Stellungnahme: 14-07


zur grundsätzlichen Notwendigkeit einer Anpassung des Sexualstrafrechts (insbesondere § 177 StGB) an die Vorgaben der Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) von 2011

Stellungnahme vom

1. Vorgabe der „Istanbul-Konvention“: Anknüpfen an das Tatbestandsmerkmal „fehlendes Einverständnis“

Art. 3 und 8 Europäische Menschenrechtskonvention verpflichten die europäischen Vertragsstaaten, für eine effektive Strafverfolgung von Sexualstraftaten zu sorgen.[1]

Eine nähere Ausgestaltung dieser Verpflichtung findet sich in dem von Deutschland im Jahr 2011 unterzeichneten und zur Ratifizierung anstehenden Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 5. November 2011 (Istanbul-Konvention). Gemäß Art. 36 sind die Vertragsstaaten gehalten sicherzustellen, dass vorsätzliches nicht einverständliches[2] sexuell bestimmtes vaginales, anales oder orales Eindringen in den Körper einer anderen Person mit einem Körperteil oder Gegenstand sowie sonstige vorsätzliche nichteinverständliche sexuell bestimmte Handlungen mit einer anderen Person unter Strafe gestellt werden. Art. 36 Ziff. 2 führt hierzu aus: „Das Einverständnis muss freiwillig als Ergebnis des freien Willens der Person, der im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird, erteilt werden.“ Dieser vertraglichen Verpflichtung muss die Bundesrepublik Deutschland nachkommen und die nationalen Gesetze daraufhin überprüfen, ob sie mit der Istanbul-Konvention übereinstimmen.

Der erläuternde Bericht (Explanatory Report) im Anhang der Konvention führt näher aus, dass die Vertragsparteien im Rahmen der Prüfung der Tatbestandsmerkmale die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berücksichtigen sollten und angehalten sind, in ihrem Strafrecht den Begriff der fehlenden freien Zustimmung zu den verschiedenen sexuellen Handlungen aufzunehmen.[3] Ausdrücklich nimmt der erläuternde Bericht die Begründung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs‚ M.C. gegen Bulgarien vom 4. Dezember 2003 in Bezug. In dem Urteil unterstreicht der EGMR, dass früher in zahlreichen europäischen Staaten Gewaltanwendung und körperliche Gegenwehr für eine Verurteilung wegen Vergewaltigung erforderlich gewesen seien, sich dies aber in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt habe (Urteilsbegründung Nr. 156). Insbesondere in den Ländern des Common Law sei mittlerweile das fehlende Einverständnis des Opfers und nicht (mehr) die Gewalt konstitutives Element der Straftat. Auch der Internationale Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien bewertete jede sexuelle Penetration ohne das (nach den Gesamtumständen zu bewertende) freiwillige Einverständnis des Opfers als Vergewaltigung[4].

2. Unzulänglichkeit von § 177 StGB

§ 177 StGB, der sexuelle Nötigung und Vergewaltigung unter Strafe stellt, erfüllt die Vorgabe der Kriminalisierung und Ermöglichung wirksamer Strafverfolgung aller nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen[5] nicht. Die Tatbestandsalternativen Nr. 1 und 2 des § 177 Abs. 1 StGB erfordern die Anwendung von Gewalt oder eine Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben. Auch die Nr. 3, Ausnutzen einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, wird der Vorgabe der Istanbul-Konvention nicht gerecht. Zwar war eine der Triebfedern für die Einführung dieser dritten Tatbestandsalternative in den 1990er Jahren die Überlegung, dass auch diejenigen Fälle von sexuellen Übergriffen strafrechtlich zu sanktionieren sind, in denen die Frau[6], die keinen sexuellen Kontakt wünscht, sich aus Angst vor (weiterer) Gewalt nicht zur Wehr setzt, selbst wenn ihr die Gewalt nicht unmittelbar im Kontext mit der Tat angedroht wird. Dennoch erfasst diese Tatbestandsalternative, die vor zwei Jahrzehnten im Bundestag als kleinster gemeinsamer Nenner nach langen Diskussionen beschlossen wurde, nur einen kleinen Teil der ohne Gewalt bzw. Drohung verübten Taten, so dass immer noch zahlreiche strafwürdige Konstellationen nicht als Vergewaltigung unter Strafe gestellt sind. Eine „schutzlose Lage“ ist beispielsweise anzunehmen, wenn der Tatort im Wald liegt, keine Hilfe in Sicht und außerdem der Täter körperlich überlegen ist, so dass eine Flucht aussichtslos erscheint, oder wenn die Tat in einem menschenleeren Gebäude bei verschlossener Tür stattfindet. Auf der subjektiven Ebene muss zudem nachgewiesen werden können, dass das Opfer gerade mit Rücksicht auf diese schutzlose Lage von Widerstand absah, und dass dem Täter dies auch bewusst war.

