Stellungnahme: 21-12


zu dringendem gesetzgeberischen Handlungsbedarf zur Bekämpfung von Gewalt gegen Mädchen und Frauen

Stellungnahme vom

Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) bedankt sich für die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme zur Vorbereitung des Treffens der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Gewalt gegen Mädchen und Frauen wirksam begegnen“ am 11. Juni 2021.

Der djb hat mit seinem Bericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention (IK) in Deutschland vom 25. November 2020 (IK-Bericht) umfassend auf gesetzgeberischen und praktischen Handlungsbedarf zur Verbesserung der Lage von Opfern geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt hingewiesen, abrufbar unter: https://www.djb.de/fileadmin/user_upload/st20-31-IK-Bericht-201125.pdf. Ergänzend wird auf den Alternativbericht zur Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt des Bündnis Istanbul-Konvention aus Februar 2021 hingewiesen, an dem der djb ebenfalls beteiligt war (abrufbar unter: https://www.djb.de/fileadmin/user_upload/Alternativbericht-BIK-2021.pdf).

Weitere Forderungen an den Gesetzgeber im Umgang mit Gewalt gegen Frauen und Mädchen hat der djb im Policy Paper (20-28) zum Strafrechtlichen Umgang mit (tödlicher) Partnerschaftsgewalt vom 4. November 2020 dargelegt (abrufbar unter: https://www.djb.de/fileadmin/user_upload/st20-28_Partnerschaftsgewalt.pdf).

Zudem hat der djb in seinem Policy Paper (21-09) zu „Catcalling“ – Rechtliche Regulierung verbaler sexueller Belästigung und anderer nicht körperlicher Formen von aufgedrängter Sexualität gesetzgeberischen Handlungsbedarf identifiziert (abrufbar unter: https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st21-09).

Im Folgenden werden Forderungen zu gesetzgeberischen Handeln dargelegt. Zu den nachfolgenden Forderungen sind die jeweiligen Fundstellen im IK-Bericht und im Policy Paper vermerkt.

1) Fortbildungsverpflichtungen für Ermittlungsbehörden und Gerichte gesetzlich verankern (Policy Paper Partnerschaftsgewalt)

Zur Vereinheitlichung der Rechtsanwendungspraxis sind verpflichtende Teilnahmen an Fortbildungen für Staatsanwält*innen und Richter*innen zum Thema geschlechtsspezifischer Gewalt notwendig. Eine solche Verpflichtung könnte unter Berücksichtigung der richterlichen Unabhängigkeit im Richtergesetz des Bundes verankert werden. Gegenstand dieser Fortbildungsmaßnahmen sollen Ursachen und Auswirkungen von geschlechtsspezifischer Gewalt und die Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen und Sexualitätsmythen sein. Auch die Istanbul-Konvention sieht in Artikel 15 Abs. 1 vor, dass für Angehörige der Berufsgruppen, die mit Opfern oder Tätern von geschlechtsbezogener Gewalt zu tun haben, ein Angebot an geeigneten Aus- und Fortbildungsmaßnahmen zur Verhütung und Aufdeckung solcher Gewalt, zur Gleichstellung von Frauen und Männern, zu den Bedürfnissen und Rechten der Opfer sowie zur Verhinderung der sekundären Viktimisierung bei der Befragung und im Umgang mit den Opfern im Ermittlungs- und Gerichtsverfahren bereitgestellt wird. Zugleich weisen die Regelungen der Konvention und der erläuternde Bericht an verschiedenen Stellen auf die Notwendigkeit der Förderung einer Sensibilisierung und Aufklärung zu „Geschlechter-Stereotypen und Mythen zur männlichen bzw. weiblichen Sexualität“ hin.

Die Polizei hat häufig als erste Institution mit den Beteiligten häuslicher Gewalt Kontakt. Deshalb sind Programme zum polizeilichen Umgang mit häuslicher Gewalt entwickelt worden, die mancherorts bereits seit geraumer Zeit umgesetzt werden. Notwendig ist die verpflichtende, qualifizierte fortlaufende Aus- und Fortbildung aller Polizeikräfte, die in ihrem Dienst mit häuslicher Gewalt konfrontiert werden. Sie müssen im Stande sein, Risiken einzuschätzen und erste Schritte zur Stabilisierung der Situation des Opfers in die Wege zu leiten.

