Stellungnahme: 23-24


zum Referent*innenentwurf des Bundesministeriums der Justiz zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts

Stellungnahme vom

Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) begrüßt den Referent*innenentwurf des Bundesministeriums der Justiz zu einem Gesetz zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts mit Nachdruck. Der Entwurf sieht Änderungen in materieller und prozessualer Hinsicht vor, die an entscheidenden Stellen zu mehr Geschlechtergerechtigkeit im deutschen Völkerstrafrecht beitragen werden. Dabei ist positiv zu bewerten, dass der Entwurf von einem weiten Geschlechtsverständnis ausgeht. Der djb regt an, gesetzgeberisch klarzustellen, dass dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch unter Berücksichtigung völkerstrafrechtlicher und menschenrechtlicher Entwicklungen ein Geschlechtsverständnis zugrunde liegt, das sowohl die sexuelle Orientierung als auch die Geschlechtsidentität inkludiert. Dieses Verständnis ist insbesondere für den Verfolgungstatbestand bedeutend. In prozessualer Hinsicht besteht trotz des im Entwurf vorgesehenen verstärkten Opferschutzes weiterer Verbesserungsbedarf für einen umfassenden Schutz der Betroffenen von geschlechtsbezogener, sexualisierter und reproduktiver Gewalt in völkerstrafrechtlichen Kontexten. Hier ist auf die Aufzählung von Individualrechtsgütern in § 395 Abs. 1 Nr. 4a StPO-E zu verzichten. Zudem sollten alle Völkerstraftaten zur Nebenklage, Beistandsbestellung und psychosozialen Prozessbegleitung berechtigen.

1. Erweiterung der sexuellen und reproduktiven Völkerstraftaten

Die im Entwurf vorgesehenen Änderungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen sind uneingeschränkt zu begrüßen und setzen Forderungen des djb[1] umfassend um.

Der Entwurf sieht zunächst die Einführung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit bzw. Kriegsverbrechens des sexuellen Übergriffs vor. Diese Ergänzung zum bereits vorhandenen Tatbestand der sexuellen Nötigung ist zu begrüßen. Zum einen schließt sie mögliche Lücken gegenüber dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH-Statut). Der dort vorgesehene Auffangtatbestand der „sonstigen Formen sexueller Gewalt“, der wegen mangelnder Bestimmtheit nicht in das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) überführt wurde, setzt nicht zwingend eine Nötigungskomponente voraus. Zum anderen wird das VStGB durch die Aufnahme des sexuellen Übergriffs an das 2016 reformierte Sexualstrafrecht des Strafgesetzbuches (StGB) angepasst, wodurch mögliche Auslegungsschwierigkeiten vermieden werden.[2] Der djb begrüßt dabei ausdrücklich die in der Gesetzesbegründung vorgesehene völkerrechtsfreundliche und kontextsensible Auslegung des Merkmals des Sexualbezugs (S. 25, 29). Dadurch wird deutlich, dass nicht etwa das § 177 StGB zugrunde gelegte Verständnis des Sexualbezugs übertragen wird, sondern die Völkerstrafrechtsverfahren inhärenten unterschiedlichen kulturellen und religiösen Besonderheiten berücksichtigt werden sollen.  

Der djb begrüßt auch die Aufnahme des Tatbestands der sexuellen Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Eine Angleichung an das IStGH-Statut erscheint angesichts der Relevanz des Tatbestands in der bisherigen Rechtsprechung des IStGH angezeigt.[3]  

Nachdrücklich begrüßt der djb die Erweiterung des Tatbestands der erzwungenen Schwangerschaft. Mit der Aufnahme der Absichtsvariante „um Taten nach den §§ 6 bis 13 zu begehen“ ist sichergestellt, dass der Tatbestand künftig nicht mehr nur in ethnisch motivierten Konflikten zur Anwendung kommen kann. Zwar regt der djb weiterhin eine gänzliche Abschaffung des Absichtserfordernisses an.[4] Denn das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung ist im internationalen Recht seit der Verabschiedung des IStGH-Statuts 1998 deutlich gestärkt worden, sodass eine zusätzliche Einschränkung auf subjektiver Tatseite nicht mehr erforderlich erscheint. Gleichwohl dürfte die im RefE vorgesehene Ergänzung Strafbarkeitslücken gegenüber dem IStGH-Statut effektiv schließen. Angesichts der nach wie vor bestehenden Abweichung zum IStGH-Statut Statut (keine Bezugnahme auf die völkerstrafrechtlichen Kernverbrechen, sondern allgemeiner auf andere – nicht notwendigerweise strafbewehrte – Verstöße gegen das Völkerstrafrecht) trifft den Gesetzgeber allerdings eine Prüfpflicht in Bezug auf die künftige Entwicklung der Rechtsprechung des IStGH.

