Stellungnahme: 23-32


zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung einer Kindergrundsicherung

Stellungnahme vom

I. Vorbemerkung

Anlässlich der Anhörung zur Kindergrundsicherung im Rahmen der Sitzung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 13. November 2023 nimmt der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) zum Vorhaben der Bundesregierung, eine Kindergrundsicherung einzuführen, erneut Stellung (zur ausführlicheren Kritik wird auf die Stellungnahme zum Referentenentwurf vom 6. September 2023 verwiesen[1]).

II. Elf Anliegen, die mit dem Gesetzentwurf (bisher) nicht erreicht werden

Der djb teilt grundsätzlich die Anliegen, die mit einer Kindergrundsicherung verfolgt werden, sieht jedoch im Ergebnis kritisch, die Leistungen für Kinder – wie vorgeschlagen – begrifflich zu bündeln, Familien im Bürgergeldbezug praktisch eine weitere Leistung zu gewähren und damit insgesamt weder systematische Vereinfachungen noch zielgerichtete Leistungsverbesserungen für Kinder und ihre Familien vorzusehen. Der Gesetzentwurf bedarf jedenfalls grundlegender Änderungen, um als erster Schritt zur Vermeidung von Kinderarmut gelten zu können:

1. Höhere Leistungen für Kinder

Die geplante Kindergrundsicherung wird dem Anliegen, Kinder aus einkommensschwachen Familien besser sozial abzusichern, nicht gerecht. Insbesondere ist keine Anhebung des Leistungsniveaus für Kinder vorgesehen. Das Existenzminimum für Kinder muss realitätsgerecht und daher neu bestimmt werden. Die aktuellen Regelsätze sind zu niedrig. Mit den derzeitigen – kleingerechneten – Regelbedarfen kann Kinderarmut nicht wirksam begegnet werden. So werden im Statistikmodell etwa Ausgaben für den Weihnachtsbaum als nicht existenzsicherungsrelevant herausgerechnet. Um den Koalitionsvertrag umzusetzen und Kinderarmut entgegenzuwirken, genügt es nicht, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, die Verteilschlüssel zu ändern. Zu niedrige Regelbedarfe und knapp bemessene Wohnbedarfe führen auch zu unzureichenden Ansprüchen im Unterhaltsrecht (insbesondere beim Mindestunterhalt) und im Unterhaltsvorschuss, da die beiden Regelungsbereiche auf das sozialrechtliche Existenzminimum Bezug nehmen. Die Leistungen für Bildung und Teilhabe müssen ebenfalls angehoben und verbessert werden. Solange die Regelsätze und die Leistungen für Bildung und Teilhabe nicht neu bestimmt worden sind, bedarf es des Sofortzuschlags. In jedem Fall sind die künftigen Beträge regelmäßig an die Inflation anzupassen. Darüber hinaus sollten auch Jugendliche im Alter zwischen 18 und 25 Jahren mindestens genauso hohe Leistungen bekommen wie Jugendliche bis 18 Jahre. Dies ist bisher im SGB II nicht gewährleistet und soll nach dem Gesetzentwurf für den Kinderzusatzbetrag übernommen werden.

Der djb mahnt an, existenzsichernde Leistungen für Kinder entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts realitätsgerecht zu bestimmen, den kinderspezifischen Bedarfen gerecht zu werden und eine soziale, kulturelle und politische Teilhabe zu ermöglichen. Chancengleichheit erfordert armutsfeste Leistungen, die Benachteiligungen für Kinder aus einkommensarmen Familien ausgleichen.

Mittelbar sind das Thema Kindergrundsicherung bzw. auskömmliche Leistungen für Kinder auch aus gleichstellungsrechtlicher Sicht höchst relevant. Nach einer Trennung der Eltern leben Kinder in überwältigender Vielzahl in den Haushalten ihrer alleinerziehenden Mütter. Statistisch nachweisbar sind alleinerziehende Frauen und ihre Kinder besonders von Armut bedroht, nicht zuletzt, weil sie infolge der nach wie vor defizitären Versorgung mit Kinderbetreuungsplätzen nicht Vollzeit berufstätig sein können. Diese Perspektive strukturell benachteiligter Mütter ist auch beim Thema Kindergrundsicherung nicht aus dem Blick zu verlieren.

