Stellungnahme: 23-22


zum Referentenentwurf zur Berufsschadensausgleichsverordnung vom 20. Juli 2023

Stellungnahme vom

Anlässlich des Entwurfs zur Berufsschadensausgleichsverordnung vom 20. Juli 2023 macht Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) darauf aufmerksam, dass die berufsschadensrechtlichen Regelungen des geltenden Opferentschädigungsrechts geschlechterspezifische Diskriminierungen bewirken.

Der Berufsschadensausgleich, wie auch die besondere berufliche Betroffenheit im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG, ermöglichen Opfern von Gewalt eine Kompensation schädigungsfolgebedingter Einkommensausfälle, die sich unmittelbar an eine Gewalttat anschließen und/oder sich auf Dauer durch Schädigungsfolgen manifestieren, den beruflichen Werdegang und Aufstieg nachteilig beeinflussen.

Für die Bemessung des Berufsschadensausgleich wird eine fiktive Betrachtung des Werdegangs zugrunde gelegt, die sich für Frauen aufgrund geschlechtsspezifischer Lebensläufe und geschlechterstereotyper Zuschreibungen nachteilig auswirkt. In der Folge fällt die Anspruchshöhe geringer aus oder der Anspruch entfällt vollständig.

Benachteiligungen von Frauen beim Berufsschadensausgleich

Der Berufsschadensausgleich basiert auf dem Leitbild eines linear verfolgten Bildungsweges, der jäh durch das oder die schädigenden Ereignisse durchbrochen wird (siehe BSchAV-E vom 20.6.2023, S. 15 zu § 3 Abs. 5). Gerade weibliche Opfer von Gewalt verfügen aber aufgrund der nach wie vor einseitigen Übernahme von Sorgearbeit häufiger über nicht-lineare Karriere- und Bildungswege.[1]  Haben Frauen wegen Schwangerschaft, Familie und Pflege ihre Aus- und Bildungsgänge unterbrochen oder erst später aufgenommen, so folgt daraus die Prognose eines schädigungsunabhängigen ausbleibenden beruflichen Aufstiegs. Diese Diskriminierung wird besonders durch intersektionale Bezüge verstärkt.

Darüber hinaus scheitert der berufliche Ausgleich überwiegend bei Schadensereignissen, die länger zurückliegen – Zeiten, in denen es zahlreiche Ausbildungsgänge für typischerweise weiblich besetzte Tätigkeiten (insbesondere in der Dienstleistungsbranche) noch nicht gab. Diese Gewaltopfer erhalten bis heute in der Regel keinen Ausgleich wegen besonderer beruflicher Betroffenheit, etwa weil ihrem damaligen Berufsbild erst später ein klassischer Ausbildungsgang zugrunde gelegt wurde, sie deshalb nicht als Fachkraft eingeordnet werden und damit ein ausgleichsrechtlich relevanter Aufstieg als implausibel angesehen wird.

Die geschlechtsspezifisch benachteiligende Wirkung des Opferentschädigungsrechts betrifft überdies vielfach Frauen, die vor oder nach der Schädigung Familie gegründet haben. Sie werden in den Prognoseentscheidungen zumeist auf teilzeitberufliche Perspektiven beschränkt. Vielfach geht auch mit der Zuschreibung von allenfalls teilzeitiger Erwerbstätigkeit die Annahme einher, dass ein beruflicher Aufstieg nicht zu erwarten war.

Die geschlechtsspezifische Diskriminierung im Berufsschadensausgleichsrecht setzt sich nicht zuletzt aufgrund des Gender-Pay-Gaps weiter fort. Aufgrund des Bezugs zum individuell vorausgehenden Brutto-Einkommen wird der Gender-Pay-Gap verfestigt.

Für eine geschlechtergerechte Durchführung des Berufsschadensausgleichs: BSchaV gleichstellungsrechtlich nachjustieren

Diese diskriminierenden Faktoren können über verordnungsrechtliche Maßgaben für eine geschlechtergerechte Durchführung des Berufsschadensausgleichs aufgelöst werden. Daher fordert der djb,

  1. dass die entgegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG rollenverfestigende Annahme von Teilzeittätigkeit für Mütter, die Sorgearbeit leisten, aufgegeben wird (betrifft insb. § 3 Abs. 5 und § 5 Abs. 2 BSchAV),
  2. dass eine Gleichwertigkeitsprüfung bereits ab 5 Jahren Berufserfahrung (Selbstständigkeit und Beschäftigung) sowie betrieblicher/außerbetrieblicher Fort- und Weiterbildung mit Berufsausbildungsgängen verordnungsrechtlich niedergelegt wird (betrifft § 3 Abs. 4, Abs. 5 BSchAV),
  3. dass auch der zweite und dritte Bildungsweg explizit in berufliche Potenzialprognose eingestellt werden (betrifft § 3 Abs, 6 BSchAV) und
  4. dass der Berufsschadensausgleich sich am branchen- und ortsüblichen Lohnniveau orientiert anstatt am vor Schädigung generierten Einkommen der Betroffenen (betrifft § 7 BSchaV).