2.a Bestehende Regelungslücken

Nach derzeitiger Rechtslage wird ein umfassender Schutz des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung, wie ihn die Europäische Menschenrechtskonvention fordert, nicht erreicht. Dies zeigen verschiedene Beispiele aus der Praxis, die überwiegend nicht höchstrichterlich entschieden wurden, weil bereits im Ermittlungsverfahren eine Einstellung erfolgte:

  1. Zwischen Lebensgefährten oder Eheleuten besteht eine „Gewaltbeziehung“: Der gewalttätige Mann wendet nicht täglich Gewalt an, weil die gewaltbetroffene Frau meist bereits „vorauseilend“, um Gewalt zu vermeiden, seine Wünsche erfüllt. Die Frau hat früher schon mehrfach geäußert, dass sie keine sexuellen Handlungen (mehr) will, worüber der Mann sich stets gewaltsam hinweg setzte. Es kommt zum Geschlechtsverkehr, wobei die Frau weint, mit Worten widerspricht, sich aber nicht körperlich wehrt. Sie schreit nicht laut und ruft nicht um Hilfe, weil sie die Kinder schützen will und aus Scham gegenüber der Nachbarschaft im Mietshaus.
     
  2. Der früher schon gewalttätig gewesene Täter fordert seine Ehefrau, die sich zum Schlafen hingelegt hat, zum Analverkehr auf. Sie lehnt dies aus Angst vor Schmerzen entschieden und wiederholt ab und fügt hinzu, Analverkehr gegen ihren Willen sei eine Vergewaltigung. Er zieht dennoch ihre Schlafanzughose hinunter und vollzieht mit der weinenden und sich vor Schmerzen windenden Frau den Analverkehr. Sie wehrt sich nicht, weil sie mit Schlägen rechnet und fürchtet, andernfalls würden die Kinder wach, die dann ebenfalls Opfer von Gewalt durch den Täter würden.
     
  3. Der Täter droht, aber nicht mit „gegenwärtiger“ Gefahr – z.B. ‚ich kenne deine Eltern und weiß, wo die wohnen. Du weißt, was denen blüht, wenn du jetzt nicht still hältst…‘
     
  4. Der Täter droht, aber nicht mit gegenwärtiger Gefahr „für Leib oder Leben“: ‚wenn du nicht stillhältst, werfe ich deine Katze aus dem Fenster im 4. Stock‘.
     
  5. Ein langjähriges Paar hat schon länger keinen Geschlechtsverkehr mehr gehabt, sie schlafen noch im Doppelbett. Am Tattag ist der Täter angetrunken, er verlangt Sex, sie reagiert nicht. Er schiebt ihr das Nachthemd hoch, legt sich auf sie, sie sagt ‚nein‘ und weint, aber wehrt sich nicht. Sie fürchtet, dass er ihr sonst wehtun oder Gewalt anwenden würde und es dann trotzdem zu Geschlechtsverkehr kommen würde, weil er ihr körperlich überlegen ist. Ihre Überlegung: Ohne Gegenwehr ist es schneller vorbei, mit Gegenwehr wird er voraussichtlich auch erreichen, was er will, aber es dauert länger.
     