2. Einfacher(er) Zugang zu den Leistungen

Der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht eine komplizierte und teure Verwaltungsreform zulasten von Familien vor. Für Familien, die bisher Grundsicherungsleistungen nach SGB II/XII beziehen, wird die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen erschwert, weil nun zwei verschiedene Behörden für Grundsicherungsleistungen einer Familie zuständig sein sollen, getrennt nach Leistungen für Eltern (Jobcenter oder Sozialamt) und für Kinder (Familienkasse/Familienservice). Eltern, die bisher nur mit dem Jobcenter oder dem Sozialamt Kontakt hatten, wären nach der Reform also mit zwei wiederkehrenden Verwaltungsvorgängen und zwei Verwaltungen konfrontiert, die Leistungen prüfen müssen, die vom gleichen Sachverhalt (insbesondere Einkommen und Wohnkosten) und den gleichen Sachverhaltsänderungen abhängen. Auch der zusätzliche Gang zur Kommune bleibt für viele Familien Realität, wenn es um individuelle Bildungs- und Teilhabeleistungen (Schülerbeförderung, Klassenfahrten, Mittagsverpflegung etc.) geht.

Da der Bewilligungszeitraum für den Kinderzusatzbetrag 6 Monate betragen soll, kommt es zu einer Unterdeckung kindlicher Bedarfe in dem Fall, dass der bewilligte Betrag aufgrund von tatsächlichen Änderungen im Bewilligungszeitraum (zum Beispiel Einkommensminderungen oder gestiegene Wohnkosten) nicht ausreicht. Um dies zu vermeiden, sollen ergänzend Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII bezogen werden können. Diese Regelung ist den bisherigen Regelungen zum Kinderzuschlag nachgebildet und soll zukünftig für alle gelten, die den Kinderzusatzbetrag beziehen. Schwankende Einkommen sowie gestiegene Wohn- oder Energiekosten sind alltägliche Phänomene. Damit werden viele Familien immer wieder gezwungen sein, trotz des Kinderzusatzbetrages ergänzende Unterstützung beim Jobcenter in Anspruch zu nehmen. Für Familien, die bisher alle Leistungen vom Jobcenter erhielten, wird es also bürokratisch aufwändiger. Folgeprobleme wegen unterschiedlicher Leistungszeiträume, Anrechnungs- und Rückgriffsregeln sind vorprogrammiert.

Der djb wendet sich gegen diese strukturelle Änderung, weil nicht ersichtlich ist, dass es für die Kinder so zu einer Vereinfachung kommt. Im Gegenteil dürften für die Familien damit deutlich höhere bürokratische Aufwände verbunden sein. Während bisher vor allem beim Kinderzuschlag davon ausgegangen wird, dass nur 30 oder 35 % der Berechtigten den Anspruch geltend machen, ist zu befürchten, dass sich künftig auch bei noch niedrigeren Einkommen, also in Familien, die bisher SGB II oder XII beziehen, die Inanspruchnahmequote verschlechtert.

Dass sich der bürokratische Aufwand stark erhöht, macht der Gesetzentwurf deutlich. Es wird mit enormen zusätzlichen Verwaltungskosten bei der Familienkasse (neuerdings als Familienservice bezeichnet) gerechnet; Einsparpotential bei den Jobcentern wird dagegen nicht gesehen. Es ist nicht ersichtlich, wie die Umorganisation und die Fachkräftegewinnung überzeugend gelingen kann; eine zeitnahe Umsetzung ist auch aus Sicht der Bundesagentur nicht möglich. Ein Antrags- und Bewilligungsstau bei Einführung der Kindergrundsicherung muss unbedingt vermieden werden. Der djb lehnt diese Verwaltungsreform daher entschieden ab.

Im Ergebnis wäre es für die Kinder und ihre Familien besser, die bereits existierenden Leistungen in den bestehenden Systemen zu erhöhen und sich darauf zu fokussieren, die Zugänglichkeit im bestehenden System zu verbessern. Perspektivisch sollte das Leistungsrecht für Kinder und Familien insgesamt grundlegend vereinfacht werden.

3. Entstigmatisierung braucht mehr als begriffliche Änderungen

Durch die (nur) begriffliche Zusammenfassung der Leistungen als Kindergrundsicherung ist für Kinder nichts gewonnen.

