Themenpapier: 20-08


Unterbindung geschlechtszuweisender Operationen an Kindern (Artikel 38, 39, 46 IK)

Themenpapier vom


Kontext: Bereits 2011 hat die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) unterzeichnet, jedoch erst nach ausführlichen Diskussionen 2017 auch ratifiziert. Damit gilt die Istanbul-Konvention seit dem 1. Februar 2018 im Range eines Bundesgesetzes (BGBl II 2017, S. 1026), welches Landesrecht vorgeht, und zugleich weiterhin als Internationales Recht, welches eine völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts erfordern kann. Trotz vieler guter Regelungen und Praktiken gegen geschlechtsspezifische Gewalt besteht in Deutschland noch erheblicher Handlungsbedarf zur Umsetzung der Vorgaben aus der Istanbul-Konvention.

Aus Anlass des Inkrafttretens der Istanbul-Konvention auch als innerdeutsches Recht am 1. Februar 2018 erläutert der Deutsche Juristinnenbund dringlichen Umsetzungsbedarf in sieben weiteren Themenpapieren (die erste Serie zum 25. November findet sich hier: https://www.djb.de/themen/thema/ik/). Umsetzungsdefizite bestehen weiterhin bezüglich der staatlichen Verpflichtung zur effektiven Unterbindung medizinisch nicht notwendiger, geschlechtszuweisender Operationen an Kleinkindern, womit sich das insgesamt zehnte Themenpapier befasst.

Was die Istanbul-Konvention verlangt: Artikel 38 der Konvention verpflichtet die Bundesrepublik, die Verstümmelung weiblicher Genitalien sowie jede Nötigung oder Veranlassung einer Frau oder eines Mädchens, sich einem solchen Eingriff zu unterziehen, unter Strafe zu stellen. Artikel 39(b) statuiert die Strafbarkeit der vorsätzlichen Durchführung eines chirurgischen Eingriffs mit dem Zweck oder der Folge der Fortpflanzungsunfähigkeit einer Frau ohne ihre vorherige informierte Zustimmung oder ohne, dass sie den Eingriff versteht. Artikel 46(a) gebietet, dass bei der Strafzumessung erschwerend berücksichtigt werden kann, dass die Straftat von einem Familienmitglied, einer mit dem Opfer zusammenlebenden Person oder einer ihre Autoritätsstellung missbrauchenden Person begangen wurde.

Artikel 12(5) und 42(1) der Konvention verpflichten die Bundesrepublik, durch gesetzgeberische oder sonstige Maßnahmen sicherzustellen, dass Kultur, Bräuche, Religion oder Tradition nicht als Rechtfertigung für geschlechtsspezifische Gewalt angesehen werden, insbesondere nicht in entsprechenden Strafverfahren. 

Aktuelle Situation und Rechtslage: Geht es um Kulturen geschlechtsspezifischer Gewalt, werden diese oft exklusiv auf religiöse oder ethnische Minderheiten projiziert. Stichworte wären Ehrenmorde, Zwangsverheiratungen, Genitalverstümmelungen etc. Diese schweren Menschenrechtsverletzungen sind vom Staat mit allen geeigneten Mitteln zu unterbinden. Zu oft jedoch tritt in den Hintergrund, dass Kulturen geschlechtsspezifischer Gewalt auch in der Mehrheitsgesellschaft verankert sind. Auch hier gibt es Muster, Traditionen, Bräuche und Überzeugungen, die geschlechtsspezifische Gewalt verharmlosen oder gar legitimieren, häufig, indem sie den Opfern eine wesentliche Mitschuld zuschreiben.[1]

Solche Kulturen geschlechtsspezifischer Gewalt zeigen sich auch, wenn es um die geschlechtliche Zuordnung von Neugeborenen und Kleinkindern geht. Trotz intensiver öffentlicher Diskussionen der Problematik[2] sind geschlechtszuweisende Operationen an intersexuellen Neugeborenen und Kleinkindern weiterhin durchaus üblich.[3] Werden Kinder mit einem nicht sofort als männlich oder weiblich zuordenbaren Geschlecht geboren, empfehlen viele Ärzt*innen immer noch operative Eingriffe. Geschlechtszuweisende Operationen erfordern eine Reihe von schwerwiegenden operativen Eingriffen an den Genitalien, die sich negativ auf das Körpergefühl und sexuelle Lusterleben auswirken können und oft mit der Folge von Fortpflanzungsunfähigkeit verbunden sind.[4] Nur in den seltensten Fällen sind diese Eingriffe medizinisch indiziert, weit überwiegend geht es darum, kulturelle Normen exklusiver und natürlicher Zweigeschlechtlichkeit zu bestätigen.