  6. Eine ältere bettlägerige in einem Mietshaus wohnende Frau, die sich keine Chance auf erfolgreiche körperliche Gegenwehr ausrechnet, aber nicht widerstandsunfähig im Sinn des § 179 StGB ist, leistet keine Gegenwehr, weil sie nicht erfolgversprechend erscheint, und ruft nicht um Hilfe, weil die Situation vor der Nachbarschaft peinlich ist.
     
  7. BGH vom 8.11.11 (4 StR 445/11) – Überraschungsmoment
    Der Beschuldigte wollte angeblich die Geschädigte als Modell zeichnen. Er forderte sie auf, sich mit auseinander gestellten Beinen und an der Wand abgestützten Armen mit dem Gesicht zur Wand zu stellen. Nachdem die Geschädigte dies befolgte, trat er von ihr unbemerkt hinter sie, zog ihr plötzlich und für sie völlig unerwartet die Jogginghose und den Slip herunter, drang von hinten mit seinem erigierten Penis ohne Kondom in ihre Scheide ein und führte den Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss durch. Er wusste, dass dies gegen den Willen des wie paralysierten Mädchens geschah. Hierbei nutzte er plangemäß den Umstand, dass beide in dem Anwesen allein waren, sowie das Überraschungsmoment aus.
     
  8. Der Täter droht der Ausländerin, dass er als Polizeibeamter für ihre sofortige Ausweisung und Abschiebung in ihr Heimatland, wo ihr Verfolgung droht, sorgen werde, falls sie nicht Anfassen am Busen unter dem T-Shirt duldet.

2.b Kein voraussetzungsloser Schutz des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung für Erwachsene

Nach wie vor gilt sexuelles Handeln am bzw. im Körper eines Anderen ohne dessen Einverständnis als nicht sanktionswürdig. Selbst wenn eine Frau ausdrücklich sagt, dass sie keine sexuellen Handlungen wünscht, und sich während der Tat steif macht und weint, kann dies nach jetziger Rechtslage nicht oder nur bei Feststellung von – wenn auch geringfügigem – physischem Kraftaufwand des Täters als sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung bestraft werden. Das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung, das von § 177 StGB geschützt werden soll, wird von unserer Rechtsordnung somit nicht als grundsätzlich schützenswert angesehen. Geschützt ist es nur dann, wenn die Person, die Inhaberin dieses Rechtsgutes ist, durch physische Gewalt gezwungen wird (Ziff. 1), ihr mit gegenwärtiger physischer Gewalt gedroht wird (Ziff. 2), oder wenn sie sich in einer Situation befindet, in der es ersichtlich zwecklos wäre, sich zu wehren (Ziff. 3). Voraussetzung für eine Strafverfolgung ist also stets, dass das Rechtsgut aktiv verteidigt wird. Die von einer Einwilligung nicht gedeckte Inanspruchnahme eines fremden Körpers zur eigenen Befriedigung wird als nicht sanktionswürdig angesehen und der Wille des Opfers für bedeutungslos erklärt.

Auch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die in Deutschland seit März 2009 in Kraft getreten ist, verlangt eine Änderung der bestehenden Gesetzeslage im Sexualstrafrecht, die insbesondere Frauen mit Beeinträchtigungen diskriminiert. Die Regelungen des Strafgesetzbuches sind im Hinblick auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigungen nicht ausreichend. Die Erfahrungen der Fachberaterinnen gehen dahin, dass bei behinderten Frauen häufig Anklage wegen ‚sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen‘ und nicht wegen ‚Vergewaltigung‘ erhoben wird, da die Frau zwar grundsätzlich in der Lage war, einen Willen zu bilden und zu äußern, diesen infolge ihrer Beeinträchtigung jedoch nicht im Sinne einer Gegenwehr durchsetzen konnte. So werden z.B. Frauen mit Behinderung (insbesondere mit sogenannter geistiger Behinderung) als widerstandsunfähig eingestuft, obwohl sie einen Willen bilden können. Ein solches diskriminierendes Hilfskonstrukt ist lediglich deshalb erforderlich, weil nach bisherigem Recht bei Erwachsenen sexuelle Handlungen gegen den Willen grundsätzlich nicht strafbewehrt sind.[7] Damit wird die sexualisierte Gewalt nur mit dem deutlich geringeren Strafrahmen aus § 179 Abs. 1 StGB geahndet.

