Der Deutsche Juristinnenbund e. V. (djb) bedankt sich für die Gelegenheit zur Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Schwangeren im Freistaat Sachen (Sächsisches Schwangerenselbstbestimmung Stärkungsgesetz – SächsSchwSelbstbestStärkG) der Fraktion DIE LINKE. (Drs. 7/12495).
Der djb begrüßt den Vorstoß, das Selbstbestimmungsrecht von Schwangeren zu stärken und dies langfristig in einem neu benannten Ausführungsgesetz zum Schwangerschaftskonfliktgesetz abzusichern. Dass eine solche landesrechtliche Absicherung notwendig ist, wird immer eindrücklicher. Die seit 30 Jahren geltende deutsche Regelung schafft es nicht, den Zugang zu straffreien Abbrüchen in der Praxis abzusichern. Die Versorgungslage in Deutschland ist defizitär.[1] Die Zahl der Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, hat sich zwischen 2003 und 2023 fast halbiert.[2]
Schon seit längerem spricht sich der djb für eine Verbesserung der Versorgungslage (ungewollt) schwangerer Personen aus.[3] Es muss sichergestellt werden, dass jede Person, die individuell notwendige Unterstützung erhält, unabhängig davon, ob sich für oder gegen eine Schwangerschaft entschieden wird. Insofern möchte der djb den Schwangerschaftsabbruch nicht nur unter dem Paradigma der reproduktiven Freiheit oder der reproduktiven Rechte, sondern unter dem noch weiteren Paradigma der reproduktiven Gerechtigkeit[4] verstanden wissen. Der Begriff entstammt dem wissenschaftlichen und aktivistischen Diskurs Schwarzer Feministinnen (mit originärem Bezug zu den USA) und transportiert den auch intersektionalen Anspruch der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit.
I. Beratungsangebot soll verbessert werden
Der vorliegende Gesetzentwurf soll allen Schwangeren einen ungehinderten und barrierearmen, wohnortnahen und weltanschaulich freien Zugang zu Schwangerschaftskonfliktberatung ermöglichen. Dazu sollen vor allem zwei Maßnahmen getroffen werden: Zum einen soll die Barrierefreiheit und Mehrsprachigkeit des Beratungsangebots sichergestellt, sowie die speziellen Belange von Menschen mit Behinderung in der Beratungspraxis stärker berücksichtigt werden (Änderungen des § 2 SächsSchwSelbstbestStärkG).[5] Zum anderen sollen kürzere Anreisen zu Beratungsstellen nach § 6 Abs. 1 SächsSchwSelbstbestStärkG garantiert werden.
Ganz grundsätzlich fordert der djb auf Bundesebene eine Abschaffung der Pflichtberatung.[6] Das steht im Einklang mit der Empfehlung des UN-Frauenrechtsausschusses gegenüber Deutschland.[7] Unabhängig von einer verpflichtenden Beratung, die nur auf Bundesebene abgeschafft werden könnte, muss sowohl die Finanzierung der Schwangerschafts(konflikt)beratungsstellen gesichert und ausgebaut werden als auch sichergestellt werden, dass Beratungen barrierefrei und für alle zugänglich sind. Aus diesen Gründen begrüßt der djb die angestrebte Gesetzesänderung. Die intersektionalen Ansätze, die der Gesetzesentwurf berücksichtigt, entsprechen dabei dem Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit. Sowohl die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung als auch von Schwangeren mit Kindern finden dezidiert in der Gesetzesbegründung Erwähnung.[8]
II. Versorgungslage bezüglich Praxen/Kliniken soll verbessert werden
Der djb begrüßt insbesondere, dass die Versorgung in Sachsen auch für die Zukunft abgesichert werden soll. Im Falle von dauerhaften, nicht anders behebbaren Versorgungslücken müssen die Länder durch eigene Einrichtungen ein flächendeckendes Angebot für Schwangerschaftsabbrüche sicherstellen.[9] Der djb weist bereits seit längerem auf die stetig sinkende Zahl von Ärzt*innen und Kliniken hin, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen.[10] Auch der UN-Frauenrechtsausschuss betonte in den abschließenden Bemerkungen zum 9. Staatenberichtsverfahren die Notwendigkeit die Versorgungslage staatlich abzusichern.[11]
Der Gesetzesvorstoß, der eine bedarfsgerechte Planung ins Zentrum stellt, nimmt dabei den Landesgesetzgeber selbst in die Pflicht: Über § 8 SächsSchwSelbstbestStärkG soll Sachsen dazu verpflichtet werden, sicherzustellen, dass Praxen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, landesweit in ausreichendem Maße vorhanden sind und dies auch für die Zukunft gewährleistet wird.[12] Es soll somit eine landesrechtliche Verpflichtung eingeführt werden, ein bedarfsgerechtes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen nach § 13 Abs. 2 SchKG zu gewährleisten.[13] Der bereits bestehende Sicherstellungsauftrag soll somit ausgeweitet werden: Es muss in allen Landkreisen und kreisfreien Städten ein bedarfsgerechtes Angebot zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen bestehen.