Auch die Umsetzung der djb-Forderung nach der Aufnahme des erzwungenen Schwangerschaftsabbruchs als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen wird begrüßt. Angesichts eines im VStGB – im Gegensatz zum IStGH-Statut – fehlenden Auffangtatbestands, der derartige Handlungen erfassen könnte, ist die explizite Kriminalisierung folgerichtig.[5] Der Gesetzgeber wird weiterhin die Rechtsprechung des IStGH zum Auffangtatbestand der sonstigen Formen sexueller Gewalt zu beobachten haben. Es wird fortlaufend zu prüfen sein, ob die Tatvarianten im VStGB ausreichend sind, um alle vom Auffangtatbestand des IStGH-Statuts erfassten Verhaltensweisen abzudecken. Dabei ist auch das Verständnis der Anklagebehörde des IStGH von geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt in den Blick zu nehmen und darauf zu überprüfen, ob sich hieraus Strafbarkeitslücken ergeben könnten.[6]

In gesetzessystematischer Hinsicht ist es wünschenswert, die Straftaten gegen die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung jeweils unter eigenen Nummern in § 7 Abs. 1, § 8 Abs. 1 VStGB aufzuführen. Dies würde nicht nur zu mehr Übersichtlichkeit angesichts der recht komplexen Tatbestände führen, sondern auch die unterschiedlichen geschützten Rechtsgüter der sexuellen bzw. reproduktiven Selbstbestimmung in den Vordergrund rücken. Der Gesetzgeber ist nicht an die Systematik des IStGH-Statuts gebunden, das eine solche Trennung ebenfalls nicht vornimmt, wie schon die vom Statut abweichende Strukturierung der Kriegsverbrechen in den §§ 8-12 VStGB verdeutlicht.

2. Geschlechtsverständnis des VStGB

Im RefE ist bei der Tatbestandsalternative der erzwungenen Schwangerschaft die Bezeichnung „schwangerer Mensch“ in Abkehr von der bisherigen Formulierung „schwangere Frau“ vorgesehen. Der djb begrüßt diesen Vorschlag nachdrücklich. Die geschlechtsneutrale Formulierung verdeutlicht, dass sich die Verbrechen gegen Opfer jeglichen Alters und jeglichen Geschlechts richten können (S. 11, 13, 26). Der Hinweis auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur Dritten Option[7] im RefE (S. 26 f., 31) verdeutlicht darüber hinaus, dass der Gesetzgeber den völkerstrafrechtlichen Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität stärken will. Dies ist uneingeschränkt zu begrüßen.

Allerdings ist der Rückgriff auf die unklare und umstrittene Definition von „Geschlecht“ in Art. 7 Abs. 3 IStGH-Statut hierfür nicht zuträglich. Nach Art. 7 Abs. 3 IStGH-Statut „bezieht sich der Ausdruck ‚Geschlecht‘ auf beide Geschlechter, das männliche und das weibliche, in gesellschaftlichem Zusammenhang“ und „hat keine andere als die vorgenannte Bedeutung“.[8] Was damit genau unter den Terminus „gender“ in Art. 7 Abs. 3 im IStGH-Statut fällt, war und ist Gegenstand einer intensiven Debatte. Kritik löst dabei die ambivalente Formulierung aus, nach der Geschlecht gleichzeitig als sozial konstruiert verstanden und auf „das männliche und das weibliche“ Geschlecht beschränkt sein soll.[9] So ist insbesondere die Inklusion von der sexuellen Orientierung in dem Geschlechtsbegriff des IStGH-Statuts nicht eindeutig.[10] Auch ist nach dem Wortlaut der Definition eine Interpretation möglich, die beispielsweise intergeschlechtliche Personen, aber auch Geschlechter jenseits von „männlich“ und „weiblich“ nicht erfasst.[11]

Der djb regt daher an, in der Gesetzesbegründung klarzustellen, dass Geschlecht im Sinne des VStGB weit zu verstehen ist und auch die sexuelle Orientierung erfasst. Das Verständnis von „Geschlecht“ ist insbesondere für den Straftatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit der Verfolgung aufgrund des Geschlechts zentral. Für das Vorliegen dieses Völkerstraftatbestands wird sich derzeit noch auf das Geschlechtsverständnis gemäß Art. 7 Abs. 3 IStGH-Statut berufen.[12] Die durch die ambivalente Formulierung des IStGH-Statuts entstehenden Unsicherheiten dürften sich daher im VStGB forttragen. Wenn der Gesetzgeber die Definition des IStGH unkommentiert übernimmt, könnten Gerichte den Verfolgungstatbestand möglicherweise dahingehend auslegen, dass die Diskriminierung von Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung nicht erfasst ist.[13] Eine eindeutige Klarstellung zur Einbeziehung der sexuellen Orientierung in das Geschlechtsverständnis ist umso wichtiger, als der deutsche Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zum Inkrafttreten des VStGB noch davon ausgegangen ist, dass die Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung nicht unter den Auffangtatbestand des § 7 Abs. 1 Nr. 10 Var. 8 VStGB – die Verfolgung „aus anderen nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts anerkannten Gründen“ – fällt,[14] die Betroffenen also gar nicht vom Tatbestand der Verfolgung erfasst wären.

Rechtsanwender*innen sollten sich beim Tatbestand der Verfolgung aufgrund des Geschlechts an der Interpretation der Anklagebehörde des IStGH orientieren, die bei einem sozial konstruktivistischen Geschlechtsverständnis („within the context of society“) sowohl die Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung als auch der Geschlechtsidentität erfassen will.[15] Außerdem erfasst der Begriff „Geschlecht“ im Rahmen der geschlechtsbezogenen Verfolgung auch biologische Geschlechtsmerkmale und ermöglicht die Inklusion der Verfolgung von intergeschlechtlichen Personen.  Dass auch die Verfolgung von Personen aufgrund der genannten Merkmale unter den Verfolgungstatbestand fallen sollte, ist nicht nur menschenrechtlich,[16] sondern auch völkerstrafrechtlich geboten.[17] Jedenfalls aber trifft den Gesetzgeber im Hinblick auf das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Verfolgung aufgrund des Geschlechts eine Prüfpflicht hinsichtlich der künftigen Rechtsprechung des IStGH und ggf. entstehender Strafbarkeitslücken.[18]