Es ist schon fraglich, ob die begriffliche Bündelung der drei rechtlich völlig unterschiedlichen Leistungen Kindergeld (neu Kindergarantiebetrag), Kinderzuschlag (neu Kinderzusatzbetrag) und Bildung und Teilhabe mit dem Begriff der Kindergrundsicherung zu mehr Klarheit beiträgt. Denn es bleiben unterschiedliche Verantwortlichkeiten (sowohl innerhalb des Bundes als auch zwischen Bund/Ländern/Kommunen).

Zudem besteht die Sorge, dass allein durch die Umbenennung große Verwaltungsaufwände entstehen und eine Vielzahl von rechtlichen Folgefragen aufgeworfen wird.

Wesentlich wichtiger ist die Haltung gegenüber Familien, die von Einkommensarmut betroffen sind. Sie dürfen nicht gespalten werden in Kinder 1. Klasse und Kinder 2. Klasse in Abhängigkeit von der sozialen Stellung, der Erwerbstätigkeit oder dem aufenthaltsrechtlichen Status der Eltern. Es sollte daher auch nicht differenziert werden nach Kindern, denen „gute“ Leistungen zustehen, und Kinder, die am „untersten Ende der sozialen Leiter“ stehen, da dies wiederum zur Stigmatisierung bestimmter Kinder beiträgt. Viele abwertende Äußerungen in der politischen Debatte der letzten Monate haben das Anliegen der neu bezeichneten Leistung schon im Vorhinein konterkariert.

Der djb im Hinblick auf das Ziel, Stigmatisierung zu vermeiden, auch ab, dass der Bezug der Kindergrundsicherung ausgeschlossen sein soll, wenn zumutbare Anstrengungen unterlassen wurden, unterhaltssichernde Ansprüche des Kindes geltend zu machen. Er sieht es auch äußerst kritisch, dass die Prüfung der Zumutbarkeit im konkreten Einzelfall der Familienkasse überantwortet wird. Nimmt man den existenzsichernden Charakter der Kindergrundsicherung ernst, braucht es ein klares Bekenntnis, dass Kinder unabhängig vom Verhalten der Eltern einen Anspruch auf diese Leistung haben.

4. Digitalisierungsbemühungen auf den Leistungsbezug konzentrieren

Ansätze zu einer weitergehenden Digitalisierung der Leistung sind gegeben. Es fehlt allerdings an einem Gesamtkonzept zur Digitalisierung, da ohne große weitere Schritte zur Digitalisierung insbesondere beim SGB II die Probleme an der Schnittstelle zwischen Kindergrundsicherung und SGB II ungelöst bleiben.

Der Kindergrundsicherungscheck kann dies nicht kompensieren. Er erscheint unausgereift und nicht zielführend. Er entfaltet wegen der Kann-Formulierung allenfalls bedingt Wirkungen. Der Verwaltungsaufwand für die Implementierung sollte stattdessen unbedingt in die Verbesserung des eigentlichen Vollzugs investiert werden: zeitnahe Beratung, zügige Bescheidung, gute Informationen, gute Online-Angebote. Der djb regt an, seine Einführung mangels jeglicher Eilbedürftigkeit ggf. in einem gesonderten Verfahren zu diskutieren, jetzt aber klare Prioritäten zu setzen und nur über die Gestaltung der eigentlichen Leistungen zu entscheiden.

5. Sicherung des Existenzminimums für alle Kinder, keine Ausgrenzung nach dem Aufenthaltsstatus

Der Gesetzentwurf übernimmt die sog. Ausländerklausel für Familienleistungen, nach der Kinder aufgrund bestimmter Kriterien, u.a. des Aufenthaltsstatus und der Aufenthaltsdauer, vom Kindergeld (im Gesetzentwurf in „Kindergarantiebetrag“ umbenannt) und vom Kinderzusatzbetrag ausgeschlossen werden. Der Leistungsausschluss betrifft alle Kinder im Leistungsbezug nach AsylbLG, aber auch weitere Kinder mit humanitären Aufenthaltstiteln oder im Prüfverfahren (Fiktionsbescheinigung). Diesen Kindern wird nach dem Gesetzentwurf auch der derzeitige Sofortzuschlag von 20 Euro monatlich gestrichen.

