I. Einleitung
Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) kritisiert die Stellungnahmefrist von einer Woche für die Verbände. Eine fundierte Befassung mit dem Gesetzentwurf war innerhalb von einer Woche nicht möglich. Dieses Vorgehen wird einer demokratischen Beteiligung der Zivilgesellschaft nicht gerecht.
1. Geplante Kindergrundsicherung: Für Kinder nichts gewonnen
Der djb teilt die Anliegen, die mit einer „Kindergrundsicherung“ verfolgt werden:
„Die Ausgestaltung der neuen Leistung ist konsequent an drei zentralen Zielen ausgerichtet: Um vor Kinderarmut zu schützen und mehr Teilhabechancen für Kinder zu schaffen, kommt mit der Kindergrundsicherung mehr Geld direkt bei den Kindern an, verdeckte Armut wird besser aufgedeckt und behoben, und es wird für Familien leichter, die ihnen zustehenden Leistungen in Anspruch zu nehmen.“ (Gesetzentwurf, S. 48)
Der nach monatelangen Verhandlungen gefundene Kompromiss ist für die Erreichung dieser Ziele jedoch offensichtlich ungeeignet. Die geplante Kindergrundsicherung wird dem Anliegen, Kinder aus einkommensschwachen Familien besser sozial abzusichern, nicht gerecht. Insbesondere ist keine Anhebung des Leistungsniveaus für Kinder vorgesehen. Das Versprechen der Kindergrundsicherung wird nicht eingelöst. Stattdessen bedeutet der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung eine komplizierte und teure Verwaltungsreform zulasten von Familien. Für Familien wird die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen erschwert, weil nun zwei verschiedene Behörden für Grundsicherungsleistungen einer Familie zuständig sein sollen, getrennt danach, ob es sich um Leistungen für Eltern (Jobcenter oder Sozialamt) oder für Kinder (Familienkasse/Familienservice) handelt. Eltern, die bisher nur mit dem Jobcenter oder dem Sozialamt Kontakt hatten, wären dann also mit zwei Verwaltungsvorgängen und zwei Verwaltungen konfrontiert, die Leistungen prüfen müssen, die vom gleichen Sachverhalt und den gleichen Sachverhaltsänderungen abhängen. Durch die begriffliche Zusammenfassung der Leistungen als Kindergrundsicherung ist dabei nichts gewonnen. Der djb lehnt diese Verwaltungsreform daher entschieden ab.
Für die Kinder und ihre Familien wäre es besser, die bereits existierenden Leistungen in den bestehenden Systemen zu erhöhen und sich darauf zu fokussieren, die Zugänglichkeit im bestehenden System zu verbessern. Perspektivisch sollte das Leistungsrecht für Kinder und Familien grundlegend vereinfacht werden.
Darüber hinaus kritisiert der djb wesentliche Regelungen des Entwurfs und fordert grundlegende Verbesserungen:
- Das Existenzminimum für Kinder muss realitätsgerecht und daher neu bestimmt werden. Die aktuellen Regelsätze sind zu niedrig. Mit den derzeitigen – kleingerechneten – Regelbedarfen kann Kinderarmut nicht wirksam begegnet werden. Um den Koalitionsvertrag umzusetzen und Kinderarmut entgegenzuwirken, genügt es nicht, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, die Verteilschlüssel zu überprüfen. Zu niedrige Regelbedarfe und knapp bemessene Wohnbedarfe führen auch zu unzureichenden Ansprüchen im Unterhaltsrecht (insbesondere beim Mindestunterhalt) und im Unterhaltsvorschuss, da die beiden Regelungsbereiche auf das sozialrechtliche Existenzminimums Bezug nehmen. Die Leistungen für Bildung und Teilhabe müssen ebenfalls angehoben und verbessert werden. Solange die Regelsätze und die Leistungen für Bildung und Teilhabe nicht realitätsgerecht neu bestimmt worden sind, muss der Sofortzuschlag beibehalten werden. Die künftigen Beträge müssen regelmäßig an die Inflation angepasst werden. Darüber hinaus müssen auch Jugendliche im Alter zwischen 18 und 25 Jahren mindestens genauso hohe Leistungen bekommen wie Jugendliche bis 18 Jahre. Dies ist bisher im SGB II nicht gewährleistet und soll nach dem Gesetzentwurf für den Kinderzusatzbetrag übernommen werden.
- Kindergeld (im Gesetzentwurf in Kindergarantiebetrag umbenannt) und Kinderzusatzbetrag müssen allen Kindern gewährt werden, die in Deutschland leben, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unabhängig von ihrer Migrationsgeschichte. Den Ausschluss von ausländischen Kindern aufgrund der Kriterien in § 4 des Gesetzentwurfs lehnt der djb mit Vehemenz ab.
- Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen, nach denen der Kinderzusatzbetrag für Kinder, die nach der Trennung zeitweilig bei der Mutter und zeitweilig beim Vater betreut werden (temporäre Bedarfsgemeinschaft), sind unausgegoren. Wie schon mehrfach vom djb gefordert, darf es nicht zu Kürzungen kommen. Auch müssen den zusätzlichen Bedarfen von Kindern, die in zwei Haushalten leben („Wechselmehrbedarf“), und des umgangsberechtigten Elternteils („Umgangsmehrbedarf“) Rechnung getragen werden (z.B. zweites Kinderzimmer und Gegenstände des täglichen Bedarfs). Die Regelungen werden voraussichtlich in beiden Haushalten zu so geringen Leistungen führen, dass die Eltern neben der Kindergrundsicherung von der Familienkasse ergänzend SGB II-Leistungen vom Jobcenter in Anspruch nehmen müssten.
- Der djb fordert, dass das Kindergeld allein den Kindern vorbehalten bleibt. Es soll nicht mehr – wie bisher im SGB II und SGB XII – für die Deckung des Bedarfs der Eltern eingesetzt werden müssen, soweit es nicht zur Deckung des Bedarfs des Kindes erforderlich ist (sog. „Kindergeldübertrag“). Es ist gleichheitsrechtlich äußerst fragwürdig, dass der Gesetzentwurf diese politische Forderung aus Verwaltungsvereinfachungsgründen zwar für das SGB XII umsetzt, aber im SGB II nicht.
- Der Gesetzentwurf sieht eine Einschränkung des Anspruchs auf Unterhaltsvorschuss ab dem Zeitpunkt der Einschulung (anstatt wie bisher ab dem 12. Lebensjahr) vor. Der djb lehnt jegliche Einschränkungen beim Unterhaltsvorschuss und damit auch beim Unterhaltsrückgriff ab. Damit werden die Erfolge der Unterhaltsvorschussreform aus dem Jahr 2017 infrage gestellt.
2. Lohnabstandsgebot und faire Leistungen für Familien
Eine echte Kindergrundsicherung, die Kinder aus der Armut holt und faire Startchancen schafft, ist am politischen Unwillen gescheitert, diese solide zu finanzieren. In der politischen Debatte wird zum Teil unzutreffend auf das Lohnabstandsgebot Bezug genommen, um ein niedriges Leistungsniveau der Kindergrundsicherung zu rechtfertigen.
Das Lohnabstandsgebot war bis 2010 gesetzlich verankert und sollte der strukturellen Gefahr vorbeugen, dass der aus Steuermitteln finanzierte Regelbedarf der Sozialhilfe zu einem höheren verfügbaren Einkommen führt als der Einsatz der eigenen Arbeitskraft bei Vollzeittätigkeit.
In der aktuellen Debatte kann der Bezug auf ein Lohnabstandsgebot jedoch kein zu niedriges Mindestsicherungsniveau begründen. Das Existenzminimum steht jedem Menschen qua Menschsein aufgrund der Menschenwürde zu. Das Lohnabstandsgebot kann nur ein Argument dafür sein, dass sich Arbeit tatsächlich lohnt – es also gute Löhne und keine zu starke Belastung der Erwerbseinkommen gibt. Rechtlich wird dies durch einen angemessenen Mindestlohn (z.B. durch die Umsetzung der EU-Mindestlohnrichtlinie), durch die Stärkung der Tarifbindung sowie eine angemessene Belastung durch Steuern, Sozialversicherungsbeiträge und Transferentzugsraten (also die Minderung von Sozialleistungen wie Bürgergeld, Kinderzuschlag oder Wohngeld wegen Erwerbseinkommens) gewährleistet. Es braucht also eine gute Abstimmung von Erwerbseinkommen und sozialer Sicherung, sodass sich Erwerbstätigkeit immer lohnt, also mehr Brutto für Familien auch tatsächlich mehr verfügbares Einkommen bedeutet. Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen haben bisher häufig in der Summe Abzüge von um die 100 %.
Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen müssen von jedem zusätzlichen Euro brutto – wie im Koalitionsvertrag versprochen – tatsächlich etwas übrig haben. Das heißt, die Abzüge durch Steuern, Sozialversicherungsbeiträge und Transferentzug dürfen 80 % (allenfalls 90 %) nicht übersteigen.