3. Strafprozessuale Änderungen

Der Gesetzesentwurf sieht vor, die Nebenklagemöglichkeit, den Anspruch auf Beiordnung eines Rechtsbeistands sowie einen Anspruch auf kostenlose psychosoziale Prozessbegleitung angesichts der Schwere der Straftaten im VStGB und der Auswirkungen dieser Straftaten für die Opfer von Völkerrechtsverbrechen zu erweitern. Dieser Vorstoß ist sehr zu begrüßen. Er ist aus Opferschutzgesichtspunkten notwendig und für eine effektive Durchführung von völkerstrafrechtlichen Verfahren unerlässlich. Die Nebenklage bei Völkerstraftaten garantiert Betroffenen nunmehr auch unabhängig von daneben vorliegenden Straftaten nach dem StGB Informationsrechte und bietet ihnen umfassende Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Dies ist zentral für Völkerstraftaten, die in besonderem Maße von der Teilnahme von Verletzten, die gleichzeitig Zeug*innen sind, abhängen. Ebenso zentral sind Ansprüche auf einen Verfahrensbeistand nach § 397a Abs. 1 StPO sowie auf kostenlose psychosoziale Prozessbegleitung, denn diese tragen dazu bei, das Kostenrisiko zu senken, eine qualifizierte Betreuung und Unterstützung im Verfahren zu bieten und das Risiko einer Sekundärviktimisierung zu verringern, welches bei erheblich traumatisierenden Völkerrechtsverbrechen besonders groß sein dürfte. Der Entwurf trägt somit grundsätzlich dazu bei, bisher bestehende Rechtsunsicherheiten für Betroffene von Völkerstraftaten zu reduzieren.[19]

Allerdings garantiert die im Entwurf vorgesehene Konzeption diese erweiterten Rechte nicht für alle Betroffene von geschlechtsbezogener, sexualisierter und reproduktiver Gewalt. Einschränkungen ergeben sich zum einen aus den in § 395 Abs. 1 Nr. 4a StPO-E abschließend aufgezählten Rechtsgütern, deren Verletzung zur Nebenklage berechtigen soll, zum anderen aus den Ausführungen in der Begründung, die die Gefahr einer einschränkenden Auslegung bergen. Beides wird dem Charakter von Völkerrechtsverbrechen nicht gerecht. Auch die spezifische Situation der Opfer entsprechender Taten kann so nicht angemessen berücksichtigt werden. Demgegenüber vorzugswürdig wären eine Nebenklagemöglichkeit, Beistandsbestellung sowie ein Anspruch auf kostenlose psychosoziale Prozessbegleitung für alle Opfer von Völkerrechtsverbrechen, ohne diese auf gewisse Fallkategorien zu beschränken. Dies entspricht auch der Systematik des bisherigen § 395 Abs. 1 StPO. Aufgrund der für die Nebenklagebefugnis bestehenden Voraussetzung der Verletzteneigenschaft nach § 373b StPO wäre auch keine Entgrenzung der Nebenklage zu erwarten: Voraussetzung für die Nebenklagebefugnis ist stets die unmittelbare Rechtsgutsbeeinträchtigung oder ein unmittelbar erlittener Schaden.

Der djb regt deshalb an, bei der Nebenklageberechtigung auf die Aufzählung einzelner Rechtsgüter zu verzichten und diese wie auch sonst üblich nach der Verletzteneigenschaft gem. § 373b StPO zu bestimmen. Zudem sollten alle Völkerstraftaten in die Kataloge zur Nebenklageberechtigung, Beistandsbestellung und kostenlosen psychosozialen Prozessbegleitung aufgenommen werden.

Im Einzelnen:

a. Anknüpfung der Nebenklageberechtigung an eine Rechtsgutsverletzung in § 395 Abs. 1 Nr. 4a StPO-E

Der Entwurf sieht vor, § 395 Abs. 1 StPO, der die Befugnis zum Anschluss als Nebenkläger*in regelt, u.a. um eine Nr. 4a zu erweitern. Nebenklageberechtigt sollen dadurch Personen werden, die durch eine rechtswidrige Tat nach den §§ 6 bis 8 und 10 bis 12 des VStGB in ihren Rechten auf körperliche Unversehrtheit, Freiheit, oder auf religiöse, sexuelle oder reproduktive Selbstbestimmung oder als Kind in ihrem Recht auf ungestörte körperliche und seelische Entwicklung verletzt sind. Entsprechend sind im Entwurf Änderungen bei dem Recht auf Bestellung eines Rechtsbeistands (§ 397a Abs. 2 StPO-E, § 397a Abs. 6 StPO-E) sowie bei dem Anspruch auf kostenlose psychosoziale Prozessbegleitung (§ 406g Abs. 3 S. 1 StPO-E) vorgesehen.

aa. Verkürzte Aufzählung relevanter Individualrechtsgüter

Durch die Aufzählung einzelner Individualrechtsgüter in § 395 Abs. 1 Nr. 4a StPO-E bleiben wesentliche, vom VStGB erfasste Rechtsgüter unberücksichtigt. So schützt zum Beispiel der Völkermordtatbestand neben der körperlichen auch die seelische Unversehrtheit sowie das Recht auf Familie als Individualrechtsgüter.[20] Ferner schützen Verbrechen gegen die Menschlichkeit neben Leben, Gesundheit und Freiheit auch die Menschenwürde der Opfer.[21] Insbesondere das Verbot der Folter nach § 7 Abs. 1 Nr. 5 VStGB schützt auch vor seelischen Schäden oder Leiden.[22] Der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit der Verfolgung nach § 7 Abs. 1 Nr. 10 VStGB schützt vor Entziehungen oder Einschränkungen grundlegender Menschenrechte und umfasst auch die geistige Unversehrtheit.[23] Eine abschließende Auflistung der Individualrechtsgüter sieht das Verfolgungsverbrechen gerade nicht vor.[24]