2) Recht auf kostenfreie psychosoziale Prozessbegleitung für alle Opfer häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt (djb IK-IK-Bericht, ab S. 22)

Ein Rechtsanspruch auf kostenfreie psychosoziale Prozessbegleitung besteht derzeit nur in bestimmten, eng gefassten und zum Teil im Ermessen des Gerichts stehenden Konstellationen. Der Zugang zur kostenlosen psychosozialen Prozessbegleitung knüpft dabei nicht an den Bedarf an, sondern wird nur für bestimmte Gruppen von Opfern nach § 406g Abs. 3 S. 1 StPO gewährt. Die einfache sowie die gefährliche Körperverletzung nach §§ 223, 224 StGB sind nicht vom Katalog des § 397a Abs. 1 StPO umfasst. Ebenfalls nicht erfasst ist die Nachstellung im Grunddelikt gemäß § 238 Abs. 1 StGB. Im Fall der Nachstellung ist eine Kostenbefreiung nur möglich, sofern die Verbrechenstatbestände nach Absatz 2 oder 3 der Norm verwirklicht sind. Damit wird eine Vielzahl von Fällen der häuslichen Gewalt sowie die Nachstellung nicht von der Möglichkeit kostenfreier Prozessbegleitung erfasst. Gerade in diesen Fällen werden sich viele Opfer – insbesondere solche, die ihre Interessen nicht selbst wahrnehmen können – im Strafprozess in einer massiven Stresssituation befinden, sodass es hier zu eklatanten Schutzlücken kommt.

Das Recht auf kostenfreie psychosoziale Prozessbegleitung auf alle Betroffenen von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt im Sinne der Istanbul-Konvention ausgeweitet wird. Es muss eine umfassende Begleitungsmöglichkeit unabhängig von starren Kategorien von Opfern geschaffen werden.

3) Nebenklagevertretung ist finanziell abzusichern (djb IK-IK-Bericht, ab S. 22)

Es ist sicherzustellen, dass Verfahrensbeistände und Nebenklagevertretungen ihre Unterstützung der Betroffenen von geschlechtsbezogener, insbesondere sexualisierter, Gewalt in Ermittlungs- und Gerichtsverfahren effektiv ausüben können. Notwendig ist hierfür – neben der effektiven Anwendung der prozessual zugestandenen Rechte – die Absicherung der Finanzierung. Der Katalog des § 397a Abs. 1 StPO ist auf bestimmte als schwerwiegend eingestufte Straftatbestände begrenzt, teilweise sind schwerwiegende Schäden oder die Unfähigkeit der eigenen Interessenwahrnehmung zusätzliche Erfordernisse der Kostenübernahme. Damit sind Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt nicht erfasst, in denen etwa Vergehen nach § 177 Abs. 1 oder 2 StGB oder Körperverletzungsdelikte verwirklicht werden.

Die Regelung des § 397a Abs. 1 StPO soll auf jegliche Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt ausgeweitet werden, damit allen Opfern das Recht auf kostenlose Rechtsberatung als Ausprägung ihres Rechts auf Zugang zum Recht zuteilwird.

4) Ergänzung des § 46 Abs. 2 StGB um das Merkmal der „geschlechtsspezifischen Beweggründe“ (Policy Paper Partnerschaftsgewalt)

Das Merkmal der „geschlechtsspezifischen Beweggründe“ sollte in die Strafzumessungserwägungen des § 46 Abs. 2 StGB aufgenommen werden, um die Staatsanwaltschaften und Gerichte für den Umgang mit eben solchen Delikten im Rahmen der Strafzumessung zu sensibilisieren. Geschlechtsspezifische Beweggründe liegen u.a. dann vor, wenn die Tat sich gegen eine Frau richtet, weil sie eine Frau ist oder von Vorstellungen von geschlechtsbezogener Ungleichwertigkeit geprägt ist. Das Merkmal lehnt sich an den Begriff der geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen und seine Definition in Artikel 3 lit. a und d IK an, soweit diese auf den individuellen Schuldvorwurf übertragbar sind.

5) Strafrahmen des § 4 Abs. 1 GewSchG ist zu erhöhen (djb IK-IK-Bericht, ab S. 40)

Ein Verstoß gegen eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz ist bisher gemäß § 4 GewSchG strafbewehrt mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Ebenso unterliegt ein Verstoß gegen gerichtlich bestätigte Vergleiche dieser Strafbewehrung (vgl. auch § 214a Satz 1 FamFG). Die angedrohte Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe decken den Unrechtsgehalt der Taten indes nicht ab und verfehlen die spezialpräventive Wirkung. Die Strafbewehrung in § 4 Abs. 1 GewSchG sollte auf drei Jahre Freiheitsstrafe oder Geldstrafe erhöht werden.

6) Anpassungen der RiStBV (Policy Paper Partnerschaftsgewalt)

Die „einfache“ Körperverletzung (§ 223 StGB) bedarf für ihre Verfolgung eines Strafantrages oder der Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses durch die Staatsanwaltschaft (§ 230 StGB). In der Praxis kommt es vor, dass das besondere öffentliche Interesse in Fällen von Partnerschaftsgewalt verneint und das Verfahren eingestellt wird. Zum Teil erfolgt auch eine Verweisung auf den Privatklageweg. Diese Praxis ist als problematisch zu bewerten. Werden innerhalb der Partnerschaft solche Körperverletzungsdelikte begangen, so sollte das „besondere öffentliche Interesse“ im Regelfall bejaht werden. Dies entspricht den Vorgaben der IK. Daraus folgt zudem auch der Ausschluss der Verweisung des einen Strafantrag stellenden Opfers auf den Privatklageweg.