2.c Voraussetzungsloser Schutz anderer Rechtsgüter (Eigentum)

Vom Inhaber anderer Schutzgüter wie z.B. Eigentum fordert das Gesetz dagegen keine aktiven Schutzmaßnahmen. Der Schutzgutinhaber ist nicht gezwungen, den Dieb am Gewahrsamsbruch zu hindern, damit die Rechtsordnung ein sanktionswürdiges Verhalten beim Dieb anerkennt. Die Überwindung besonderer Sicherungen oder die Anwendung von Gewalt ist nicht Tatbestandsvoraussetzung, sondern führt lediglich zu einer Strafschärfung.

Das Rechtsgut sexuelle Selbstbestimmung ist damit weniger geschützt als Eigentum.

Eine vergleichbare Regelung, die bereits zur Verwirklichung des Grundtatbestands das Überwinden von zuvor durch den Schutzgutinhaber eingerichteten Sicherungen für das Schutzgut verlangt, findet sich ansonsten nur bei § 202a StGB, dem Ausspähen von Daten: „Wer unbefugt sich oder einem anderen Zugang zu Daten, die nicht für ihn bestimmt und die gegen unberechtigten Zugang besonders gesichert sind, unter Überwindung der Zugangssicherung verschafft […]“. Das Erfordernis der Zugangssicherung, also z.B. das Einrichten einer Firewall, ist Tatbestandvoraussetzung, weil der Gesetzgeber davon ausgeht, dass Daten nicht per se öffentlichem Zugang entzogen werden sollen. Daher solle der fremde Zugriff auf Daten nur strafbewehrt sein, wenn „der Berechtigte durch die Sicherung gerade auch sein spezielles Interesse an der Geheimhaltung“ dokumentiert.[8] Ohne diese Sicherung kann damit von einer allgemeinen Verfügbarkeit ausgegangen werden, und es liegt kein sanktionswürdiges Verhalten beim Eindringen in den fremden Datenbereich vor.

Ähnlich bewertet der Gesetzgeber nach derzeitiger Rechtslage das Schutzgut der sexuellen Selbstbestimmung: wenn die berechtigte Person vor oder bei einem Übergriff keine besonderen Schutzmaßnahmen ergreift (aktive Gegenwehr) bzw. eine solche Schutzmaßnahme nicht von vorneherein als untauglich erscheint, liegt keine Straftat vor.

3.  Notwendige Anpassung von § 177 StGB an den Wertewandel in der modernen Gesellschaft

Es ist nicht sachgerecht, die sexuelle Selbstbestimmung auf eine Ebene mit ins Netz gestellten Daten zu stellen und sie als weniger schützenswert als das Eigentum zu behandeln. Diese Wertung des Gesetzgebers hat ihren Ursprung in tradierten Denkmustern von weiblicher Verfügbarkeit und der Irrelevanz von weiblichen Willensbekundungen. Denn aufgrund der je nach Geschlecht unterschiedlich starken Gefahr, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden, richtet sich § 177 StGB als Strafnorm trotz geschlechtsneutraler Formulierung nach wie vor ganz vorwiegend an Männer als Täter und Frauen als Opfer.