Insbesondere Formen geschlechtsbezogener Verfolgung, die ohne Verletzung des Rechts auf sexuelle oder reproduktive Selbstbestimmung begangen werden, wären von § 395 Abs. 1 Nr. 4a StPO-E nicht erfasst.[25] Ein Beispiel stellt die systematische Diskriminierung von Frauen und Mädchen durch die Taliban in Afghanistan dar, deren Recht auf Arbeit und Bildung primär aufgrund von geschlechterhierarchisierenden Vorstellungen eingeschränkt wird.[26] Derartige Taten wären aber nicht von der abschließenden Aufzählung von zur Nebenklage berechtigenden Individualrechtsgütern erfasst.

Ebenfalls nicht erfasst wäre das geschlechtsbezogene Verbrechen der erzwungenen Ehe, das unter § 7 Abs. 1 Nr. 8 VStGB fallen kann.[27] Denn in der IStGH-Rechtsprechung ist ausdrücklich anerkannt, dass Zwangsehen nicht primär als sexualisierte Gewalt anzusehen sind, sondern durch den Exklusivitätsanspruch des „Ehegatten“ und die Verletzung des Menschenrechts auf das freiwillige Eingehen einer Ehe gekennzeichnet sind.[28] Die von den Opfern erlittenen Verletzungen liegen vor allem in der Ächtung durch die Gesellschaft, im mentalen Trauma, dem Angriff auf die Würde des Opfers sowie in der Entziehung des Rechts auf freiwillige Eingehung einer Ehe.[29]

bb. Gefahr einer zu restriktiven Auslegung durch die Aufzählung in der Gesetzesbegründung

In der Begründung zu § 395a Abs. 1 Nr. 2a und § 395 Abs. 1 Nr. 4a StPO-E (S. 33 ff.) findet sich eine Aufzählung, welche Rechtsgüter durch welche Tatbestände insbesondere geschützt würden. Laut dem Entwurf wird zum Beispiel das Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung insbesondere durch die Tatbestände des § 7 Abs. 2 Nr. 6 VStGB sowie § 8 Abs. 1 Nr. 4 VStGB geschützt (S. 36). Der Tatbestand der Verfolgung nach § 7 Abs. 1 Nr. 10 VStGB findet einzig in Beziehung zum Rechtsgut der religiösen Selbstbestimmung Erwähnung (S. 36). Wenngleich die Auflistung nicht abschließend zu verstehen ist, besteht durch die Unvollständigkeit doch die Gefahr einer einschränkenden Auslegung.[30] Der djb regt an, auf die Aufzählung zu verzichten.

cc. Verkürzung gegenüber § 373b Absatz 1 StPO

Problematisch an dieser Konzeption ist außerdem, dass die Anknüpfung an eines der aufgezählten Individualrechtsgüter offenbar eine Einschränkung gegenüber den sonst geltenden Voraussetzungen für die Nebenklage bezweckt. So sieht § 373b Absatz 1 StPO vor, dass eine Person durch eine Straftat verletzt (und damit ggf. nach § 395 StPO zur Nebenklage berechtigt) ist, wenn sie durch die Tat in ihren Rechtsgütern unmittelbar beeinträchtigt ist oder unmittelbar einen Schaden erlitten hat.

Demgegenüber knüpft § 395 Absatz 1 Nr. 4a StPO-E ausschließlich an die Verletzung eines der aufgezählten Individualrechtsgüter an. Dabei ist unklar, ob nur eine Verletzung des jeweils laut RefE unmittelbar geschützten Rechtsguts zur Nebenklage berechtigen soll. Dieses Verständnis wird durch die Begründung im Hinblick auf die Eignungsdelikte der § 6 Abs. 1 Nr. 3 und 4 VStGB nahegelegt. Diese Delikte sollen laut RefE nur dann zur Nebenklage berechtigen, wenn eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit (für § 6 Abs. 1 Nr. 3 VStGB) bzw. der reproduktiven Selbstbestimmung (für § 6 Abs. 1 Nr. 4 VStGB) eingetreten ist.

Weshalb gerade im Völkerstrafrecht eine Einschränkung des Verletztenbegriffs vorgenommen werden soll, ist aus der Begründung nicht ersichtlich. Erschwert wird dieses Problem dadurch, dass bei vielen völkerstrafrechtlichen Tatbeständen das geschützte Rechtsgut umstritten ist und sich nicht auf die im RefE aufgezählten Rechtsgüter beschränkt. Dies liegt auch darin begründet, dass die Zuordnung geschützter Rechtsgüter zu Straftatbeständen im deutschen Recht nicht ohne Weiteres auf das Völkerstrafrecht übertragbar ist.

