Stellungnahme: 16-17


Zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Frauen, Gleichstellung und Emanzipation des Landtags Nordrhein-Westfalen am 29. Juni 2016/ Reform des Sexualstrafrechts

Stellungnahme vom

„Opfer nicht aus dem Blick verlieren – Täter ermitteln und bestrafen“
Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/10787 sowie Drucksache 16/10881 und Drucksache 16/10885
in Verbindung mit
„Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall. Ausnahmslos“
Antrag des Abgeordneten Daniel Schwerd, (fraktionslos),
Drucksache 16/10800
Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Frauen, Gleichstellung und Emanzipation des Landtags Nordrhein-Westfalen am 29. Juni 2016
 

Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) bedankt sich für die Einladung zur Anhörung und die Gelegenheit zur Stellungnahme.

Das Strafrecht dient seit jeher der Prävention von Straftaten – es soll abschrecken – und der Intervention – die Übertretung der Norm soll gerecht bestraft werden.

Bei der Erarbeitung von präventiven Schutzkonzepten gegen sexualisierte Übergriffe im öffentlichen Raum sind daher nicht nur sicherheitspolitische und städtebauliche Aspekte und die Förderung einer Kultur des Hinschauens und der Sensibilisierung für sexualisierte Gewalt und diese fördernde Geschlechterkonstruktionen wichtig. Auch davon, ob eine Tat – jenseits der Beweisbarkeit – strafbar ist oder nicht, geht eine gesellschaftliche Wirkung aus. Insoweit haben wir mit gewissem Befremden wahrgenommen, dass nach den Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht seitens der Politik eine zügige und harte Bestrafung der Täter gefordert wurde. Ein nicht unerheblicher Teil der angezeigten Taten ist wahrscheinlich – soweit nach den in den Medien bekannt gewordenen Details eine Einschätzung überhaupt möglich ist – nach geltendem Recht gar nicht strafbar, weil die Taten entweder überraschend erfolgten und daher kein Widerstand seitens der Täter überwunden werden musste oder aber die Taten gar nicht als „erheblich“ i.S.d. Strafrechts eingeordnet werden.

Der djb fordert seit Jahren mit ausführlichen Stellungnahmen und Regelungsvorschlägen einen Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht[1] hin zum lückenlosen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, d.h. die zeitgemäße und menschenrechtskonforme Weiterentwicklung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung. Im April 2014 haben wir in einer ausführlichen Stellungnahme zum Umsetzungsbedarf im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention von 2011 hierauf hingewiesen und im Juli 2014 einen dezidierten Gesetzesvorschlag als Diskussionsgrundlage vorgelegt. Das Justizministerium sah zunächst keinen Änderungsbedarf, präsentierte dann aber doch im Juli 2015 einen Referentenentwurf zur Änderung des Sexualstrafrechts, mit dem die gravierendsten Schutzlücken geschlossen werden sollten. Allerdings blieb der Entwurf der Prämisse verhaftet, dass grundsätzlich das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung durch die Trägerin oder den Träger des Rechtsguts selbst – aktiv – geschützt werden muss. Er geht weiterhin davon aus, dass Geschädigte sich im „Normalfall“ zur Wehr setzen und Täter im „Normalfall“ davon ausgehen dürfen, dass bei fehlendem Widerstand ein Einverständnis des Gegenübers mit sexuellen Handlungen vorliegt.

Der djb hatte deshalb mit offenem Brief vom 24. November 2015 an das Bundeskanzleramt die Eröffnung der Verbändeanhörung gefordert, die schließlich am
22. Dezember 2015 erfolgt ist. In einem offenen Brief haben wir uns daher zusammen mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur_innen am 26. April 2016 an Bundeskanzlerin Merkel und die Mitglieder der große Koalition gewandt und eine große Koalition bei der Anpassung des Sexualstrafrechts an die heutige Zeit gefordert. So wie nach 25jährigem Kampf 1997 endlich auch mit überwältigender Mehrheit der Bundestag für die Strafbarkeit einer Vergewaltigung in der Ehe gestimmt hat, sollte heute auch gesetzlich verankert sein, dass sexuelle Handlungen nur straffrei sind, wenn sie einvernehmlich erfolgen. In der Bundestagsdebatte vom 28. April 2016 sprachen sich die Redner und Rednerinnen aller Parteien für eine weitergehende Reform aus, wie sie auch schon in einer Entschließung des Bundesrates vom 18. Februar 2016 gefordert worden war, der sich auch Nordrhein-Westfalen angeschlossen hat.