In Erfüllung der Istanbul-Konvention sollen die Vertragsstaaten für die Bestimmung der Strafbarkeit sexueller Handlungen darauf abstellen, dass es hinsichtlich der sexuellen Handlungen kein Einvernehmen zwischen Täter und Opfer gibt. In der offiziellen englischsprachigen Version des erläuternden Berichtes heißt es zu Art. 36: “Paragraph 1 covers all forms of sexual acts which are performed on another person without her or his freely given consent and which are carried out intentionally[9]. Dies entspricht den Werten einer modernen Gesellschaft, in der sich Menschen selbstbestimmt und frei aufeinander zubewegen können, ohne Angst davor haben zu müssen, dass jederzeit sanktionslos in ihr Rechtsgut auf sexuelle Selbstbestimmung eingegriffen werden kann, solange sie es nicht selbst aktiv schützen. Dieser Wertewandel hin zu einer am fehlenden Einverständnis anknüpfenden Definition von Sexualstraftaten wurde schon vor über zehn Jahren in dem bereits zitierten Urteil des EGMR aus dem Jahr 2003 festgestellt und mit zahlreichen Beispielen aus der Gesetzgebung und Rechtsanwendung in Europa belegt[10], wobei der Gerichtshof deutlich macht, dass dieser Entwicklung zu folgen sei, um die Verpflichtungen eines Staates aus der Menschenrechtskonvention zu erfüllen[11].

Einem möglichen Einwand, das Erfordernis der Herstellung eines Einverständnisses beschneide die freie spielerische Sexualität, ist entgegen zu halten, dass allenfalls die Freiheit beschränkt wird, einseitig zu definieren, wie Sexualität zu funktionieren hat. Kommen zwei Personen überein, dass zu ihrem Sexualleben ein Spiel gehören soll, bei dem eine Person so tut, als habe sie keinen Spaß daran, liegt ein Einverständnis vor. Im Übrigen bestehen bei sado-masochistischen Praktiken vergleichbare Abgrenzungsprobleme bei der Feststellung des subjektiven Tatbestands auch nach heutiger Rechtslage.

Auch zwischen der öffentlichen Wahrnehmung dessen, wann ein sexueller Übergriff sanktionswürdig ist, und den Tatbestandsvoraussetzungen von § 177 StGB besteht eine erhebliche Diskrepanz. In der Gesellschaft verstehen die meisten Menschen unter sexueller Nötigung eine sexuelle Handlung gegen den Willen der anderen Person. Dies mag auch aus der Unterschriftenaktion von Terre des Femmes mit dem Ziel, § 177 StGB dahingehend zu ändern, dass der Straftatbestand der Vergewaltigung am fehlenden Einverständnis des Opfers anknüpft, abgeleitet werden, die von mittlerweile über 20.000 Personen unterstützt wird[12]. Die sich wandelnde Bewertung geschlechtsspezifischer Gewalt zeigt sich auch in der langsamen, aber stetigen aktuellen Verankerung der Sanktionierung von gender based violence im deutschen Strafgesetzbuch wie z.B. in § 226a StGB (Verstümmelung weiblicher Genitalien) oder § 237 StGB (Zwangsheirat).

Der Gesetzgeber hingegen nimmt im geltenden Recht eine nicht mehr nachvollziehbare Differenzierung vor, die einerseits sexuelle Nötigung mittels Gewalt oder Drohung mit Lebens- oder Leibesgefahr unter Verbrechensstrafe nach § 177 StGB stellt, andererseits bei auch massiver psychischer Gewalt wie in den Beispielsfällen (3), (4) und (8) eine Geld- oder allenfalls geringe Freiheitsstrafe ausreichen lässt, § 240 Abs. 1 StGB. Der Gesetzgeber ist gefordert, nicht nur Strafbarkeitslücken auszufüllen, sondern Rechtsnormen einem gewandelten gesellschaftlichen Selbstverständnis anzupassen und gleichwertiges Unrecht in gleicher Weise zu ahnden.