Völkerstraftaten können regelmäßig durch vielfältige Einzelhandlungen begangen werden, die unterschiedliche rechtlich geschützte Interessen verletzen können. So können beispielsweise Vergewaltigungen als Völkermordhandlung angesehen werden (je nach Umständen § 6 Nr. 2, 3, 4 VStGB), ohne dass der Völkermordtatbestand primär die sexuelle Selbstbestimmung schützen würde.[31] Gleiches gilt beispielsweise für das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Folter (§ 7 Abs. 1 Nr. 5 VStGB). Ob derartige Verletzungen nach der gesetzgeberischen Konzeption zur Nebenklage berechtigen würden, ist unklar. Den Völkerstrafverfahren innewohnenden Besonderheiten sollte aber auch vor deutschen Gerichten Rechnung getragen werden. Hierbei sollte eine Parallele zu Art. 68 IStGH-Statut gezogen und dies in der Gesetzesbegründung festhalten werden. Art. 68 Abs. 3 IStGH-Statut gewährt allen Betroffenen Verfahrensrechte, soweit ihre persönlichen Interessen betroffen sind. Eine abschließende Aufzählung von Rechtsgütern oder sonstige einengende Voraussetzungen aufseiten der Betroffenen finden sich nicht. Dies entspricht auch dem gesetzgeberisch erklärten Ziel, das IStGH-Statut umzusetzen. Eine Ausuferung der Nebenklageberechtigung ist, insbesondere unter Berücksichtigung von § 397b StPO-E, nicht zu erwarten. Denn die grundsätzliche Voraussetzung der Nebenklageberechtigung ist bereits eine Verletzung durch eine rechtswidrige Tat i.S.d. § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB, die vorliegt, wenn ein Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht ist. Zu Völkerstraftaten gehört sowohl ein Kontextelement als auch eine jeweilige Einzelhandlung. Soweit unter diesen Voraussetzungen eine Verletzteneigenschaft bejaht wird, ist einer Ausuferung der Nebenklage ausreichend vorgebeugt. 

b. Beschränkung der Opferrechte auf bestimmte Völkerstraftaten

Es leuchtet nicht ein, warum die Nebenklagebefugnis für Kriegsverbrechen gegen das Eigentum und sonstige Rechte (§ 9 VStGB) unter keinen Umständen möglich sein soll, obwohl auch diese Individualrechtsgüter schützen.[32] Außerdem stellen Kriegsverbrechen gegen das Eigentum gleichermaßen wie andere Völkerrechtsverbrechen gravierendste Menschenrechtsverletzungen dar, deren Bedeutung auch in der deutschen Völkerstrafrechtspraxis zunehmend gewachsen ist.[33]

Aufgrund bestehender Dynamiken in der menschenrechtlichen und völkerstrafrechtlichen Entwicklung von Völkerrechtsverbrechen sowie der sich in der Entwicklung befindenden, teils vom Zufall abhängenden nationalen strafrechtlichen Aufarbeitung von Völkerrechtsverbrechen, ist Flexibilität geboten. Weder normativ, rechtspolitisch noch aus Opferschutzgesichtspunkten erscheint eine Hierarchisierung zwischen den verschiedenen Betroffenen von Völkerrechtsverbrechen gerechtfertigt.

Der djb lehnt die Beschränkung der Nebenklagebefugnis, der Beistandsbestellung und der kostenlosen psychosozialen Prozessbegleitung auf bestimmte Völkerstraftatbestände daher ab und regt an, die Nebenklagebefugnis sowie die davon abgeleiteten Ansprüche auf einen Verfahrensbeistand und die kostenlose psychosoziale Prozessbegleitung auf alle Betroffenen von Völkerrechtsverbrechen zu erstrecken. Nur so kann eine umfassende Gewährleistung der Opferrechte für alle Betroffenen geschlechtsbezogener, sexualisierter und reproduktiver völkerstrafrechtlicher Gewaltverbrechen auch in ihren zukünftigen Ausprägungen garantiert werden.

 

Prof. Dr. Maria Wersig

Präsidentin

 

Prof. Dr. Leonie Steinl

Vorsitzende der Kommission Strafrecht 

 

 


[1] Deutscher Juristinnenbund, Frauenpolitische Forderungen zur Bundestagswahl 2021, 5.7.2021, S. 20 f., abrufbar unter https://www.djb.de/fileadmin/user_upload/presse/stellungnahmen/st21-15_Wahlforderungen_final.pdf (letzter Zugriff: 17.8.2023).

[2] Ausführlich Altunjan/Steinl, Rechtswissenschaft 2021, 335, S. 338 ff.

[3] So hat der IStGH Germain Katanga (Urteil vom 7.3.2014, TC II, ICC-01/04-01/07-3436-tENG, paras. 958 ff.) und Dominic Ongwen (Urteil vom 4.2.2021, TC X, ICC-02/04-01/15-1762-Red, paras. 3044 ff., bestätigt durch Urteil vom 15.12.2022, AC, ICC-02/04-01/15-2022-Red, paras. 1661 ff.) u.a. wegen sexueller Sklaverei verurteilt.

[4] Vgl. Altunjan, Reproductive Violence and International Criminal Law, 2021, S. 252 ff.

[5] Vgl. Altunjan/Steinl, Rechtswissenschaft 2021, 335, S. 354.

[6] Die Anklagebehörde des IStGH hat bereits eine Erneuerung des Policy Papers zu geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt angekündigt, ICC, The Office of the Prosecutor launches public consultation to renew Policy Paper on Sexual and Gender-based Crimes, 12.5.2023, abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/news/office-prosecutor-launches-public-consultation-renew-policy-paper-sexual-and-gender-based (letzter Zugriff: 17.8.2023).

[7] BVerfGE, Beschluss v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16.

[8] Der englische Originaltext lautet: “For the purpose of this Statute, it is understood that the term "gender" refers to the two sexes, male and female, within the context of society. The term ‘gender’ does not indicate any meaning different from the above”.