Laut der Gesetzesbegründung sei ein bedarfsgerechtes, wohnortnahes Angebot angezeigt, damit sich Ärzt*innen nicht wegen einer weiten Anreise der Schwangeren gedrängt sehen, den Schwangerschaftsabbruch an dem Tage, an dem sie sich bei ihm bzw. ihr zum ersten Mal einfindet, vorzunehmen. Durch die Verringerung des zeitlichen Drucks könne die Chance für eine selbstbestimmte Entscheidung der schwangeren Person erhöht werden.[14]
Dies deckt sich auch mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts von 1993, die als Anknüpfungspunkt die flächendeckende Versorgung mit der grundrechtlichen Schutzpflicht für das ungeborene Leben verbinden.[15] Demnach müsse der Staat zur Verwirklichung des Schutzkonzepts für das Bereitstellen ärztlicher Hilfe zum Abbruch der Schwangerschaft in einer Entfernung sorgen, die von der Frau nicht die Abwesenheit über einen Tag hinaus verlangt. Denn auch die schwangere Person solle nicht dazu gedrängt werden, eine Entscheidung unter Druck treffen zu müssen. Dabei begründet das Bundesverfassungsgericht eine Staatsaufgabe.[16]
Das Bundesverfassungsgericht selbst verweist darauf, dass ein umfassendes Konzept jeweils für das ganze Bundesland vorliegen müsse. Gefordert sein könnten flächenbezogene Erhebungen des voraussichtlichen Bedarfs und der bereits vorhandenen Einrichtungen sowie — ähnlich wie bei der Krankenhausplanung — eine landesweite infrastrukturelle Planung, in welche die Einrichtungen privater, frei gemeinnütziger, kommunaler oder staatlicher Träger aufzunehmen und aufeinander abzustimmen sind.[17] Eine Bedarfsplanung, die Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungsregelung miteinbeziehen muss, scheint somit hinsichtlich des historischen Trends und wahrscheinlich verstärkter Versorgungslücken vor dem Hintergrund der Verfassungsrechtsprechung angemessen.
III. Grundsätzliches Ziel: Stärkung des Selbstbestimmungsrechts
Der djb begrüßt die Zielsetzung des beabsichtigten neuen Ausführungsgesetzes zum Schwangerschaftskonfliktgesetz. Aktuell wird in § 1 des Sächsischen Ausführungsgesetz zum Schwangerschaftskonfliktgesetz der Zweck zum „Schutz des ungeborenen Lebens und der Bewältigung aller eine Schwangerschaft mittelbar und unmittelbar betreffenden Fragen durch Sicherstellung eines ausreichenden pluralen Angebotes an Beratungsstellen nach den §§ 3 und 8 des Gesetzes zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten [...].“ festgelegt. Stattdessen möchte der aktuelle Gesetzesentwurf das Selbstbestimmungsrecht von (ungewollt) Schwangeren in den Mittelpunkt rücken.