Beim Bürgergeld und beim geplanten Kinderzusatzbetrag sollte geprüft werden, ob nicht schon die Erwerbstätigenfreibeträge fair gestaltet werden müssten. Bisher verschonen die Erwerbstätigenfreibeträge zwar Teile des Einkommens bis zu 1500 Euro brutto. Da Familien aber ein viel höheres Einkommen benötigen, um ihren Bedarf zu decken, müssten sie eigentlich auch höhere Freibeträge haben. Alternativ muss sichergestellt werden, dass der Transferentzug bei Wohngeld und beim Kinderzusatzbetrag zusammen mit den Steuern und Sozialabgaben nicht leistungshemmend ist. Damit Eltern erwerbstätig sein und den Bedarf der Familie decken können, sind zudem ausreichende Kita-, Kindergarten- und Hortplätze als soziale Infrastrukturen erforderlich.
3. Finanzierung der Kindergrundsicherung
Die unzureichende Finanzierung der Kindergrundsicherung und die daraus resultierenden niedrigen Leistungen für den Kinderzusatzbetrag wurden von Sozialverbänden und Wissenschaftler*innen bereits mit deutlichen Worten kritisiert. Die umstrittene Sparpolitik der Bundesregierung, die bereits die Kürzungen in den Bereichen Bildung, Soziales, Familien und Gleichstellung für den Haushalt 2024 begründen soll, wird nun bei der Kindergrundsicherung fortgeführt.
Der djb ist jedoch überzeugt, dass Investitionen in die Zukunft und gerade in Kinder wichtig und durch einen modernen Steuerstaat auch finanzierbar sind. Sozialpolitisch werden derzeit verschiedene Maßnahmen diskutiert, wie beispielsweise eine Abschaffung bzw. Begrenzung des Ehegattensplittings, eine Anhebung der Spitzensteuersätze in der Einkommensteuer, eine progressive Besteuerung von Kapitalerträgen, eine Wiederbelebung der Vermögensteuer, gerechtere Erbschaft- und Schenkungssteuern bei großen Vermögen und die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen.
Eine aktuelle Studie der Diakonie Deutschland und des DIW Berlin zeigt zudem auf, dass Kinderarmut mit hohen Folgekosten verbunden ist und eine Kindergrundsicherung daher eine nachhaltige Investition in die Zukunft und Wirtschaft wäre. Für faire Startchancen braucht es eine armutsfeste Grundsicherung für Kinder und darüber hinaus auch eine gut finanzierte soziale Infrastruktur, wie z.B. Kitas mit guten Betreuungsschlüsseln, Lehrmittelfreiheit, kostenlose Schulmittagessen und Freizeitangebote.
II. Zum Gesetzentwurf im Einzelnen
1. Artikel 1 – Gesetz zur Einführung einer Bundeskindergrundsicherung
§ 1 Kindergrundsicherung
Es ist fraglich, ob die begriffliche Bündelung der drei rechtlich völlig unterschiedlichen Leistungen Kindergeld (neu Kindergarantiebetrag), Kinderzuschlag (neu Kinderzusatzbetrag) und Bildung und Teilhabe mit dem Begriff der Kindergrundsicherung zu mehr Klarheit beiträgt. Denn es bleiben unterschiedliche Verantwortlichkeiten (sowohl innerhalb des Bundes als auch zwischen Bund/Ländern/Kommunen).
Zudem besteht die Sorge, dass allein durch die Umbenennung große Verwaltungsaufwände entstehen und eine Vielzahl von rechtlichen Folgefragen aufgeworfen werden. So sollte gerade der etablierte Begriff des Kindergeldes, der in einer enormen Zahl von Gesetzen und Rechtsbereichen eine Rolle spielt und Eltern geläufig ist, nicht ohne Not aufgegeben und durch den neuen und sperrigen Begriff des Kindergarantiebetrages ersetzt werden. Der Begriff des Kindergeldes ist zudem europarechtlich aufgeladen. Im Folgenden wird daher in der Regel weiter der Begriff Kindergeld verwendet.
Unterabschnitt 1 Kindergarantiebetrag (Kindergeld)
§ 4 Sonstige Leistungsberechtigte (sog. Ausländerklausel)
§ 4 übernimmt die sog. Ausländerklausel für Familienleistungen, nach der Kinder aufgrund bestimmter Kriterien, u.a. des Aufenthaltsstatus und der Aufenthaltsdauer, vom Kindergeld und vom Kinderzusatzbetrag ausgeschlossen werden. Dies lehnt der djb entschieden ab. Der djb fordert, alle Kinder, die in Deutschland leben, gleich zu behandeln und in gleicher Weise abzusichern.