[9] Triffterer/Ambos-Hall/Powderly/Hayes, The Rome Statute of the International Criminal Court, A Commentary, Third Edition, Art. 7(3), para. 158; vgl. instruktiv Oosterveld, The Definition of Gender in the Rome Statute of the International Criminal Court: A Step Forward or Back for International Criminal Justice, Harvard Human Rights Journal 18, 2005, S. 55 ff. Sie wird auch als „constructively ambiguous“ bezeichnet, Rosenthal/Oosterveld, Gender and the ILC’s 2019 Draft Articles on the Prevention and Punishment of Crimes Against Humanity, African Journal of International Criminal Justice 6 (2), 2020, S. 216; Oosterveld, Constructive Ambiguity and the Meaning of “Gender” for the International Criminal Court, International Feminist Journal of Politics 16 (4), 2014, S. 564. 

[10] Vgl. die Untersuchung dazu Kappler, Die Verfolgungen wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Nomos 2019, S. 143 ff., die davon ausgeht, dass die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität nicht vom Art. 7 Abs. 3 IStGH-Statut erfasst sind; anders hingegen u.a. Suhr, Rainbow Jurisdiction at the International Criminal Court, Den Haag 2022, S. 222 ff. So auch (jedoch ohne nähere Begründung) der IStGH in der Reparationsentscheidung im Fall Lubanga Dyilo, TC I, 7.8.2012, ICC-01/04-01/06, para. 191; Oosterveld vertrat zwar damals, dass dem IStGH durch die offene Definition eine Interpretation erlaubt sei, die die Entwicklungen der Vereinten Nationen reflektiert, insbesondere hinsichtlich der Nichtdiskriminierung auf Grundlage der sexuellen Orientierung, Oosterveld, The Definition of Gender in the Rome Statute of the International Criminal Court: A Step Forward or Back for International Criminal Justice, Harvard Human Rights Journal 18, 2005, S. 84. Allerdings zieht sie selbst Bilanz und bemängelt die über die Jahre seit dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts bestehende Debatte, Oosterveld, Constructive Ambiguity and the Meaning of “Gender” for the International Criminal Court, International Feminist Journal of Politics 16 (4), 2014, S. 563 ff.

[11] Vgl. Velásquez, Intersex: A Neglected Category in the Understanding of Gender-Based Crimes at the ICC?,  Just Security, 9.3.2022, abrufbar unter: http://opiniojuris.org/2022/03/09/intersex-a-neglected-category-in-the-understanding-of-gender-based-crimes-at-the-icc/ (letzter Zugriff: 17.8.2023); Triffterer/Ambos-Hall/Powderly/Hayes, The Rome Statute of the International Criminal Court, A Commentary, Third Edition, Art. 7(3), para. 159.

[12] Werle/Jeßberger, MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, VStGB § 7 Rn. 123.

[13] Für den IStGH selbst besteht nach der Anklagebehörde des IStGH für die Verfolgung geschlechtsbezogener Taten bei der Anwendung und Interpretation des Statuts aufgrund des Gebots der nicht nachteiligen Unterscheidungsklausel nach Art. 21 Abs. 3 IStGH-Statut die Möglichkeit, auf aktuelle Menschenrechtsstandards zu verweisen. Art. 21 Abs. 3 IStGH-Statut besagt, dass die Anwendung und Auslegung des Statuts mit den international anerkannten Menschenrechten vereinbar sein müsse und keine benachteiligende Unterscheidung etwa aufgrund des Geschlechts oder sonstigen Status machen könne, vgl. Office of the Prosecutor, Policy on the Crime of Gender Persecution, Dezember 2022, para. 32, abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/sites/default/files/2022-12/2022-12-07-Policy-on-the-Crime-of-Gender-Persecution.pdf (letzter Zugriff: 17.8.2023).

[14] BT Drs. 14/8524, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches, 13.3.2002, S. 22. Es heißt aber: „Die Gesetzesformulierung bleibt insoweit aber offen für den Fall, dass sich entsprechendes Völkergewohnheitsrecht in der Zukunft herausbildet“, S. 22; vgl. auch noch gegen einen dahingehenden Verbotssatz des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts, Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 5. Aufl. 2020, Rn. 1098.

[15] In einem im Dezember 2022 veröffentlichen Policy Paper zur Verfolgung aus Gründen des Geschlechts der Anklagebehörde des IStGH betonte sie, dass sie unter dem „context of society“ im Rahmen der Geschlechtsdefinition des Art. 7 Abs. 3 IStGH-Statut auch die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität erfasst. Geschlechtsbezogene Verfolgung erfasst damit eine Verfolgung aufgrund des Geschlechts, die gegen Personen gerichtet sein kann wegen biologischer Merkmale, aber auch wegen des sozial konstruktivistischen Geschlechts, das eben die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität mit einschließt, vgl. Office of the Prosecutor, Policy on the Crime of Gender Persecution, Dezember 2022, S. 3, abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/sites/default/files/2022-12/2022-12-07-Policy-on-the-Crime-of-Gender-Persecution.pdf (letzter Zugriff: 17.8.2023). Diese Entwicklung des IStGH-Statuts daher als “significant step in the development of international criminal law related to the investigation and prosecution of SGBV crimes” bezeichnend, Dutton/Sterio, The ICC’s 2022 Gender Persecution Policy in Context: An Important Next Step, Just Security, 1.6.2023, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/86760/the-iccs-2022-gender-persecution-policy-in-context-an-important-next-step-forward/ (letzter Zugriff: 17.8.2023). Der djb hat bereits im Rahmen der Ergänzung des § 46 Abs. 2 S. 2 StGB ein Verständnis von „geschlechtsspezifischen“ Beweggründen angeregt, das auch das Merkmal der Sexualität und damit „gegen die sexuelle Orientierung gerichtete“ Beweggründe miteinbezieht. So heißt es: „Grundsätzlich sind unter das Merkmal „geschlechtsspezifisch“ […] auch alle Taten zu fassen, die dadurch motiviert sind, dass sich das Opfer nicht in die gesellschaftlich geprägten Erwartungen an Geschlechterrollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale einfügt. Dies ermöglicht auch eine Auslegung, die das Merkmal der Sexualität einbezieht, etwa mit Blick auf die gesellschaftliche Erwartung von Heterosexualität (Heteronormativität)“, djb, Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz/Entwurf eines Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt“, 24.8.2022, abrufbar unter: https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st22-14 (letzter Zugriff: 17.8.2023).