Darüber hinaus sind unter dem Gesichtspunkt der Normverdeutlichung die in der Gesellschaft zu erwartenden Effekte einer Gesetzesänderung, die eine Strafbarkeit sexueller Handlungen gegen den Willen des Opfers nicht mehr von zusätzlichen Nötigungsmitteln oder einer schutzlosen Lage abhängig macht, höchst wünschenswert. Solange die Vorschrift mit jetziger Formulierung fort gilt, wird potentiellen Straftätern signalisiert, dass das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung nicht von Grund auf und voraussetzungslos zu respektieren ist, so wie etwa das Eigentum, sondern, dass es einen gewissen Spielraum gibt, den auszureizen sich lohnen kann. Denn sie verstoßen nur dann gegen unsere Rechts- und damit Werteordnung, wenn sie eines der drei von der Rechtsprechung über die Jahrzehnte immer wieder unterschiedlich ausgelegten Tatbestandsmerkmale Gewalt, qualifizierte Drohung oder Ausnutzen einer schutzlosen Lage erfüllen. Es ist zu erwarten, dass eine Gesetzesänderung im von der Istanbul-Konvention geforderten Sinne in der Bevölkerung ähnliche Effekte haben wird, wie die vor zwei Jahrzehnten eingeführte, damals heftig umstrittene Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, deren Angemessenheit heutzutage nicht mehr hinterfragt wird.

4.  Schwere der Rechtsgutverletzung auch bei „gewaltfreiem“ Handeln

Der Täter bemächtigt sich bei der Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts eines elementaren Rechtsguts, wobei die Verletzung körperlich erlebt wird und – auch wenn keinerlei Gewalt im Spiel ist - meist schwerwiegende und häufig langanhaltende somatische und psychische Folgen zeitigt[13]. Diese sind mit erheblichen Folgekosten für das Gemeinwesen verbunden[14]. Die Verletzung des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung für sich genommen ist, auch ohne Anwendung von Nötigungsmitteln, in einer Weise schützenswert, dass sie im Mindestmaß mit erheblicher Freiheitsstrafe geahndet werden muss.

Eine Ausweitung des Straftatbestands auf nicht strafwürdige Verhaltensweisen ist nicht zu besorgen. Werbende Handlungen, die im Vorfeld möglicherweise ausgeführt und als nicht strafwürdig angesehen werden, wie Streicheln der Arme oder der bekleideten Brust, erfüllen bereits deswegen den Tatbestand nicht, weil diese Handlungen – wie auch jetzt schon – nicht eine „sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit“ im Sinne von § 184 g StGB erfüllen. Zum anderen ist auf die gewandelte Werteordnung zu verweisen, wonach heute anders als zu früherer Zeit das Rechtsgut der freien sexuellen Selbstbestimmung in seinem Rang als Schutzgut aufgewertet wurde und es nicht mehr zeitgemäß ist, es nur unter bestimmten Voraussetzungen zu schützen.

Gewaltanwendung ist wie bei anderen Rechtsgutverletzungen als besonders schwerer Fall oder Qualifikation zu werten. Wird Gewalt oder ein anderes Nötigungsmittel eingesetzt, ist dies weiterhin als qualifiziertes Verbrechen mit erhöhter Mindeststrafe einzuordnen.