Nach Auffassung des djb sind das Kindergeld und der Kinderzusatzbetrag allen Kindern, die in Deutschland leben, zu gewähren, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unabhängig von ihrer Migrationsgeschichte.

Es ist unter Berücksichtigung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht zu rechtfertigen, dass ein Betrag für das Existenzminimum festgelegt wird und dieses Minimum dann für Kinder mit bestimmtem Aufenthaltsstatus nochmal unterschritten wird. Es darf nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kein unterschiedliches Maß an Menschenwürde und damit auch keine zwei verschieden errechneten Existenzminima geben. Leistungseinschränkungen für Kinder ausschließlich wegen des Aufenthaltsstatus verbieten zudem die Diskriminierungsverbote, unter anderem des Art. 3 Abs. 3 GG und der Art. 2 i.V.m. Art. 26, 27 der UN-Kinderrechtskonvention.

Den Ausschluss der betroffenen ausländischen Kinder von der Kindergrundsicherung lehnt der djb mit Vehemenz ab.

6. Unterhaltsvorschuss nicht antasten, Rückgriffsdschungel vermeiden

Der Gesetzentwurf sieht eine Einschränkung des Anspruchs auf Unterhaltsvorschuss ab Vollendung des 7. Lebensjahres (anstatt wie bisher ab Vollendung des 12. Lebensjahres) vor. Der djb lehnt jegliche Einschränkungen beim Unterhaltsvorschuss und damit auch beim Unterhaltsrückgriff ab. Mit den vorgelegten Änderungsvorschlägen werden die Erfolge der Unterhaltsvorschussreform aus dem Jahr 2017 infrage gestellt.

Der djb lehnt konkret ab, dass Kinder bereits ab Vollendung des 7. Lebensjahres einen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nur haben sollen, wenn der alleinerziehende Elternteil ein Mindesteinkommen von 600 Euro im Monat erzielt. Alleinerziehende brauchen solche Regelungen unter dem Deckmantel von Erwerbsanreizen nicht. Damit Erwerbstätigkeit für Alleinerziehende gelingt, müssen angemessene Voraussetzungen geschaffen werden. Sie sind in besonderer Weise auf eine Betreuungsinfrastruktur angewiesen.

Außerdem muss die besondere Bedarfslage von Alleinerziehenden nicht nur im SGB II (Mehrbedarfe für Alleinerziehende) und durch Freibeträge in der Einkommensteuer (Entlastungsbetrag für Alleinerziehende) berücksichtigt werden, sondern es sollte über eine Entlastung gerade auch von Alleinerziehenden mit geringen Einkommen nachgedacht werden (zum Beispiel in Form einer Steuergutschrift).

Denn wesentlich ist für Alleinerziehende wie für alle anderen Familien auch, dass sich ihre Erwerbstätigkeit spürbar lohnt, also von zusätzlichem Brutto auch tatsächlich zusätzlich Einkommen zur Verfügung steht.

Um eine dauerhafte und verlässliche Unterstützung von Alleinerziehenden bei der Geltendmachung des Unterhalts durch das Jugendamt zu gewährleisten, sollte auch durchgehend ein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss gewährt werden. Der Unterhaltsvorschuss hat sich in der Praxis als einfache und effektive Leistung bewährt. Ein Anspruch auf den Kinderzusatzbetrag ist für Kinder nach Trennung keine gleichwertige Alternative.

Dies gilt auch, nachdem nun im Rahmen der Kindergrundsicherung – neben dem Rückgriff bei den Unterhaltsschuldner*innen durch das Jugendamt wegen des Unterhaltsvorschusses – ein weiterer Rückgriff wegen der Kindergrundsicherung durch die Familienkasse vorgesehen wird. Statt eines möglichst einheitlichen Rückgriffs nach dem Unterhaltsvorschussgesetz entsteht neben dem viel kritisierten „Leistungsdschungel“ (bestehend aus SGB II/XII, Unterhaltsvorschuss, Wohngeld, Kinderzuschlag und nun Kindergrundsicherung) so auch ein Rückgriffsdschungel (parallel oder zeitlich nacheinander kann es zur Geltendmachung eines Kindesunterhaltsanspruchs durch den anderen Elternteil, das Jugendamt, das Jobcenter und nunmehr auch durch die Familienkasse kommen).