[16] Selbst wenn es noch kein bindendes völkerrechtliches Instrument gibt, wird ein stärkerer menschenrechtlicher Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität verfolgt, vgl. UNHCR, Guidelines on International Protection No 9: Claims to Refugee Status based on Sexual Orientation and/or Gender Identity within the context of Article 1A(2) oft he 1951 Convention and/or its 1967 Protocol relating to the Status of Refugees, UN Doc. HCR/GIP/12/9, 23.10.2012; vgl. Human Rights Council, Resolution adopted by the Human Rights Council on 30 June 2016, UN Doc. A/HRC/RES/32/2, 15.7.2016; vgl. die Yogyakarta Principles plus 10 vom November 2017, abrufbar unter: http://yogyakartaprinciples.org/principles-en/yp10/ (letzter Zugriff: 17.8.2023); vgl. UN General Assembly, Protection against violence and discrimination based on sexual orientation and gender identity, UN Doc. A/75/235, 27.7.2022.

[17] Vgl. Oosterveld, Gender, Persecution, And the International Criminal Court: Refugee Law’s Relevance to the Crime against Humanity of Gender-based Persecution, Duke Journal of Comparative & International Law 17, 2006, S. 76 ff. Auch international zeichnet sich eine Rechtsprechungslinie ab, die ein weites Verständnis der geschlechtsbezogenen Verfolgung unter Einbeziehung der Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität verfolgt, vgl. zur Analyse der Rechtsprechung des kolumbianischen Sondergerichts für den Frieden, Aboueldahab, Gender-based persecution as a crime against humanity: A milestone for LGBTI rights before the Colombian Special Jurisdiction for Peace, 4.5.2021, abrufbar unter: https://www.ejiltalk.org/gender-based-persecution-as-a-crime-against-humanity-a-milestone-for-lgbti-rights-before-the-colombian-special-jurisdiction-for-peace/ (letzter Zugriff: 17.8.2023).

[18] Insbesondere die Rechtsprechung im Al Hassan Fall ist hier von Bedeutung. Dies ist der erste Fall, der den Anklagepunkt der geschlechtsbezogenen Verfolgung enthält, vgl. Prosecutor v. Al Hassan Ag Abdoul Aziz Ag Mohamed Ag Mahmoud, Public redacted version of "Submission of Prosecution Trial Brief“, 18 May 2020, ICC-01/12-01/18-819-Conf, 18.5.2020, ICC-01/12-01/18.

[19] Vgl. ausführlich zu den Rechtsunsicherheiten ECCHR, Betroffenenrechte stärken – Strafbarkeitslücken schließen, März 2022, abrufbar unter: https://www.ecchr.eu/fileadmin/user_upload/ECCHR_Stellungnahme_Reform_dt._Voelkerstrafrecht.pdf (letzter Zugriff: 17.8.2023).

[20] Kreß, MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, VStGB § 6 Rn. 2.

[21] Werle/Jeßberger, MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, VStGB § 7 Rn. 1.

[22] Werle/Jeßberger, MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, VStGB § 7 Rn. 72.

[23] Werle/Jeßberger, MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, VStGB § 7 Rn. 109, 110.

[24] Vgl. Office of the Prosecutor, Policy on the Crime of Gender Persecution, Dezember 2022, para. 38: „The Office recognises that the Court and other tribunals have produced a rich body of case law illustrating a broad range of acts and omissions that, individually or cumulatively, have amounted to severe deprivations of fundamental rights. Conscious that a fixed definition of fundamental rights would not serve the interests of justice, these tribunals instead have recognised a wide variety of fundamental rights”, abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/sites/default/files/2022-12/2022-12-07-Policy-on-the-Crime-of-Gender-Persecution.pdf (letzter Abruf: 17.8.2023). S. a. Prosecutor v. Al Hassan Ag Abdoul Aziz Ag Mohamed Ag Mahmoud, Public redacted version Decision on the Prosecutor’s Application for the Issuance of a Warrant of Arrest for Al Hassan Ag Abdoul Aziz Ag Mohamed Ag Mahmoud, ICC-01/12-01/18, 22.5.2018, para. 88: “The Prosecutor alleges, first, that the people of Timbuktu suffered violations of their fundamental rights, viz. the rights to freedom of religion, freedom of expression, freedom of thought, freedom of association and assembly, freedom of movement, equality, education, privacy, personal dignity, security and property”.

[25] Bei der speziellen Verfolgung aufgrund des Geschlechts ist der Vorsatz der Diskriminierung entscheidend, Office of the Prosecutor, Policy on the Crime of Gender Persecution, Dezember 2022, para. 39, abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/sites/default/files/2022-12/2022-12-07-Policy-on-the-Crime-of-Gender-Persecution.pdf (letzter Zugriff: 17.8.2023). Geschlechtsbezogene Verfolgung bedeutet somit eine Einschränkung oder Verletzung von Menschenrechten, die Personen aufgrund ihres biologischen oder sozialen Geschlechts aufgrund von diskriminierenden Geschlechterrollen und -vorstellungen trifft, Triffterer/Ambos-Hall/Powderly/Hayes, The Rome Statute of the International Criminal Court, A Commentary, Third Edition, Art. 7(1)(h), para. 83. Dies fällt häufig, aber nicht zwangsläufig mit einer sexualisierten und/oder mit einer reproduktiven Komponente zusammen.

