtinanspruchnahme von Mindestsicherungsleistungen – auch infolge der Stigmatisierung – entgegenzuwirken, sollte eine große (Werbe-)Kampagne entwickelt werden. Das Motto könnte lauten: Sozialleistungen - ein gutes Recht!
- Es sollte eine breite gesellschaftliche Verständigung darauf erzielt werden, dass auch für Familien mit kleinen Einkommen gelten muss, dass sich Leistung lohnt und die derzeitigen Transferentzugsraten von zuweilen mehr als 90 oder gar 100 % konsequent zu vermeiden sind. Es sollten konkrete Reformvorschläge erarbeitet werden, die dementsprechend sicherstellen, dass sich mehr Bruttoeinkommen immer auch netto lohnt. So könnten kurzfristig z.B. die Erwerbstätigenfreibeträge im SGB II familiengerechter ausgestaltet werden, indem auch Einkommen über 1 500 Euro brutto teilweise verschont werden.
- Vorgeschlagen wird außerdem, breite Beteiligungsprozesse (z.B. einen Bürger*innenrat) zur Bedarfsbemessung und zur Neudefinition des soziokulturellen Existenzminimums von Kindern auf den Weg zu bringen, auch unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Dabei sind – altersspezifisch differenziert – sowohl sächliche Bedarfe als auch diejenigen für soziokulturelle Teilhabe einzubeziehen.
- Zudem bedarf es einer Bestimmung der Bedarfe von Trennungsfamilien. Zur angemessenen Absicherung von Kindern bei geteilter Betreuung nach Trennung ist entscheidend, dass die durch die besondere Lebenssituation erforderlichen zusätzlichen Bedarfe anerkannt werden, sodass die Absicherung des Kindes in beiden Elternhaushalten sichergestellt wird.
Für alle diese Maßnahmen sollte gezielt das für die Kindergrundsicherung in den Haushalt eingestellte Geld eingesetzt werden.
III. Perspektivische Maßnahmen: ein einfaches Sozialrecht – eine Leistung für Familien
Damit Familien wirklich besser erreicht werden, bedarf es umfassender Vereinfachungen im Leistungssystem. Eine Verbesserung des Mindestsicherungssystems für Kinder und ihre Familien geht nicht ohne Änderungsbereitschaft in allen relevanten Leistungssystemen. Es wäre sinnvoll, dass sich alle maßgeblichen Akteur*innen gemeinsam auf den Weg machen und prüfen, ob die Leistungen SGB II, Kinderzuschlag und Wohngeld langfristig zusammengefasst werden können.
Das Vereinfachungspotential ist enorm: Das Leistungssystem für (eher) einkommensschwache Familien könnte transparenter werden, Gesetzgebungszuständigkeit, Aufsicht, Verwaltungsvollzug, Gerichtsbarkeit, Finanzierung der Leistungen und des Vollzugs – vieles ließe sich zusammenfassen und Verantwortung ließe sich klar strukturieren. Statistik, Wirkungsforschung, aber vor allem die Entwicklung digitaler Angebote wären leichter zu bewerkstelligen. Familien erhielten einfacher und schneller die ihnen zustehenden Leistungen. Der Vollzugsaufwand und damit auch der Fachkräftebedarf würde sinken.
B. Begründung
I. Verbesserung der Mindestsicherung: Zur Leistungshöhe
Zentraler Maßstab für eine soziale Mindestsicherung ist ein menschenwürdiges Existenzminimum. Das gilt für Erwachsene wie für Kinder. Dieses ist das verfassungsrechtlich nicht verhandelbare Ausgangsniveau.
Sofern ein eigenes Erwerbseinkommen erzielt wird, muss dieses Einkommen grundsätzlich dazu führen, dass auch das tatsächliche verfügbare Einkommen der Eltern steigt. Dementsprechend hat sich die Koalition neben der Einführung der Kindergrundsicherung vorgenommen, das Zusammenwirken verschiedener Sozialleistungen in den Blick zu nehmen und auf der Grundlage von Reformvorschlägen unabhängiger Institute eine Reform auf den Weg zu bringen, die Grenzbelastungen von 100 Prozent und mehr ausschließt.[1] Eine im Auftrag des BMAS vorgelegte Studie bestätigt, dass sich zusätzliches Bruttoeinkommen im aktuellen System häufig nicht oder nur kaum lohnt.[2] In der Studie wird ein konkreter Änderungsvorschlag unterbreitet.[3] Er sieht u.a. vor, dass zunächst einmal die Erwerbstätigenfreibeträge im SGB II familiengerechter ausgestaltet werden, indem auch Einkommen über 1 500 Euro brutto teilweise anrechnungsfrei bleibt.[4]
Damit Eltern erwerbstätig sein und den Bedarf der Familie decken können, sind zudem ausreichende Kita- und Hortplätze sowie kostenlose Ganztagschulen als soziale Infrastrukturen zu stärken und auszubauen.
II. Verbesserung der Mindestsicherung: Zum Leistungssystem
Die aktuelle politische Diskussion zur Kindergrundsicherung wirkt wie ein Brennglas auf die Schnittstellenprobleme bei den Mindestsicherungsleistungen. Das bisherige Gesetzgebungsverfahren hat allen Beteiligten vor Augen geführt, wie schwierig das Zusammenspiel der Leistungen ist. Dabei ist schließlich auch nicht verborgen geblieben, dass die geplante Systemumstellung im vorgelegten Regierungsentwurf gerade für Kinder im SGB II und im SGB XII nicht zu einer Vereinfachung, sondern zu weiteren Erschwernissen führen würde. Der Zugang zur Grundsicherung darf aber auf keinen Fall erschwert werden. An dieser Stelle verweist der djb auf seine ausführlichen Stellungnahmen zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für einen Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Kindergrundsicherung und zur Änderung weiterer Bestimmungen und zum aktuellen Gesetzentwurf vom 13. November 2023[5].