Schließlich trifft die Einschränkung des Unterhaltsvorschusses für Kinder ab 7 Jahren eine Vielzahl von Patchwork-Familien und führt zu erheblichen Schlechterstellungen. Schon bisher entfällt der Unterhaltsvorschuss, wenn der alleinerziehende Elternteil eine*n neue*n Partner*in heiratet. Bei unverheirateten Paaren steht Unterhaltsvorschuss dem Elternteil, der ein Kind aus einer früheren Beziehung zu, unabhängig davon, ob er bzw. sie selbst Einkommen erzielt oder ob der neue Partner mit seinem Einkommen für den übrigen Bedarf der gesamten Patchwork-Familie aufkommt. Entfällt aber nun der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss dann, wenn der alleinerziehende Elternteil die 600 Euro-Grenze nicht erreicht, muss der erwerbstätige Elternteil auch in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft für den Unterhalt des Kindes der Partner*in vollständig aufkommen, wenn das Kind keinen Unterhalt erhält. Diese Schlechterstellungen trägt der djb nicht mit. Vielmehr warnt er ausdrücklich vor den massiven Folgen für die betroffenen Familien.

7. Geteilte Betreuung so absichern, dass in beiden Haushalten der Bedarf des Kindes gedeckt werden kann

Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen, nach denen der Kinderzusatzbetrag für Kinder, die nach der Trennung zeitweilig bei der Mutter und zeitweilig beim Vater betreut werden (temporäre Bedarfsgemeinschaft), anteilig aufgeteilt werden soll, sind unausgegoren. Wie schon mehrfach vom djb gefordert[2], darf es in den Grundsicherungsleistungen nicht zu tageweisen Quotelungen der bisherigen Leistungen kommen. Vielmehr müssen den zusätzlichen Bedarfen von Kindern, die in zwei Haushalten leben („Wechselmehrbedarf“), und des umgangsberechtigten Elternteils („Umgangsmehrbedarf“) Rechnung getragen werden (z.B. zweites Kinderzimmer und Gegenstände des täglichen Bedarfs).

Teilen sich Eltern nach Trennung oder Scheidung die Betreuung, lebt das Kind also in zwei Haushalten, entstehen zusätzliche Bedarfe. Den zusätzlichen Aufwänden in dem weiteren Haushalt stehen offensichtlich in dem Haushalt, in dem das Kind seinen Lebensmittelpunkt hat, nicht in gleicher Höhe Einsparungen gegenüber. Nichts anderes gilt, wenn das Kind in beiden Haushalten gleich viel Zeit verbringt.

Die Koalition ist angetreten, für Fälle der partnerschaftlichen Betreuung nach Trennung bessere Regelungen im Sozial- und Steuerrecht, aber auch im Unterhaltsrecht, zu finden, ohne das Existenzminimum des Kindes zu gefährden. Mehrbelastungen, so hieß es, sollen berücksichtigt werden.

Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen würden regelmäßig in beiden elterlichen Haushalten zu so geringen Leistungen führen, dass die Eltern beide neben der Kindergrundsicherung von der Familienkasse ergänzend SGB II-Leistungen vom Jobcenter in Anspruch nehmen müssten. Gegebenenfalls steht einem Elternteil auch Unterhaltsvorschuss zu. Für das Kind bestünden somit bis zu fünf von den beiden Eltern geltend zumachende Ansprüche, damit das Existenzminimum des Kindes gedeckt ist. Das ist aus Sicht des djb inakzeptabel.

8. Gleichstellungspolitische Aspekte ernst nehmen

Nach einer Scheidung oder Trennung, so schreibt es die Bundesregierung im Gesetzentwurf zur Einführung der Kindergrundsicherung, leben die Kinder meistens bei der Mutter – mit erheblichen ökonomischen Folgen. Frauen leisten hier unbezahlte Care-Arbeit, sie verdienen bei Erwerbstätigkeit im Durchschnitt weniger als Männer und viele Alleinerziehende sind in Teilzeit tätig. Damit setzt sich oft die einvernehmlich gewählte Arbeitsteilung während der Ehe fort, die zum Beispiel das Steuerrecht mit dem Ehegattensplitting nach wie vor fördert.