Der djb regt daher eine geschlechtergerechte Nachjustierung der Berufsschadensausgleichsverordnung an.

Weiterer Reformbedarf im Opferentschädigungsrecht: umfassende Anerkennung von häuslichen und psychischen Gewalterfahrungen

Das Opferentschädigungsrecht hat darüber hinaus gleichstellungsrechtliche Bedeutung[2],  auf die der djb bereits im Rahmen der Reform des SGB XVI aufmerksam gemacht hat.[3]  Trotz der endlich erfolgten Öffnung des Anwendungsbereichs von Opferentschädigung für Opfer psychischer Gewalt entspricht die Rechtslage noch immer nicht den Anforderungen des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul- Konvention). Rechtliche Nachteile für Opfer von häuslicher und psychischer Gewalt bestehen fort. Kontextfaktoren wirtschaftlicher und/oder psychische Abhängigkeit sowie interpersonelle und familienrechtliche Zwänge wie die gemeinsame Sorge für Kinder bleiben unberücksichtigt und schließen die überwiegend weiblichen Opfer häuslicher und psychischer Gewalt von Leistungen zur Opferentschädigung aus.

Der djb hat bereits 2020 gefordert, das Recht der sozialen Entschädigung dahingehend zu ändern, dass ein Anspruch auf Unterstützung, Hilfe und Entschädigung nicht nur bei einer „körperlichen Gewalttat“ oder einer „schwerwiegenden“ psychischen Gewalttat vorliegt, sondern auch bei sonstiger psychischer Gewalt, durch welche die Gesundheit oder psychische Unversehrtheit der betroffenen Person ernsthaft beeinträchtigt wird.  Dies betrifft vor allem die meist weiblichen Betroffenen von Hassrede im Internet.

Auch fehlt eine gesetzliche Differenzierung zum vom BSG erst 2019 erneut bestätigten Grundsatz, dass der Verbleib oder die Rückkehr in gewaltvolle Beziehungen als leichtfertige Selbstgefährdung zum Ausschluss von Opferentschädigungen führen kann. Dieser Grundsatz verkennt, dass strukturell bedingt wirtschaftliche, familienrechtliche und/oder psychische Zwangslagen Frauen in diesen Beziehungen halten.

 

Prof. Dr. Maria Wersig

Präsidentin 

 

Prof. Dr. Cara Röhner 

Vorsitzende der Kommission Recht der sozialen Sicherung, Familienlastenausgleich

 

 


[1] Vgl. Bishu/Alkadry (2017). A systematic review of the gender pay gap and factors that predict it. Administration & Society, 49, 65–104; Bönke/Harnack/Wetter (2019). Wer gewinnt? Wer verliert?: Die Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt seit den frühen Jahren der Bundesrepublik bis heute; Malin/Jansen/Seyda/Flake (2019). Fachkräfteengpässe in Unternehmen: Fachkräftesicherung in Deutschland- diese Potenziale gibt es noch (Köln: Institut der deutschen Wirtschaft).

[2] Aus der Forschung: https://www.gffz.de/forschung/abgeschlossene-forschungsprojekte/geschlechtergerechtigkeit-in-der- entschaedigung-von-gewaltopfern, zuletzt aufgerufen am 08.08.2023. Zur Ausklammerung von Opfern häuslicher Gewalt: freiheitsrechte.org/themen/gleichbehandlung/opferentschaedigungsgesetz; verursacht durch die Entscheidungen des BSG vom 21.10.1998 – B 9 VG 6/97 R und vom 09.12.1998 – B 9 VG 8/97R. In jüngerer Rechtsprechung: LSG Berlin-Brandenburg vom 10.01.2019 – L 13 VG 3/18; dazu kritisch Giencke, in: Streit 2019,

S. 83-84; die hergebrachten Grundsätze bestätigend BSG vom 25.07.2019 – B 9 V 3/19 B.

[3] Entschädigung Betroffener bei psychischer Gewalt mit schweren Folgen, Themenpapier vom 07.02.2020, www.djb.de/presse/pressemitteilungen/detail/st20-09, zuletzt aufgerufen am 08.08.2023.