Das derzeitige Regelungsmodell des Schwangerschaftsabbruchs trägt der Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der schwangeren Person grundsätzlich nicht hinreichend Rechnung — und das, obwohl die Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch im (reproduktiven) Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 GG) und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 GG) verfassungsrechtlich geschützt wird.[18]
So muss auch ein effektiver Schutz des ungeborenen Lebens immer die schwangere Person in die Überlegungen miteinbeziehen. Dies deckt sich mit den bereits erwähnten Ausführungen des BVerfG aus 1993.[19] Eine Zwangssituation, sowohl im Bereich der Beratung oder der Versorgung, schadet sowohl dem ungeborenen Leben als auch der schwangeren Person. Der verfassungsrechtlich gebotene Schutz des ungeborenen Lebens kann somit unter Wahrung der Autonomie der schwangeren Person wirksamer verwirklicht werden. Das ursprünglich verfolgte Ziel, ungeborenes Leben auch durch Beratungs- und Unterstützungsangebote zu schützen, wird hingegen durch eine stetige Verschlechterung der Versorgungslage konterkariert. Der Gesetzgeber ist daher hinsichtlich der grundrechtlichen Positionen der schwangeren Person, wie auch des ungeborenen Lebens, dazu angehalten, ein ausreichendes, flächendeckendes Angebot zu gewährleisten.
IV. Weitere Forderung: Gegen Gehsteigbelästigungen vorgehen
Darüber hinaus sollte das Selbstbestimmungsrecht von Schwangeren gegenüber Gehsteigbelästigungen gesichert werden. Der djb setzt sich dafür ein, dass der Schutz für schwangere Personen bundeseinheitlich gewährleistet wird.[20] Denn Belästigungen und verbale oder visuelle Angriffe sind in der Situation der Pflichtberatung, die bereits vom Ausschuss der Vereinten Nationen für die Umsetzung der UN-Frauenrechtskonvention kritisiert wurde, für die Betroffenen unzumutbar. Auch wenn bereits jetzt ordnungs- und versammlungsrechtliche Möglichkeiten in den Bundesländern bestehen, gegen diese Aktionen vorzugehen, werden sie zu zögerlich genutzt. Bevor eine bundeseinheitliche Regelung geschaffen wird, sollte der ungesicherte Zugang zu Beratungsstellen und Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, bereits im Landesgesetz abgesichert werden. Vorbild könnte an dieser Stelle die Regelung in Bremen sein, die das gezieltes Ansprechen oder sonstige Ausübung von Zwang oder Druck in Sicht- oder Rufweite einer Beratungsstelle sowie zu Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, verbietet.[21]
Susanne Köhler
Vorsitzende des Landesverbands Sachsen
Valentina Chiofalo
Stellvertretende Vorsitzende der Kommission Europa- und Völkerrecht
[1] Vgl. Tennhardt/Kothé, djbZ 1/2017, 12 ff.
[2] Janson, Statista, 13.5.2022, https://de.statista.com/infografik/27437/anzahl-der-praxen-und-krankenhaeuser-in-deutschland-die-schwangerschaftsabbrueche-vornehmen/. Die aktuelle Zahl beläuft sich auf 1108 Meldestellen, siehe Statistisches Bundesamt, Meldestellen zur Schwangerschaftsabbruchstatistik in Deutschland 2023, Stand 26.7.2023, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Schwangerschaftsabbrueche/Tabellen/meldestellen-2023.html.
[3] Siehe dazu: djb, Stellungnahme 23-13, 11.05.2023, https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st23-13; djb, Policy Paper 22-26, 8.12.2022, https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st22-26; djb, Stellungnahme 21-20, 20.09.2021, https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st21-20; djb, Stellungnahme 19-03, 31.01.2019, https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st19-03.