Das Gebot, auf die Gleichstellung von Männern und Frauen hinzuwirken, gebietet daher, Kinder gut abzusichern, auch damit Zeit für Care-Arbeit bleibt. Der djb mahnt generell auskömmliche Leistungen für Kinder an, die von Einkommensarmut betroffen sind. Eine Kindergrundsicherung, die den Aufwand für die Verwaltung und eine Vielzahl von Familien erheblich erhöht, zugleich aber die Leistungen nicht systematisch verbessert, verfehlt ihr Ziel.

Zwar erhalten Alleinerziehende, die überdurchschnittlich häufig von Armut bedroht sind, mit der Kindergrundsicherung in bestimmten Fällen eine bessere Unterstützung. Denn zukünftig wird Unterhaltseinkommen von Kindern bei Alleinerziehenden im SGB II nur noch zu 45 Prozent statt wie zuvor vollumfänglich auf die SGB II- Leistungen für das Kind angerechnet.

Aber der Preis ist zu hoch: Bei hohem Unterhalt greift bei der Anrechnungsquote eine Staffelung zwischen 45 und 75 Prozent. Hier kommt es aller Voraussicht nach für einen Teil der Familien, die bisher Kinderzuschlag und Wohngeld beziehen, zu Schlechterstellungen bei Bezug des Unterhalts, weil dieser nicht nur den Kinderzusatzbetrag mindert, sondern bei parallelem Bezug von Wohngeld auch das Wohngeld; so addieren sich die Leistungsminderungen auf über 100 Prozent.

Vor allem ist die Anrechnung zu nur 45 Prozent offensichtlich auch der Anlass, den Anspruch auf Unterhaltsvorschuss für die Altersgruppe von 7 bis 12 Jahre einzuschränken, da sich so die Zahl der Fälle, in denen neben dem Unterhaltsvorschuss und dem Kinderzusatzbetrag für die Eltern SGB II bezogen wird, reduziert.

Der djb teilt nach alledem die Einschätzung, dass mit dem Entwurf auf die Beseitigung bestehender Nachteile für Frauen hingewirkt wird, ausdrücklich nicht.

9. Lohnabstandsgebot realisieren und auch für Familien mit niedrigen Einkommen faire Leistungen gewähren

Eine echte Kindergrundsicherung, die Kinder aus der Armut holt und faire Startchancen schafft, ist am politischen Unwillen gescheitert, diese solide zu finanzieren. In der politischen Debatte wird zum Teil unzutreffend auf das Lohnabstandsgebot Bezug genommen, um ein niedriges Leistungsniveau der Kindergrundsicherung zu rechtfertigen.

Nach Auffassung des djb kann der Bezug auf das Lohnabstandsgebot ein zu niedriges Mindestsicherungsniveau allerdings nicht begründen. Das Existenzminimum steht jedem Menschen qua Menschsein aufgrund der Menschenwürde zu. Das Lohnabstandsgebot kann nur ein Argument dafür sein, dass sich Arbeit tatsächlich lohnen soll – es also gute Löhne und keine zu starke Belastung der Erwerbseinkommen gibt. Rechtlich wird dies durch einen angemessenen Mindestlohn (z.B. durch die Umsetzung der EU-Mindestlohnrichtlinie), durch die Stärkung der Tarifbindung sowie eine angemessene Belastung durch Steuern, Sozialversicherungsbeiträge und vor allem auch durch faire Transferentzugsraten (also die Minderung von Sozialleistungen wie Bürgergeld, Kinderzuschlag oder Wohngeld wegen Erwerbseinkommens) gewährleistet. Es braucht also eine gute Abstimmung von Erwerbseinkommen und sozialer Sicherung, sodass sich Erwerbstätigkeit immer lohnt, also mehr Brutto auch für Familien tatsächlich mehr verfügbares Einkommen bedeutet. Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen haben bisher häufig in der Summe Abzüge von um die 100 Prozent. Das Zusammenwirken von Steuern und Sozialabgaben einerseits und den zusätzlichen Transferentzügen andererseits wird hier offensichtlich nicht ausreichend beachtet.

Auch Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen haben den Anspruch, dass von jedem zusätzlichen Euro brutto – wie im Koalitionsvertrag versprochen – durchgehend tatsächlich etwas übrigbleibt. Das heißt, die Abzüge durch Steuern, Sozialversicherungsbeiträge und Transferentzüge dürften 80 Prozent (allenfalls 90 Prozent) eigentlich nicht übersteigen.

