Themenpapier: 20-10


Haftung des Staates für Unterlassen geeigneter Maßnahmen (Artikel 29 IK)

Themenpapier vom

Kontext: Bereits 2011 hat Deutschland das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) unterzeichnet, jedoch erst nach ausführlichen Diskussionen 2017 auch ratifiziert. Damit gilt die Istanbul-Konvention seit dem 1. Februar 2018 im Range eines Bundesgesetzes (BGBl II 2017, S. 1026), welches Landesrecht vorgeht, und zugleich weiterhin als Internationales Recht, welches eine völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts erfordern kann. Trotz vieler guter Regelungen und Praktiken gegen geschlechtsspezifische Gewalt besteht in Deutschland noch erheblicher Handlungsbedarf zur Umsetzung der Vorgaben aus der Istanbul-Konvention.

Aus Anlass des Inkrafttretens der Istanbul-Konvention auch als innerdeutsches Recht am 1. Februar 2018 erläutert der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) dringlichen Umsetzungsbedarf in sieben weiteren Themenpapieren (die erste Serie zum 25. November findet sich hier: https://www.djb.de/themen/thema/ik/). Umsetzungsdefizite bestehen weiterhin im Bereich der Staatshaftung bei pflichtwidrigem Unterlassen geeigneter Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt, womit sich das insgesamt zwölfte Themenpapier befasst.
 

Was die Istanbul-Konvention verlangt: Artikel 29(2) der Konvention macht zivilrechtliche Ansprüche gegen Behörden erforderlich, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten ihrer Pflicht zum Ergreifen der erforderlichen vorbeugenden Maßnahmen oder Schutzmaßnahmen nicht nachgekommen sind.

Nach Artikel 5(2) gilt für die staatliche Pflicht zum Ergreifen der erforderlichen vorbeugenden Maßnahmen oder Schutzmaßnahmen der due diligence Standard. Überdies orientiert sich die zivilrechtliche Haftung staatlicher Behörden an der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR, wonach die Haftung nicht auf absichtliche Nichterfüllung oder grobe Fehler beschränkt ist, sondern es genügt, wenn die Behörden „knew or ought to have known at the time of the existence of a real and immediate risk to the life of an identified individual or individuals from the criminal acts of a third party and that they failed to take measures within the scope of their powers which, judged reasonably, might have been expected to avoid that risk.[1] Dieser Haftungsmaßstab bezieht sich auf die Verpflichtungen aus der Konvention insgesamt.[2] Die Regelung soll wirksamer als völkerrechtliche Verpflichtungen allein die Behörden dazu anhalten, ihren Schutzpflichten effektiv nachzukommen.

Aktuelle Situation und Rechtslage: Das deutsche Staatshaftungsrecht in seiner derzeitigen Fassung bildet diesen Maßstab nicht ab. Es ist geprägt von engen Voraussetzungen für staatliche Haftung und von weitreichenden sog. Haftungsprivilegien, welche sich auch auf die signifikante Unterschreitung staatlicher Pflichterfüllung oder eigene schädigende Handlungen des Staates beziehen. Beispielsweise begründen Pflichtverletzungen im Rahmen eines gerichtlichen Urteils nach § 839 Abs. 2 S. 1 BGB nur dann eine Haftung, wenn die Pflichtverletzung in einer Straftat besteht. Damit bleibt die Regelung nicht nur hinter den Maßstäben der Istanbul-Konvention zurück, sondern führt im Einzelfall zu untragbaren Ergebnissen.

So musste sich im Rahmen eines Verfahrens aus dem Jahr 2014 das Opfer einer Vergewaltigung im Gerichtssaal das von den Tätern aufgenommene Video der Tat anschauen, um – so das Gericht – ihre Erinnerung zu aktivieren.[3] Die Opferzeugin war zum Tatzeitpunkt erheblich alkoholisiert, so dass ihr Erinnerungen an die Tat bis dahin erspart geblieben waren. Obwohl das Abspielen des Videos mehrfach unterbrochen werden musste, um die Opferzeugin zu stabilisieren, und sich bei der Opferzeugin erwartbar keine Erinnerungen einstellten, ordnete der Vorsitzende Richter an, dass sie das Video im Beisein der Angeklagten bis zum Ende ansehen musste. Dieser Vorgang hat zu einer erheblichen (Re)Traumatisierung geführt und die Bilder werden sie wohl lebenslang verfolgen. Zwar wurden die Täter, gerade auch mit Bezug auf die von ihnen gewählte Methode der in einem Sexualstrafverfahren völlig unpassenden und erheblich traumatisierenden sog. Konfliktverteidigung, zu einem hohen Schmerzensgeld verurteilt.[4] Der Staat haftet allerdings nicht für die Schäden aus diesem Verfahren, obwohl er zum Schutz der Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt gerade auch im Gerichtsverfahren verpflichtet ist.[5]

Handlungsbedarf: Um der Problematik fehlenden staatlichen Schutzes in Ermittlungs- und Gerichtsverfahren wegen geschlechtsspezifischer Gewalt sowie daraus resultierender selbständiger Rechtsverletzungen der Betroffenen durch den Staat zu begegnen, können gesetzliche Regelungen nicht ausbleiben. Eine solche Regelung kann beispielsweise vorsehen, dass angemessen entschädigt wird, wer infolge unangemessener Behandlung durch Strafverfolgungsbehörden im Zusammenhang mit Ermittlungen oder Verfolgung erheblicher geschlechtsbezogener Gewalt gegen Frauen als Zeugin einen Schaden erleidet.

Forderung: Das Staatshaftungsrecht ist um effektive und angemessene Ansprüche zu ergänzen, welche gegen staatliche Behörden durchsetzbar sind, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten ihrer Pflicht zum Ergreifen der erforderlichen vorbeugenden Maßnahmen oder Schutzmaßnahmen nicht nachgekommen sind.

Prof. Dr. Maria Wersig
Präsidentin                            

Prof. Dr. Ulrike Lembke
Vorsitzende der Kommission Europa- und Völkerrecht

Dr. Leonie Steinl, LL.M. (Columbia)
Vorsitzende der Kommission Strafrecht

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Anmerkungen

[1] EGMR vom 28.10.1998, Osman v. United Kingdom. Verweis im erläuternden Bericht zur Istanbul-Konvention, Rn. 163.

[2] Mit Blick auf Artikel 33 der Konvention könnte die regelmäßige Untätigkeit der Behörden in Fällen von Hate Speech und Cyber Harassment künftig zum (auch finanziellen) Problem werden.

[3] Ausführlich hierzu Deutscher Juristinnenbund e.V. (djb), Submission to the UN Committee against Torture (CAT) – parallel report to the Sixth State Report of Germany (Sixth Periodic Report), 27 March 2019, https://www.djb.de/verein/Kom-u-AS/K6/st19-09/.

[4] Landgericht Münster vom 07.12.2017, 02 O 229/17, https://www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/muenster/lg_muenster/j2017/02_O_229_17_Teil_Versaeumnis_und_Schlussurteil_20171207.html.

[5] Ausführlich Deutscher Juristinnenbund, Policy Paper “Opferrechte in Strafverfahren wegen geschlechtsbezogener Gewalt”, 22. November 2018, https://www.djb.de/verein/Kom-u-AS/K3/st18-18/.