[4] Ross/Solinger, in: Reproductive Justice – An Introduction, 2017, S. 65.
[5] Gesetzesentwurf, Gesetz zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Schwangeren im Freistaat Sachsen (Sächsisches Schwangerenselbstbestimmung Stärkungsgesetz – SächsSchwSelbstbestStärkG), Drucksache 7/13495, S. 2,
[6] Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Concluding Observations on the Combined Seventh and Eighth Periodic Reports of Germany, 9.3.2017, UN Doc. CEDAW/C/DEU/CO/7-8, para. 38(b). Vgl. auch Committee on the Elimination of Discrimination against Women, List of Issues and Questions Prior to the Submission of the Ninth Periodic Report of Germany, 11.3.2020, UN Doc. CEDAW/C/DEU/QPR/9, para. 16. 51 djb, Stellungnahme 21-20, 20.9.2021, www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st21-20.
[7] Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Concluding Observations on the Ninth Periodic Reports of Germany, 31.5.2023, UN Doc. CEDAW/C/DEU/9, para. 46(d);Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Concluding Observations on the Combined Seventh and Eighth Periodic Reports of Germany, 9.3.2017, UN Doc. CEDAW/C/DEU/CO/7-8, para. 38(b). Vgl. auch Committee on the Elimination of Discrimination against Women, List of Issues and Questions Prior to the Submission of the Ninth Periodic Report of Germany, 11.3.2020, UN Doc. CEDAW/C/DEU/QPR/9, para. 16. 51.
[8] Gesetzesentwurf, Gesetz zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Schwangeren im Freistaat Sachsen (Sächsisches Schwangerenselbstbestimmung Stärkungsgesetz – SächsSchwSelbstbestStärkG), Drucksache 7/13495, S. 10.
[9] So auch Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Sachstand: Zum Weigerungsrecht von Krankenhäusern, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, WD 9 - 3000 - 087/19, 2020, S. 9.
[10] djb, Stellungnahme 23-13, 11.05.2023, https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st23-13; djb, Policy Paper 22-26, 8.12.2022, https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st22-26; djb, Stellungnahme 21-20, 20.09.2021, https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st21-20; djb, Stellungnahme 19-03, 31.01.2019, https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st19-03.
[11] Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Concluding Observations on the Ninth Periodic Reports of Germany, 31.5.2023, UN Doc. CEDAW/C/DEU/9, para. 46(c): “Ensure that sufficient numbers of adequately trained medical professionals are available to perform abortions and reduce regional disparities in this regard and that medicines needed for non-surgical abortion are available”
[12] Gesetzesentwurf, Gesetz zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Schwangeren im Freistaat Sachsen (Sächsisches Schwangerenselbstbestimmung Stärkungsgesetz – SächsSchwSelbstbestStärkG), Drucksache 7/13495, S. 2
[13] Gesetzesentwurf, Gesetz zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Schwangeren im Freistaat Sachsen (Sächsisches Schwangerenselbstbestimmung Stärkungsgesetz – SächsSchwSelbstbestStärkG), Drucksache 7/13495, S. 10.
[14] Gesetzesentwurf, Gesetz zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Schwangeren im Freistaat Sachsen (Sächsisches Schwangerenselbstbestimmung Stärkungsgesetz – SächsSchwSelbstbestStärkG), Drucksache 7/13495, S. 11.
[15] BVerfGE 88, 203 (331).
[16] Schmid, Eine versäumte Staatsaufgabe, Kritische Justiz 2023, 29 (29 ff.).
[17] BVerfGE 88, 203 (329).
[18] djb, Policy Paper 22-26, 8.12.2022, https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st22-26.
[19] BVerfGE 88, 203 (266).
[20] djb, Pressemitteilung 21-18, 01.06.2021, https://www.djb.de/presse/pressemitteilungen/detail/pm21-18.
[21] § 1 Abs. 3 Schwangerenhilfesicherstellungsgesetz Bremen.