[26] Vgl. OHCHR, Afghanistan: Systematic crackdown on women’s and girl’s rights, UN experts say, 5.5.2023, abrufbar unter: https://www.ohchr.org/en/statements/2023/05/afghanistan-systematic-crackdown-womens-and-girls-rights-un-experts-say (letzter Zugriff: 17.8.2023); UN News, Afghanistan: Taliban ‘may be responsible for gender apartheid’ says rights expert, 19.6.2023, abrufbar unter: https://news.un.org/en/story/2023/06/1137847 (letzter Zugriff: 17.8.2023). Siehe instruktiv dazu, ob dies als geschlechtsbezogene Verfolgung vom IStGH verfolgt werden könnte, Qaane, Gender Persecution in Afghanistan: Could it come under the ICC’s Afghanistan investigation?, 29.5.2023, abrufbar unter: https://reliefweb.int/report/afghanistan/gender-persecution-afghanistan-could-it-come-under-iccs-afghanistan-investigation (letzter Zugriff: 17.8.2023); vgl. zur Forderung von Amnesty International, die Geschehnisse in Afghanistan als geschlechtsbezogene Verfolgung nach Art. 7(1)(h)-IStGH-Statut zu verfolgen, Amnesty International, The Taliban’s War on Women. The crime against humanity of gender persecution in Afghanistan, Mai 2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2023/05/afghanistan-talibans-treatment-of-women-and-girls-should-be-investigated-as-the-crime-against-humanity-of-gender-persecution/ (letzter Zugriff: 17.8.2023).

[27] Der IStGH fasst Zwangsehen unter “andere unmenschliche Handlungen” gem. Art. 7(1)(k) IStGH-Statut, Prosecutor v. Ongwen, Trial Judgment, ICC-02/04-01/15, 4.2.2021, paras. 2741 ff. Dieser Tatbestand wurde aus Bestimmtheitsgründen nicht in das VStGB übernommen und soll von § 7 Abs. 1 Nr. 8 VStGB abgedeckt werden, vgl. Werle/Jeßberger, MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, § 7 Rn. 98 f.

[28] Vgl. Prosecutor v. Ongwen, Trial Judgment, ICC-02/04-01/15, 4.2.2021, paras. 2748 ff.; Werle/Jeßberger, MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, § 7 Rn. 98.

[29] Vgl. die Hauptverfahrenskammer des IStGH in Ongwen: „[T]he harm suffered from forced marriage can consist of being ostracized from the community, mental trauma, the serious attack on the victim’s dignity, and the deprivation of the victim’s fundamental rights to choose his or her spouse”, Prosecutor v. Ongwen, Trial Judgment, ICC-02/04-01/15, 4.2.2021, paras. 2749.

[30] Auch in Bezug auf den völkerstrafrechtlichen Schutz von Kindern ist der Entwicklung Rechnung zu tragen, dass diese gerade nicht nur durch die „child-specific“ Verbrechen der § 6 Abs. 1 Nr. 5 und § 8 Abs. 1 Nr. 5 VStGB, sondern durch eine Bandbreite an Völkerrechtsverbrechen geschützt sind und damit auch durch diese in ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung in ihrer Kindheit beeinträchtigt sein können, vgl. instruktiv Aptel, Atrocity Crimes, Children and International Criminal Courts, 2023, S. 91 ff. Dies betrifft auch Mädchen.

[31] Im Fall von § 6 Abs. 1 Nr. 3 VStGB, der das Stellen der Gruppe unter Lebensbedingungen, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen unter Strafe stellt, kann der Tatbestand unter Umständen auch durch eine Massenvergewaltigung verwirklicht werden, selbst wenn dies im Einzelfall entschieden werden müsste, Kreß, MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, VStGB § 6 Rn. 56. Gleichermaßen kann der Tatbestand des § 6 Abs. 1 Nr. 4 VStGB vorliegen, wenn nach einer Vergewaltigung durch einen gruppenfremden Täter eine mögliche traumabedingte Zeugungsunwilligkeit des Tatopfers eintritt, vgl. Prosecutor v. Akayesu, Trial Judgement, ICTR-96-4-T, 2.9.1998, para. 508; vgl. Kreß, MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, VStGB § 6 Rn. 61. Für die Nebenklageberechtigung sollte hier genügen, dass das Opfer hier einen Schaden in Form der Vergewaltigung erlitten hat, unabhängig davon, ob dies letztlich auch eine Verletzung der reproduktiven Selbstbestimmung darstellt.

[32] § 9 VStGB erstreckt sich auf den Schutz des Privateigentums und dient als Ausdruck der individuellen Freiheit der freien Entfaltung der Persönlichkeit, Ambos, MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, VStGB § 9 Rn. 1.

[33] Vgl. für eine Übersicht zu Fällen in Deutschland (einschl. August 2022), in denen wegen des Kriegsverbrechen gegen das Eigentum Anklage erhoben wurde Keller, CEP Policy Paper, Strafverfolgung von deutschen Rückkehrerinnen aus Syrien und dem Irak. Erkenntnisse und Empfehlungen für Politik und Sicherheitsbehörden, August 2022, S. 10.