Ärzt*innen missbrauchen ihre Autoritätsstellung, wenn sie Eltern kurz nach der Geburt nahelegen oder sie gar drängen, ihr intersexuelles Kind schwerwiegenden Operationen an den Genitalien mit Verstümmelung der vorhandenen Klitoris und häufiger Folge der Fortpflanzungsunfähigkeit zu unterziehen, obwohl diese Eingriffe nicht medizinisch indiziert sind. Dabei ist es inzwischen möglich, den Geschlechtseintrag eines Neugeborenen im Geburtenbuch neben „weiblich“ oder „männlich“ mit „divers“ anzugeben oder ganz offen zu lassen,[5] was Druck von den Beteiligten nimmt.

Einer Genitalverstümmelung, wie sie durch geschlechtszuweisende Operationen, bei denen gesundes Gewebe aus kosmetischen Gründen entfernt wird, regelmäßig erfolgt, können die Eltern ohnehin nicht zustimmen. Vielmehr ist diese in § 226a StGB explizit unter Strafe gestellt, wenn auch nicht in Umsetzung des gesamten Artikel 38 der Konvention. Ferner bestimmt § 1631c BGB, dass Eltern nicht in die Sterilisation des Kindes einwilligen können. Eine Ausnahme besteht nur, wenn die Sterilisation unvermeidbare Nebenfolge lebensrettender oder erhebliche Gesundheitsschädigungen vermeidender medizinischer Maßnahmen ist. Dies ist bei geschlechtszuweisenden Operationen an Kleinkindern regelmäßig nicht der Fall. Die rechtliche Unmöglichkeit der Einwilligung führt dazu, dass medizinische Eingriffe an intersexuellen Kindern mit der Folge der Fortpflanzungsunfähigkeit als schwere Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB strafbar sind. Aus diesem Befund folgt auch die Entschädigungspflichtigkeit solcher Operationen.

Handlungsbedarf: Effektive Strafverfolgung oder auch nur die Kenntnis von der Strafbarkeit dieses Tuns scheint allerdings kaum zu existieren, wie die weiterhin bestehende Praxis der geschlechtszuweisenden Operationen an intersexuellen Kleinkindern zeigt.[6] Die durch die Istanbul-Konvention geschützte sexuelle, reproduktive und körperliche Integrität ist damit nicht gewährleistet. Die Bundesrepublik muss die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um nicht medizinisch indizierte, sondern auf kulturellen Annahmen über Geschlecht beruhende Operationen an Intersex*-Kindern wirksam und unter Einsatz auch strafrechtlicher Mittel zu unterbinden.[7]

Ein Schritt könnte sein, § 1631c BGB explizit auf medizinisch nicht notwendige, geschlechtszuweisende Operationen zu beziehen. Wesentlicher noch dürfte die Aufklärung von Ärzt*innen und medizinischem Personal sowie Eltern über die bereits jetzt bestehende strafrechtliche Relevanz von Operationen, welche zur Verstümmelung der Genitalien und Fortpflanzungsunfähigkeit führen, sein. Die betroffenen Kleinkinder bedürfen staatlichen Schutzes, da ihnen Verletzungen der körperlichen Integrität und reproduktiven Gesundheit mit kaum überschaubaren Folgen für die Zukunft gerade durch jene Personen drohen, deren Fürsorge sie dringend bedürfen.

Forderung:

Es sind alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um nicht medizinisch indizierte, sondern auf kulturellen Annahmen über Geschlecht beruhende Operationen an Intersex*-Kindern wirksam zu unterbinden. Hierzu gehört neben der Aufklärung von Eltern sowie Ärzt*innen und medizinischem Personal auch eine effektive Strafverfolgung.