Es ist zudem nicht zu rechtfertigen, dass unter Berücksichtigung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum Mindestleistungen festgelegt werden und im nächsten Schritt für Kinder im AsylbLG-Bezug ein niedrigeres Mindestniveau definiert wird. Für diese Ungleichbehandlung gibt es keinen sachlichen Grund im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG.
§ 5 Kinder
Die Beibehaltung der komplizierten Anspruchsvoraussetzungen für Kinder zwischen 18 und 25 Jahren steht einer einfachen und automatischen Auszahlung des Kindergeldes entgegen.
§ 8 Auszahlungsanspruch für volljährige Kinder
Das Kindergeld steht wegen seiner Doppelfunktion als Steuervergütung und Familienförderung auch in Zukunft den Eltern zu. Eine Auszahlung an das Kind stärkt dessen Rechtsposition. Sie erscheint immer dann sachgerecht und finanziell nicht auf Kosten unterhaltspflichtiger Eltern zu gehen, wenn die Eltern dem Kind Unterhalt mindestens in Höhe des Kindergeldes zahlen müssen. Das ist in der Regel jedenfalls dann der Fall, wenn das Kind ausgezogen ist. Insoweit wird die Regelung vom djb begrüßt.
Unterabschnitt 2 Kinderzusatzbetrag
§ 9 Leistungsberechtigte
Der Kinderzusatzbetrag soll künftig den Kindern selbst und nicht mehr ihren Eltern zustehen. Dies wird inhaltlich – wegen des symbolischen Gehalts – positiv gesehen, muss aber verfahrensrechtlich flankiert werden, weil es bedeutet, dass bei mehreren Kindern zunächst einmal ebenso viele Verwaltungsverfahren ausgelöst werden. Wenn die Verfahren durch den eigenen Anspruch des Kindes keinen größeren Aufwand bedeuten, sollte dieser Schritt gegangen werden.
Der Kinderzuschlag kann bisher in einem bestimmten Einkommenskorridor (Einkommen darf nicht zu niedrig und nicht zu hoch sein) nur bezogen werden, wenn die Familie bei einem niedrigeren Einkommen eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II wäre (mindestens eine erwerbsfähige Person). Nunmehr sollen auch Kinder aus Haushalten unter die Regelung des Kinderzusatzbetrages fallen, deren Familien bei entsprechend niedrigem Einkommen dem Rechtskreis des SGB XII angehören (keine erwerbsfähige Person im Haushalt). Damit wird ein wichtiger Schritt in Richtung Gleichbehandlung der Kinder erreicht, weil sie unabhängig davon unterstützt werden, ob ihre Eltern erwerbsfähig sind oder nicht.
Der Wegfall der Mindesteinkommensgrenze und der Voraussetzung, dass mit dem Kinderzuschlag Hilfebedürftigkeit überwunden sein musste, führen dazu, dass der Kinderzusatzbetrag außerdem „nach unten“ geöffnet werden soll, also auch Kindern zustehen soll, deren Familien bisher Bürgergeld nach dem SGB II oder Sozialhilfe nach dem SGB XII beziehen. Das bedeutet, dass in diesen Fällen künftig für die Kinder der einkommensabhängige Kinderzusatzbetrag bei der Familienkasse (oder dem Familienservice) bezogen werden muss und die Eltern sich weiterhin an das Jobcenter oder das Sozialamt wenden müssen. Der djb wendet sich gegen diese strukturelle Änderung, weil nicht ersichtlich ist, dass es für die Kinder so zu einer Vereinfachung kommt. Im Gegenteil dürften für die Familien damit deutlich höhere bürokratische Aufwände verbunden sein. Während bisher vor allem beim Kinderzuschlag davon ausgegangen wird, dass nur 30 oder 35 % der Berechtigten den Anspruch geltend machen, ist zu befürchten, dass sich künftig auch bei noch niedrigeren Einkommen, also in Familien, die bisher SGB II oder XII beziehen, die Inanspruchnahmequote verschlechtert.
Dass sich der bürokratische Aufwand enorm erhöht, macht der Gesetzentwurf deutlich. Es wird mit zusätzlichen Verwaltungskosten bei der Familienkasse in Höhe von 500 Mio. Euro gerechnet. Nach Einlassungen des Leiters der Familienkasse in einem Interview vom 25. August 2023 in der WELT geht er von einem Anstieg des Personalbedarfs von derzeit 5.600 auf vorübergehend bis zu 7.000 oder 8.000 Personen aus. Es ist nicht ersichtlich, wie Fachkräfte in dem Umfang in der vorgegebenen Zeit gewonnen und eingearbeitet werden sollen. Ein Antrags- und Bewilligungsstau bei Einführung der Kindergrundsicherung muss aber unbedingt vermieden werden.