Eine Vielzahl der Übergriffe an Silvester ist aber möglicherweise nicht nur deshalb nicht strafbar, weil die zurzeit noch erforderlichen Nötigungsmittel nicht angewandt wurden, sondern auch die einzelnen Taten die „Erheblichkeitsschwelle“ i.S.d. § 184 h StGB nicht überschreiten (Bsp: flüchtiger Griff über der Kleidung an den Po). Der djb schlägt deshalb die Einführung eines gesonderten Tatbestands der „tätlichen sexuellen Belästigung“ (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zwei Jahre) vor. Ein gesonderter Tatbestand, als Antragsdelikt ausgestaltet, weil der recht hohe Strafrahmen für einen sexuellen Übergriff auch nach der vorgeschlagenen Neuregelung (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zehn Jahre) für Belästigungen mit geringerem Unrechtsgehalt nicht angebracht ist.

Gelungene Intervention bei sexualisierter Gewalt muss neben der schnellen psychosozialen Versorgung der Betroffenen sicherstellen, dass Polizei und Justiz hinreichend personell ausgestattet sind, damit sie tatsächlich zügig ermitteln und zeitnah verhandeln und sanktionieren können. Insbesondere muss ein respektvoller und wertschätzender Umgang mit Betroffenen durch die Strafverfolgungsbehörden und die Justiz gewährleistet werden. Hierfür müssen Polizei und Justiz interdisziplinär geschult werden, um ein Bewusstsein für die schweren Folgen sexualisierter Übergriffe zu entwickeln.

Sehr begrüßenswert ist, dass es ab 2017 einen Rechtsanspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung nach § 406 g StPO für Minderjährige und besonders schutzbedürftige Verletzte geben wird. Die Länder sind jetzt gefordert, die notwendige Qualifizierung dieser Begleiter und eine professionelle Ausübung der Tätigkeit sicherzustellen. Hier ist beispielsweise dafür Sorge zu tragen, dass im Rahmen der Anerkennungsverfahren die Oberlandesgerichtspräsidentinnen und -präsidenten detaillierte Anhaltspunkte für anzuerkennende Ausbildungen erhalten, nicht etwa inhaltlich unzureichende Kurzfortbildungen anerkannt werden oder aber diese Aufgabe schlicht dem ambulanten sozialen Dienst der Justiz übertragen wird, mit der Gefahr, dass die Begleiter nicht die erforderlichen Kenntnisse im Umgang mit teilweise hochtraumatisierten Personen haben oder dass Täter und Opfer in den gleichen Einrichtungen betreut werden.

Ebenfalls sehr begrüßenswert ist die Evaluation der bisherigen Praxis der Anonymen Spurensicherung zur Entwicklung eines landesweit einheitlichen Konzepts.

Sinnvoll bei der Entwicklung spezifischer Interventionskonzepte bei sexualisierten Übergriffen im öffentlichen Raum ist die Nutzung bestehender interdisziplinärer Zusammenhänge (Runde Tische), aber auch die Analyse bisheriger blinder Flecken und die Einbeziehung weiterer gesellschaftlicher Gruppen, wie z.B. der Integrationsräte.

Sinnvoll ist ebenfalls eine besonnene Öffentlichkeitsarbeit, da populistische Forderungen Hoffnungen schüren, die nicht erfüllt werden können. Ob beispielsweise eine tatsächliche Bestrafung der Täter möglich ist, ist in einem rechtsstaatlichen Verfahren abzuklären und kann nicht durch organisatorische Maßnahmen der Exekutive gewährleistet werden.

Henriette Lyndian                                         
Vorsitzende Landesverband                                            
Nordrhein-Westfalen

Dagmar Freudenberg
Vorsitzende der Kommission Strafrecht

Martina Lörsch
Mitglied der Kommission Strafrecht

                                                                                             
                                                                                            

 

[1] st14-07 vom 9.5.2014, https://www.djb.de/Kom/K3/st14-07/; st14-14 vom 25.7.2014,           https://www.djb.de/Kom/K3/14-14/ und st16-03 vom 18.2.2016, https://www.djb.de/Kom/K3/st16-03/