Prof. Dr. Maria Wersig
Präsidentin                                                                 

Prof. Dr. Ulrike Lembke
Vorsitzende der Kommission Europa- und Völkerrecht                             

Brigitte Meyer-Wehage
Vorsitzende der Kommission Zivil-, Familien-, Erbrecht, Recht anderer Lebensgemeinschaften



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Anmerkungen

[1]     Zum diesbezüglich wegweisenden Konzept der „kulturellen Gewalt“ grundlegend Johan Galtung, Frieden mit friedlichen Mitteln, 1998. Opferbeschuldigende Verharmlosung von Gewalt kann übrigens gerade auf als modern verstandenen kulturellen Strukturen beruhen, so wenn misshandelten Frauen vorgeworfen wird, dass ihnen die Trennung nicht gelinge, obwohl es doch nun das Gewaltschutzgesetz gebe, oder vergewaltigten Frauen, dass sie doch emanzipiert seien und sich hätten wehren können. Auch bei der Beurteilung von Trennungstötungen neigen manche deutschen Gerichte noch zu Überlegungen, ob die Trennung vom Opfer ausging oder das Opfer dem Täter zu Eifersucht oder sonstigem Besitzdenken Anlass gegeben habe, statt Femizide als Ausdruck patriarchaler Strukturen und Vorstellungen zu benennen, siehe hierzu djb, Femizide in Deutschland, Themenpapier vom 25.11.2019, https://www.djb.de/themen/thema/ik/st19-24/

[2]     Hierzu hat insbesondere das öffentliche Diskursverfahren des Deutschen Ethikrates beigetragen, http://www.ethikrat.org/intersexualitaet, aber auch die unermüdliche Arbeit von Selbstorganisationen, http://www.im-ev.de/.

[3]     Die Anzahl kosmetischer Genitaloperationen im Kindesalter ist nicht rückläufig, siehe dazu die quantitative Studie von Ulrike Klöppel, Zur Aktualität kosmetischer Operationen „uneindeutiger“ Genitalien im Kindesalter, ZtG-Bulletin 2016 (abrufbar unter https://www.gender.hu-berlin.de/de/publikationen/gender-bulletins/texte-42/kloeppel-2016_zur-aktualitaet-kosmetischer-genitaloperationen).

[4]     Siehe hierzu Angela Kolbe, Intersexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Verfassungsrecht, 2010; Konstanze Plett, Intersexuelle – gefangen zwischen Recht und Medizin in: Frauke Koher/Katharina Pühl (Hg.), Gewalt und Geschlecht. Konstruktionen, Positionen, Praxen, 2003, S. 21-41; Konstanze Plett, Intersex und Menschenrechte, in: Claudia Lohrenscheit (Hg.), Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht, 2009, S. 151–167; Britt Tönsmeyer, Die Grenzen der elterlichen Sorge bei intersexuell geborenen Kindern, 2012.

[5]     Diese Optionen wurden eingeführt durch das Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben vom 18. Dezember 2018, BGBl I, S. 2635. Das Bundesverfassungsgericht (vom 10.10.2017, Az. 1 BvR 2019/16) hatte dem Gesetzgeber hierfür eine Frist bis zum 31.12.2018 gesetzt.

[6]     Siehe hierzu die Studie von Josch Hoenes, Eugen Januschke & Ulrike Klöppel, Häufigkeit normangleichender Operationen „uneindeutiger“ Operationen im Kindesalter. Follow Up-Studie, 2019.

[7]     So auch UN-Ausschuss gegen Folter, Abschließende Bemerkungen zum 5. Staatenbericht Deutschlands, CAT/C /DEU/CO/5 (2011), Rn. 20(a); UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Abschließende Bemerkungen zum ersten Staatenbericht Deutschlands, CRPD/C/DEU/CO/1 (2015), Rn. 29(d); und CEDAW-Ausschuss, Abschließende Bemerkungen zum 7./8. Staatenbericht Deutschlands, CEDAW/C/DEU/CO/7-8 (2017), Rn. 24(d).