§ 11 Höhe des Kinderzusatzbetrages
Der Kinderzusatzbetrag soll anders als bisher der Kinderzuschlag entsprechend der Regelbedarfsstufen in den Grundsicherungsleistungen nach dem Alter der Kinder gestaffelt sein. Der djb kritisiert die Höhe der Regelbedarfsstufen und fordert eine Anhebung (dazu weiter unten ausführlich zur Änderung des SGB XII).
Zudem sollen die Wohnkosten den Kindern in den Grundsicherungsleistungen nur noch pauschal anteilig zugerechnet werden und eben dieser pauschale Betrag soll bei der Höhe der Sätze des Kinderzusatzbetrages berücksichtigt werden. So soll der Kinderzusatzbetrag, wenn er in voller Höhe gewährt wird, künftig zusammen mit dem Kindergeld den Bedarf der Kinder decken.
Nicht nachvollziehbar für den djb ist jedoch, dass der Bedarf der Kinder nach den Regelungen des SGB II für Kinder ab dem 18. Geburtstag von 420 Euro auf 402 Euro (Werte für 2023) sinken soll. Hier ist eine Anpassung dringend erforderlich. Falls sie sich statistisch nicht ableiten lassen sollte, ist das Absinken durch politische Wertung im Rahmen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums zu vermeiden. Ein Ende dieser Schlechterstellung von jungen Erwachsenen gegenüber Jugendlichen bis 18 Jahren im SGB II erscheint umso dringender, wenn bedacht wird, dass jungen Erwachsenen im SGB XII sogar 502 Euro (Wert für 2023) zustehen. Daran wird im Gesetzentwurf festgehalten, indem diese Gruppe vom Kinderzusatzbetrag ausgeschlossen wird.
§ 12 Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen des Kindes
Die Regelungen zur Berücksichtigung des Kindeseinkommens sind nicht nachvollziehbar, weil die Leistungen bei Trennungsfamilien nicht mehr systematisch aufeinander abgestimmt sind (Wohngeld, Kinderzusatzbetrag, Kindesunterhalt/Unterhaltsvorschuss). Anhand von Rechenbeispielen sollte verdeutlicht werden, inwiefern Kinder von Alleinerziehenden von den Einschränkungen beim Unterhaltsvorschuss und den geänderten Anrechnungsquoten im Ergebnis betroffen sind.
Der Bezug von Kindesunterhalt und Unterhaltsvorschuss beim Kinderzusatzbetrag und beim Wohngeld darf nicht dazu führen, dass es unter dem Strich von Nachteil ist, wenn Unterhalt oder Unterhaltsvorschuss bezogen wird.
§ 14 Gesamtbedarf der Eltern
Kindern sollen die Wohnkosten nur noch in der Höhe zugerechnet werden, wie es auch im Existenzminimumbericht für die Steuer pauschal erfolgt. Im Übrigen werden sie den Eltern zugerechnet. Die Kinder bekommen über den Kinderzusatzbetrag die pauschalen Wohnkosten anerkannt. Über das SGB II erhalten die Eltern die übrigen Wohnkosten, soweit sie als angemessen anerkannt werden. Diese Änderungen der Zurechnung der Wohnkosten in den Leistungssystemen Kinderzusatzbetrag, SGB II und SGB XII erscheinen grundsätzlich nachvollziehbar. Ob dieser Weg auch zum Wohngeld passt, kann in der Kürze der Zeit nicht beurteilt werden.
Problematisch an dieser Regelung ist jedoch, dass sich damit im Sozialrecht verfestigt, dass Kindern ein sehr knapp bemessener Wohnbedarf zugewiesen wird. Da nicht nur im Steuerrecht, sondern auch beim Unterhalt an das sozialrechtliche Existenzminimum angeknüpft wird, folgen aus der (zu) knappen Bemessung unzureichende Ansprüche im Unterhaltsrecht (insbesondere beim Mindestunterhalt) und im Unterhaltsvorschuss.