Die Diskussionen über ein FrontOffice bzw. eine einheitliche Stelle für Kindergrundsicherung und Bürgergeld oder über den Vollzug der Kindergrundsicherung in den Jobcentern (mit umfangreichen verfassungsrechtlichen Folgefragen, insbesondere zu Art. 91e GG) zeigen zusätzlich auf, wie komplex die zu lösenden Vollzugsprobleme bei Einführung der vorgeschlagenen Kindergrundsicherung wären. Die Stimmen mehren sich, die Mindestsicherungssysteme insgesamt neu aufzustellen und Mindestsicherungsleistungen für Erwachsene und für Kinder zusammenzufassen.[6] Hierzu gilt es, Lösungsalternativen zu erarbeiten.[7] Bis dahin sollte von einer aufwändigen Systemumstellung Abstand genommen werden.
Der Gesetzesentwurf vermag die Ziele der ursprünglichen Kindergrundsicherung letztlich nicht zu realisieren. Mit diesem wird der Bezug von Leistungen für Familien nicht einfacher, sondern komplizierter. Das System wird leider auch nicht fairer, weil die Leistung für Kinder aus Familien ohne Einkommen nicht substanziell höher wird und sich zusätzliche Arbeit für einkommensarme Familien oft nicht lohnt. Arbeit und Lohn werden im Ergebnis weiterhin entwertet, wenn Familien nach Steuern, Sozialabgaben und dem (teilweisen) Entzug von Sozialleistungen kein zusätzliches Einkommen zur Verfügung bleibt.
Der djb fordert, nun umgehend konkrete Maßnahmen anzugehen. Das oben skizzierte Kindermindestsicherungsgesetz, das wichtige Verbesserungen für Kinder und Eltern enthält, könnte kurzfristig auf den Weg gebracht werden. Menschen sollten ermutigt werden, Sozialleistungen in den verschiedenen Bedarfssituationen ebenso selbstverständlich in Anspruch zu nehmen wie Steuervergünstigungen. Zugleich sollten langfristige Perspektiven für echte Vereinfachungen zu den Mindestleistungen angegangen werden.
Ursula Matthiessen-Kreuder
Präsidentin
Dr. Franziska Vollmer
Vorsitzende der Kommission Recht der sozialen Sicherung, Familienlastenausgleich
[1] Koalitionsvertrag zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN UND FDP, Mehr Fortschritt wagen, 2021, S. 77: „Wir werden eine Reform auf den Weg bringen, die Bürgergeld (ehemals Arbeitslosengeld II), Wohngeld und gegebenenfalls weitere steuerfinanzierte Sozialleistungen so aufeinander abstimmt, beziehungsweise wo möglich zusammenfasst, so dass die Transferentzugsraten die günstigsten Wirkungen hinsichtlich Beschäftigungseffekten und Arbeitsmarktpartizipation in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erzielen, die Zuverdienstmöglichkeiten verbessert und Grenzbelastungen von 100 und mehr Prozent ausgeschlossen werden. Zur Entwicklung des Reformmodells wird eine unabhängige Kommission aus mehreren hierfür qualifizierten unabhängigen Instituten beauftragt.“
[2] Forschungsbericht vom ifo Institut und vom ZEW, Zur Reform der Transferentzugsraten und Verbesserungen der Erwerbsanreize – Kurzversion, Dezember 2023.
[3] Forschungsbericht vom ifo Institut und vom ZEW, Zur Reform der Transferentzugsraten und Verbesserungen der Erwerbsanreize – Kurzversion, Dezember 2023, S. 23ff., 44.
[4] Parameter des Reformansatzes (siehe S. 23 der Studie):
• Die ersten 100 Euro Erwerbseinkommen bleiben anrechnungsfrei, unterliegen also einer Transferentzugsrate von Null.
• Darüber hinaus gehendes Einkommen unterliegt bis zur Verdienstgrenze für geringfügig entlohnte Beschäftigung bzw. Minijobs einer Transferentzugsrate von 80 %.
• Einkommen von über 520 Euro monatlich unterliegen bis zu einer Verdienstgrenze von 2.000 Euro einer Transferentzugsrate 70 %.
• Einkommen jenseits 2.000 Euro monatlich unterliegen einer Transferentzugsrate von 65 %.
[5] Die beiden djb-Stellungnahmen zur Einführung einer Kindergrundsicherung sind hier abrufbar: https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st23-32; www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st23-27.
[6] Bruckmeier, Kerstin/Wiemers, Jürgen, Neuregelung der Hinzuverdienstmöglichkeiten für Transferbeziehende: keine leichte Aufgabe, in: Wirtschaftsdienst (2022), S. 90 ff.; Wissenschaftlicher Beirat beim BMF, Reform der Grundsicherung, Stellungnahme 05/2023; Peichl, Andreas, Interview vom 6. Januar 2024, Chaos bei Bürgergeld und Sozialleistungen: „Es blickt wirklich niemand mehr durch“ (https://www.tagesspiegel.de/politik/chaos-bei-burgergeld-und-sozialleistungen-es-hat-wirklich-niemand-mehr-den-durchblick-11007127.html); Schlegel, Rainer, Interview in der FAZ vom 27. Februar 2024, S. 16f.
[7] Siehe auch Forschungsbericht vom ifo Institut und vom ZEW, Zur Reform der Transferentzugsraten und Verbesserungen der Erwerbsanreize – Kurzversion, Dezember 2023, S. 44.