Beim Bürgergeld und beim geplanten Kinderzusatzbetrag sollte geprüft werden, ob nicht schon die Erwerbstätigenfreibeträge fairer gestaltet werden müssten. Bisher verschonen die Erwerbstätigenfreibeträge zwar Teile des Einkommens bis zu 1 500 Euro brutto. Da Familien aber ein viel höheres Einkommen benötigen, um ihren Bedarf zu decken, müssten sie eigentlich auch höhere Freibeträge haben. Alternativ muss sichergestellt werden, dass der Transferentzug bei Wohngeld und beim Kinderzusatzbetrag zusammen mit den Steuern und Sozialabgaben nicht leistungshemmend ist. Damit Eltern erwerbstätig sein und den Bedarf der Familie decken können, sind zudem ausreichende Kita-, Kindergarten- und Hortplätze als soziale Infrastrukturen erforderlich.

10. Kindergrundsicherung auskömmlich finanzieren

Die unzureichende Finanzierung der Kindergrundsicherung und die daraus resultierenden niedrigen Leistungen für den Kinderzusatzbetrag wurden von Sozialverbänden und Wissenschaftler*innen bereits mit deutlichen Worten kritisiert. Die umstrittene Sparpolitik der Bundesregierung, die bereits die Kürzungen in den Bereichen Bildung, Soziales, Familien und Gleichstellung für den Haushalt 2024 begründen sollte, wird nun bei der Kindergrundsicherung fortgeführt.

Der djb ist jedoch überzeugt, dass Investitionen in die Zukunft und gerade in Kinder wichtig und durch einen modernen Steuerstaat auch finanzierbar sind. Sozialpolitisch werden derzeit verschiedene Maßnahmen diskutiert, wie beispielsweise eine Abschaffung bzw. Begrenzung des Ehegattensplittings, eine Anhebung der Spitzensteuersätze in der Einkommensteuer, eine progressive Besteuerung von Kapitalerträgen, eine Wiederbelebung der Vermögensteuer, gerechtere Erbschaft- und Schenkungsteuern bei großen Vermögen und die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen.

Eine aktuelle Studie im Auftrag der Diakonie Deutschland[3] zeigt zudem auf, dass Kinderarmut mit hohen Folgekosten verbunden ist und eine gute Absicherung daher eine nachhaltige Investition in die Zukunft und Wirtschaft wäre. Für faire Startchancen braucht es eine armutsfeste Grundsicherung für Kinder und darüber hinaus auch eine gut finanzierte soziale Infrastruktur, wie z.B. Kitas mit guten Betreuungsschlüsseln, Lehrmittelfreiheit, kostenlose Schulmittagessen und Freizeitangebote.

11. Vermutung der Bedarfsdeckung bei Kindern

Der djb wendet sich entschieden gegen die vorgeschlagene gesetzliche Vermutung der Bedarfsdeckung bei Kindern. Stellen die Eltern einen Antrag auf SGB II für sich und ihre Kinder, erscheint es unter Berücksichtigung der Interessen der Kinder unangemessen zu vermuten, dass sie neben dem Kinderzusatzbetrag keinen ergänzenden SGB II-Anspruch haben. Im Hinblick darauf, dass für die Bewilligung von Kinderzusatzbetrag und SGB II unterschiedliche Zeiträume maßgeblich sind, sollte bei jedem Antrag auf SGB II für ein Kind – ob separat oder nicht, im Zweifel nach vorheriger Beratung – auch eine Prüfung des Anspruchs erfolgen.

Für Familien ist es außerdem überfordernd, dass sie für vorläufige Leistungen eine Bescheinigung der Familienkasse vorlegen müssen mit dem Inhalt, dass der Kinderzusatzbetrag beantragt worden ist, eine abschließende Bearbeitung des Antrages im Monat des Antrages oder dem darauffolgenden Monat nicht möglich ist und eine Vorschusszahlung nach § 42 SGB I nicht möglich ist. Gerade wenn Familien dringend auf Geld angewiesen sind, müssen sie SGB II-Leistungen beantragen. Wenn also die Familienkasse die Kindergrundsicherung nicht ausreichend schnell bearbeitet, dann ist es lebensfern anzunehmen, dass die Familienkasse dies in jedem Fall ausreichend schnell bescheinigen können wird. Hier besteht die große Gefahr, dass für die Kinder vorübergehend Bedarfslücken entstehen. Für den djb erscheint es inakzeptabel, den Nachweis einer verzögerten Leistungsbearbeitung der zuständigen Behörde in die Verantwortung der Eltern zu verschieben.