§ 16 Bewilligungszeitraum
Der Bewilligungszeitraum für den Kinderzusatzbetrag soll wie bisher beim Kinderzuschlag 6 Monate betragen. Um eine Unterdeckung kindlicher Bedarfe in dem Fall, dass der bewilligte Zusatzbetrag aufgrund von tatsächlichen Änderungen im Bewilligungszeitraum (zum Beispiel Einkommensminderungen oder gestiegene Wohnkosten) nicht ausreicht, können ergänzend Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII bezogen werden. Diese Regelung ist den bisherigen Regelungen zum Kinderzuschlag nachgebildet. Sie wirkt aber nach dem Gesetzentwurf künftig auch für Fälle, in denen bisher nur SGB II-Leistungen bezogen wurden und dementsprechend Änderungen auch nur für das SGB II relevant waren. Hier liegt ein erhebliches Risiko, dass die Aufwände für die Familien und die Verwaltung steigen, ohne dass die Auswirkungen im Einzelnen in der Kürze der gesetzten Stellungnahmefrist überblickt werden können.
Unterabschnitt 3 Weitere Leistungen
§ 21 Leistungen für Bildung und Teilhabe
Es wird begrüßt, dass die Teilhabeleistung und die pauschalierte Geldleistung für die Schulausstattung ohne gesonderten Antrag zusammen mit dem Kinderzusatzbetrag ausgezahlt werden.
Im Übrigen erscheint insbesondere die Ankündigung eines „Kinderchancenportals“ äußerst unbestimmt, so dass weitere Vereinfachungen nicht ersichtlich sind.
Abschnitt 5 Kindergrundsicherungscheck
Der Kindergrundsicherungscheck erscheint unausgereift und nicht zielführend. Er entfacht wegen der Kann-Formulierung allenfalls bedingt Wirkungen. Der Verwaltungsaufwand für die Implementierung sollte stattdessen unbedingt in die Verbesserung des eigentlichen Vollzugs investiert werden: zeitnahe Beratung, zügige Bescheidung, gute Informationen, gute Online-Angebote. Der djb regt an, seine Einführung mangels jeglicher Eilbedürftigkeit ggf. in einem gesonderten Verfahren zu diskutieren, jetzt aber klare Prioritäten zu setzen und nur über die Gestaltung der eigentlichen Leistungen zu entscheiden.
2. Artikel 2 – Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
Der djb lehnt die Regelung ab, nach der Kinder ab Schuleintritt nur einen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss haben, wenn der alleinerziehende Elternteil ein Mindesteinkommen von 600 Euro erzielt. Alleinerziehende brauchen solche Regelungen unter dem Deckmantel von Erwerbsanreizen nicht. Damit Erwerbstätigkeit für Alleinerziehende gelingt, müssen angemessene Voraussetzungen geschaffen werden. Sie sind in besonderer Weise auf eine Betreuungsinfrastruktur angewiesen. Außerdem muss die besondere Bedarfslage von Alleinerziehenden nicht nur im SGB II (Mehrbedarfe für Alleinerziehende) und durch Freibeträge in der Einkommensteuer (Entlastungsbetrag für Alleinerziehende) berücksichtigt werden, sondern es sollte über eine Entlastung gerade auch von Alleinerziehenden mit geringen Einkommen nachgedacht werden (zum Beispiel in Form einer Steuergutschrift). Denn wesentlich ist für Alleinerziehende wie für alle anderen Familien auch, dass sich ihre Erwerbstätigkeit spürbar lohnt, also von zusätzlichem Brutto auch tatsächlich zusätzlich Einkommen zur Verfügung steht. Im Übrigen hängt die Frage der Zumutbarkeit von Erwerbstätigkeit von Alleinerziehenden vom Einzelfall ab: Sie können mehrere, auch einzelne jüngere Kinder haben. Sie können selbst nicht erwerbsfähig sein oder wegen Pflegeaufgaben an der Erwerbstätigkeit gehindert sein. Der Gesetzentwurf differenziert diesbezüglich nicht.
Darüber hinaus ist kritisch zu bewerten, dass der Anspruch des Kindes auf Unterhaltsvorschuss nun für alle Kinder ab Schuleintritt davon abhängig sein soll, dass parallel kein SGB II bezogen werden muss. Damit gerät das Verhältnis von Unterhalt, Unterhaltsvorschuss, Kinderzusatzbetrag und SGB II durcheinander. Eigentlich sollte gelten: Unterhalt ist vorrangig zum Unterhaltsvorschuss, beide Leistungen sind vorrangig gegenüber dem Kinderzusatzbetrag und alle drei Leistungen sind vorrangig gegenüber dem (nachrangigen) SGB II. Kindern ist nicht damit geholfen, dass die Prüfung des Kinderzusatzbetrags vereinfacht wird um den Preis, dass die Anspruchsvoraussetzungen für den Unterhaltsvorschuss komplizierter werden. Dies ist vor allem deshalb nicht vertretbar, weil das Kind ein essenzielles Interesse an dem schnellen und unkomplizierten Bezug des Unterhaltsvorschusses hat, der zudem im Jugendamt die Geltendmachung des Unterhalts im Wege des Rückgriffs auslöst. Um eine dauerhafte und verlässliche Unterstützung von Alleinerziehenden bei der Geltendmachung des Unterhalts durch das Jugendamt zu gewährleisten, sollte auch durchgehend einen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss gewährt werden. Der Unterhaltsvorschuss hat sich in der Praxis als einfache und effektive Leistung bewährt. Ein Anspruch auf Kinderzusatzbetrag ohne vergleichbaren Rückgriff wie nach dem Unterhaltsvorschussgesetz ist für Kinder nach Trennung keine gleichwertige Alternative!