Gefordert wird eine klarstellende Änderung der Nr. 86 RiStBV, dass in Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt ein öffentliches Interesse an der Verfolgung von Amts wegen regelmäßig besteht.

7) Recht der sozialen Entschädigung auf psychische Gewalt unabhängig von der Schwere ausweiten (djb IK-Bericht, ab S. 32)

Das Recht der sozialen Entschädigung (zuvor: Opferentschädigungsrecht) ist mit der letzten Gesetzesänderung grundlegend neu geordnet und unter anderem der Begriff der anspruchsbegründenden Gewalttat um „psychische Gewalttaten“ erweitert worden. Beschränkt wird der Anspruch aber auch Fälle „schwerwiegender“ psychische Gewalt, welche aus der Täterperspektive bestimmt wird. Die Istanbul-Konvention kennt keine derartige Einschränkung.

Das Recht der sozialen Entschädigung ist dahingehend zu ändern, dass ein Anspruch auf Unterstützung, Hilfe und Entschädigung nicht nur bei einer „körperlichen Gewalttat“ oder einer „schwerwiegenden“ psychischen Gewalttat vorliegt, sondern auch bei sonstiger psychischer Gewalt, durch welche die Gesundheit oder psychische Unversehrtheit der betroffenen Person erheblich beeinträchtigt wird.

8) Vorbehalt gegen Artikel 59 Abs. 2 und 3 der Istanbul-Konvention ist zurück zu nehmen (djb IK-Bericht, ab S. 60)

Die Bundesrepublik soll ihre Vorbehalte gegen Artikel 59 Abs. 2 und 3 der Konvention zurücknehmen, um auch Frauen ohne gesicherten Aufenthaltstitel umfassend gegen geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt zu schützen.

9) Sanktionierungslücken bei sexueller Belästigung schließen (Policy Paper Catcalling)

Sexuelle Belästigung ist bislang nur als körperliche sexuelle Belästigung und in den Fällen strafbar, in denen sie Straftatbestände wie etwa den der Beleidigung, Nötigung oder Bedrohung erfüllt. Doch auch nicht körperliche Formen der sexuellen Belästigung sind eine verbreitete Form von Alltagssexismus, die das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verletzen können. Eine Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung liegt in Fällen vor, in denen einer anderen Person Sexualität unerwünscht auf eine unzumutbare Weise aufgedrängt wird. Das ist der Fall, wenn eine andere Person unerwünscht, gezielt und erheblich auf eine sexualisierte Weise bedrängt wird. Erheblich ist eine Bedrängung etwa dann, wenn sie eine Person in ein sexuelles Geschehen hineinzieht, wenn sie länger andauert, wenn die betroffene Person ihr nicht auf zumutbare Weise ausweichen kann, wenn sie bedrohlich wirkt oder wenn sie geeignet ist, die betroffene Person herabzuwürdigen. Dazu gehören zum Beispiel die sexuelle „Anmache“ erheblich älterer Männer gegenüber Mädchen, das Masturbieren vor einer anderen Person in einem Abhängigkeitsverhältnis, das längere Umkreisen einer unbekannten Frau auf einem offenen Platz durch einen Mann, der immer lauter stöhnt wie in einem Pornofilm, oder das verbale sexuelle Belästigen einer Person in einem Zugabteil durch Fußballfans, die im ganzen Zug verteilt sind. Diese Sanktionierungslücke sollte durch eine Norm geschlossen werden, die alle Formen sanktionswürdiger aufgedrängter Sexualität möglichst umfassend regelt.

Der djb fordert unzumutbar aufgedrängte Sexualität in einem eigenen Straftatbestand oder als Ordnungswidrigkeit zu erfassen. Formulierungsvorschläge sind: „Wer eine andere Person verbal, durch Inhalte, Selbstentblößung oder sexuelle Handlungen auf eine Weise, die geeignet ist, sie herabzuwürdigen oder erheblich zu bedrängen, sexuell belästigt, wird mit ... bestraft.“ „Ordnungswidrig handelt, wer eine andere Person verbal, durch Inhalte, Selbstentblößung oder sexuelle Handlungen auf eine Weise, die geeignet ist, sie herabzuwürdigen oder erheblich zu bedrängen, sexuell belästigt.“

 

Prof. Dr. Maria Wersig                                

Präsidentin                                                     

 

Dr. Leonie Steinl, LL.M. (Columbia)

Vorsitzende der Kommission Strafrecht