Statt eines Kindergrundsicherungschecks auf Basis von Daten, die für die Prüfung der Ansprüche im Ergebnis nicht maßgeblich sind, sollten Eltern und Kinder einen fortwährenden Anspruch auf umfassende Beratung haben.

III. Schlussbemerkung

Aus Sicht des djb ist es das zentrale Ziel einer Kindergrundsicherung, dass fair gestaltete Leistungen auch tatsächlich bei den Kindern ankommen. Dafür muss es den Eltern leicht gemacht werden, die Ansprüche für die Kinder und die gesamte Familie geltend zu machen.

Notwendig ist daher

  • eine echte Vereinfachung der Leistungen,
  • die aktive Information zu den Leistungen und die Ermutigung der Eltern, diese in Anspruch zu nehmen, und
  • die aktive Unterstützung der Eltern im Rahmen der konkreten Verwaltungsverfahren, die ihnen und ihren Kindern zustehenden Leistungen immer wieder zu beantragen.

Für den djb erscheint es zielführender und effektiver, die für die Umorganisation der Verwaltung im Rahmen der Einführung der Kindergrundsicherung vorgesehenen Mittel in die bestehenden Systeme zu investieren und dadurch Hürden abzubauen, Verfahren zu optimieren und Familien konkret bei der Beantragung der Leistungen zu unterstützen.

Aus Sicht des djb sollten schließlich jenseits dieses Gesetzgebungsverfahrens Lösungsmöglichkeiten gesucht werden, wie Familien, gerade auch Alleinerziehenden, der Zugang zu den zustehenden Leistungen erleichtert werden kann. Nach dem Konzept der Kindergrundsicherung müssten Alleinerziehende weiterhin neben dem Unterhalt viele verschiedene Leistungen zur Absicherung ihrer wirtschaftlichen Lage jedenfalls in Betracht ziehen (z.B. Unterhaltsvorschuss, Kindergrundsicherung, SGB II, Wohngeld), die in unterschiedlicher Weise voneinander abhängen und bei ganz unterschiedlichen Behörden zu beantragen sind.

Das Leistungsrecht ist inzwischen übermäßig komplex geworden. Bei den Fragen zur möglichen Kindergrundsicherung und den vielfältigen Schnittstellen zu anderen Leistungen und Rechtsbereichen haben selbst Fachleute kaum noch den Überblick. Dementsprechend lassen sich für die Betroffenen Ansprüche auch immer wieder nur schwer realisieren.

Perspektivisch sollte versucht werden, das Leistungsrecht so zu vereinfachen, dass die Berechtigten ihre Ansprüche verstehen und eine effektive demokratische Meinungsbildung zu den Leistungssätzen und der Ausgestaltung der Leistungen insgesamt wieder möglich wird.

 

Ursula Matthiessen-Kreuder

Prof. Dr. Susanne Dern

Präsidentin

Stellvertretende Vorsitzende der Kommission Recht der sozialen Sicherung, Familienlastenausgleich

 


[1]djb, Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für einen Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Kindergrundsicherung und zur Änderung weiterer Bestimmungen vom 06.09.2023, abrufbar unter https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st23-27.

[2] S. u.a. djb, Pressemitteilung „16 Verbände für Umgangsmehrbedarf statt Kürzungen für Alleinerziehende“ vom 30.05.2016, abrufbar unter https://www.djb.de/presse/pressemitteilungen/detail/pm16-13; djb, Stellungnahme zum Wechselmodell vom 11.02.2019, abrufbar unter https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st19-04; djb, Stellungnahme „Sind die Gründe für die Einführung einer zeitgleichen Bedarfsgemeinschaft im Haushalt des umgangsberechtigten Elternteils und die Leistungskürzung im Haushalt des alleinerziehenden Elternteils stichhaltig?“ vom 25.05.2016, abrufbar unter https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st16-13

[3] DIW ECON (2023), Kosten (k)einer Kindergrundsicherung: Folgekosten von Kinderarmut. Kurzexpertise für die Diakonie Deutschland (www.diakonie.de).