3. Artikel 4 – Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
Der djb begrüßt die vertikale Einkommensanrechnung.
Der djb hält die Änderungen zur Zurechnung der Wohnkosten in den Leistungssystemen Kinderzusatzbetrag, SGB II und SGB XII für grundsätzlich nachvollziehbar (ausführlicher oben zu Artikel 1 § 14).
Der djb wendet sich entschieden gegen die Vermutung der Bedarfsdeckung bei Kindern. Statt eines Kindergrundsicherungschecks auf Basis von Daten, die für die Prüfung der Ansprüche im Ergebnis nicht maßgeblich sind, sollten Eltern und Kinder einen fortwährenden Anspruch auf umfassende Beratung haben. Stellen sie einen Antrag auf SGB II für sich und ihre Kinder, erscheint es unter Berücksichtigung der Interessen der Kinder unangemessen zu vermuten, dass sie keinen ergänzenden SGB II-Anspruch haben. Im Hinblick darauf, dass für die Bewilligung von Kinderzusatzbetrag und SGB II unterschiedliche Zeiträume maßgeblich sind, sollte bei jedem Antrag auf SGB II für ein Kind – ob separat oder nicht, im Zweifel nach vorheriger Beratung – auch eine Prüfung des Anspruchs erfolgen.
Für Familien ist es außerdem überfordernd, dass sie für vorläufige Leistungen eine Bescheinigung der Familienkasse vorlegen müssen mit dem Inhalt, dass der Kinderzusatzbetrag beantragt worden ist, eine abschließende Bearbeitung des Antrages im Monat des Antrages oder dem darauffolgenden Monat nicht möglich ist und eine Vorschusszahlung nach § 42 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch nicht möglich ist. Gerade wenn Familien dringend auf Geld angewiesen sind, müssen sie SGB II Leistungen beantragen. Wenn also die Familienkasse die Kindergrundsicherung nicht ausreichend schnell bearbeitet, dann ist es nicht realitätsgerecht anzunehmen, dass die Familienkasse dies ausreichend schnell bescheinigen kann. Hier besteht die große Gefahr, dass für die Kinder vorübergehend Bedarfslücken entstehen. Für den djb erscheint es inakzeptabel, den Nachweis einer verzögerten Leistungsbearbeitung der zuständigen Behörde in die Verantwortung der Eltern zu verschieben.
4. Artikel 6 – Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
Der djb begrüßt die Bemühungen um zunehmende Digitalisierung und Datenübermittlung für den Nachweis von einzelnen Einkommensarten. Dies gilt unabhängig von den einzelnen einkommensabhängigen Leistungen. Der Entwurf sieht hier erste Schritte vor. Die Vereinfachung der Nachweise von Arbeitslosengeld, Bürgergeld und Einkommen aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit ist sinnvoll. Im Hinblick darauf, dass es eine ungezählte Vielzahl von Einkommen gibt, sollten aber die Erwartungen an automatische Auszahlungen nicht weiter befeuert werden.
5. Artikel 7 – Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
Soweit Platzhalter im Gesetzentwurf sind, ist eine Stellungnahme nicht möglich.
Die Zukunft des Sofortzuschlags ist ungeklärt. Ein ersatzloses Entfallen des Sofortzuschlages lehnt der djb ab. Es ist auch nicht ausreichend, dass es aufgrund der Übergangsvorschriften unter dem Strich nicht zu einer Senkung der Leistungen kommt. Solange die versprochene Neudefinition des Existenzminimums ausbleibt, allenfalls die Verteilschlüssel überprüft werden, ist die Minimalforderung des djb, dass der Sofortzuschlag beibehalten und zugleich erhöht wird. Sodann muss die Leistung unter Berücksichtigung der Inflation entsprechend den gesetzlichen Regelungen fortgeschrieben werden. Es wäre völlig inakzeptabel, das Leistungsniveau für Kinder durch eine Abschaffung des Sofortzuschlags zu senken. Die Änderung der Verteilschlüssel ist unzureichend, weil die betroffenen Familien dadurch keinen Cent zusätzlich haben.
Der djb mahnt an, dass existenzsichernde Leistungen für Kinder nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts realitätsgerecht bestimmt sein, den kinderspezifischen Bedarfen gerecht werden und eine soziale, kulturelle und politische Teilhabe ermöglichen müssen. Chancengleichheit erfordert armutsfeste Leistungen, die die Nachteile für Kinder aus einkommensarmen Familien ausgleichen.
Der djb fordert die Bundesregierung auf, die empirischen Studien für eine realitätsgerechte Regelbedarfsermittlung, z.B. von Dr. Irene Becker oder dem Deutschen Verein, zum Anlass für eine Neubewertung des Existenzminimums zu nehmen und das Leistungsniveau entsprechend zu erhöhen.
6. Artikel 8 – Änderung des Regelbedarfsermittlungsgesetzes
Eine Stellungnahme ist aufgrund von Leerstellen im Gesetzentwurf nicht möglich.
7. Artikel 11 – Inkrafttreten, Außerkrafttreten
Das Vorhaben wirkt – bedenkt man das Ausmaß der vorgesehenen Verwaltungsumorganisation – überstürzt. Damit wird es der existenziellen Bedeutung der Mindestsicherungssysteme für Kinder nicht gerecht. Auch mangels Anhebung des Leistungsniveaus, die auch im derzeitigen System erfolgen kann, ist diese große übereilte Umstrukturierung nicht im Sinne der Kinder.
Der djb hat Sorge, dass die Familienkasse zur Umsetzung des Großvorhabens in der Kürze der vorgesehenen Zeit nicht in der Lage sein wird, den Vollzug zu organisieren (Fachkräftebedarf, Vorbereitungs- und Abstimmungsbedarf). Schon jetzt nimmt die Bewilligung von Kindergeld oft Monate in Anspruch. Es wäre fatal, wenn gesetzliche Weichen gestellt werden, die solche Unsicherheiten auch bei der Mindestsicherungsleistung in Kauf nehmen. Es ist den Kindern nicht gedient, wenn sie am Anfang in großer Zahl wegen eines Antragsstaus zwischen den Behörden hin- und hergeschickt werden.
III. Zugänglichkeit zu den Leistungen
Aus Sicht des djb muss es das zentrale Ziel einer Kindergrundsicherung sein, dass fair gestaltete Leistungen auch tatsächlich bei den Kindern ankommen. Dafür muss es den Eltern leicht gemacht werden, die Ansprüche für die Kinder und die gesamte Familie geltend zu machen. Leistungen müssen also vereinfacht werden, Eltern müssen ermutigt werden, die zustehenden Leistungen zu beantragen, sie müssen dabei aktiv unterstützt und es muss für die Leistungen aktiv geworben werden. Für den djb erscheint es zielführender und effektiver, die vorgesehenen Mittel in die bestehenden Systeme zu investieren und hierin Hürden abzubauen und Verfahren zu optimieren.
Aus Sicht des djb sollten schließlich jenseits dieses Gesetzgebungsverfahrens Lösungsmöglichkeiten gesucht werden, wie Familien, gerade auch Alleinerziehenden, der Zugang zu den zustehenden Leistungen erleichtert werden kann. Nach dem Konzept der Kindergrundsicherung müssten Alleinerziehende weiterhin neben dem Unterhalt viele verschiedene Leistungen zur Absicherung ihrer wirtschaftlichen Lage jedenfalls in Betracht ziehen (z.B. Unterhaltsvorschuss, Kindergrundsicherung, SGB II, Wohngeld), die in unterschiedlicher Weise voneinander abhängen und bei ganz unterschiedlichen Behörden zu beantragen sind.
Das Leistungsrecht ist inzwischen übermäßig komplex geworden. Bei den Fragen zur möglichen Kindergrundsicherung und den vielfältigen Schnittstellen zu anderen Leistungen und Rechtsbereichen hat kaum noch jemand den Überblick. Dementsprechend lassen sich Ansprüche auch immer wieder nur schwer realisieren.
Perspektivisch sollte versucht werden, das Leistungsrecht so zu vereinfachen, dass die Berechtigten ihre Ansprüche verstehen und eine effektive demokratische Meinungsbildung zu den Leistungssätzen möglich wird.
Prof. Dr. Maria Wersig
Präsidentin
Prof. Dr. Cara Röhner
Vorsitzende der Kommission Recht der sozialen Sicherung, Familienlastenausgleich