5.  Folgen für die Praxis

5. a Beweisführung

Es ist nicht zu erwarten, dass nach einer den Vorgaben der Istanbul-Konvention entsprechenden Gesetzesänderung, also einem Anknüpfen an das fehlende Einverständnis des Opfers, die Beweisführung bei Sexualdelikten für die Praxis erleichtert oder erschwert würde. Dies zeigen die Erfahrungen, die in anderen europäischen Ländern gemacht wurden, welche konventionskonform das Vorliegen einer Sexualstraftat vom fehlenden Einverständnis des Opfers abhängig machen[15]. Es wird, wie bereits jetzt schon, weiterhin entscheidend auf die Qualität der Aussage der Beteiligten ankommen, da auch nach heutiger Gesetzeslage außer in Fällen schwerer Gewaltanwendung in der Regel keine eindeutigen Spuren vorhanden sind. Ob das Leisten von Gegenwehr und gegebenenfalls spurenlose Gewaltanwendung festzustellen sind, oder ob festzustellen ist, ob das Opfer den sexuellen Handlungen nicht zustimmte und dies für den Täter erkennbar war, sind Beweisfragen, die im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation mit dem über lange Jahre von der Praxis entwickelten richterlichen Handwerkzeug zu prüfen sind. Es wird insoweit weiterhin das Opfer und sein Verhalten im Mittelpunkt der Beweisaufnahme stehen, da sein Verhalten einen maßgeblichen Teil der Gesamtumstände bildet, die laut Konvention zur Überprüfung des entgegenstehenden Willens heran zu ziehen und zu würdigen sind.

Vermieden würde mit einer Gesetzesänderung allerdings – jedenfalls in den Fällen, in denen die sexuelle Handlung eingeräumt, aber als einvernehmlich dargestellt wird – das Ausufern von typischen, entwürdigenden Situationen für die von sexuellen Übergriffen Betroffenen, in denen beispielsweise penibel danach gefragt wird, mit welcher Kraftentfaltung die Beine auseinandergedrückt wurden und in welcher Weise genau sie Gegenwehr geleistet haben, wie sie gelegen haben, wo ihre Hände sich befanden und warum diese nicht etwa zur Abwehr eingesetzt wurden. Denn Art und Nachdruck der Gegenwehr bzw. der Gewaltanwendung wären nach einer Gesetzesänderung entsprechend den Vorgaben der Konvention nicht mehr das fast alleinige Thema der Beweisaufnahme, wie nach heutiger Rechtslage, sondern Teil einer Reihe von verschiedenen zu würdigenden Umständen, die in die Prüfung straferschwerender Umstände einzubeziehen wären. Liegt der Fokus auf dem „Einverständnis“ wäre die Ermittlung des Sachverhalts grundsätzlich weniger belastend für das Opfer als wenn dieser auf der Abwehr durch das Opfer liegt, was immer die Befragung zu intimsten Vorgängen bedingt und Schuldzuweisungen intendiert.

5.b Tatbestand und Rechtswidrigkeit

Während die Einwilligung beispielsweise bei der Körperverletzung eine Frage der Rechtswidrigkeit ist, wäre das Vorliegen oder das Fehlen des Einverständnisses bei einer Änderung von § 177 StGB im Sinne der Istanbul-Konvention auf der Tatbestandsebene zu prüfen: nur wenn kein Einverständnis vorliegt, ist der objektive Tatbestand erfüllt. Im subjektiven Tatbestand wäre bei der Frage des Vorsatzes festzustellen, ob dem Täter das fehlende Einverständnis des Opfers bewusst war oder ob er zumindest damit rechnete, dass es nicht vorlag und die Rechtsgutsverletzung dennoch billigend in Kauf nahm. Damit wird einerseits eine Erfassung nicht strafwürdiger Fälle vermieden, in denen nicht zu widerlegen ist, dass der Täter den Willen des Opfers falsch interpretierte, andererseits jedoch ausgeschlossen, dass der Täter straffrei bleibt, wenn er trotz deutlicher Anzeichen den Willen des Opfers bewusst ignorierte (dann dolus eventualis).

6. Bedenken im Hinblick auf Art. 103 GG

Wird ein Handeln ohne Einverständnis unter Strafe gestellt, genügt dies dem Bestimmtheitsgrundsatz, da strafbares von nicht strafbarem Handeln klar abgegrenzt werden kann. Die Formulierung des Tatbestands vermittelt einem potentiellen Täter, dass er – um strafbares Handeln zu vermeiden – sich hinsichtlich des Einverständnisses des Opfers notfalls auch vergewissern muss. Das derzeit vom Gesetz herangezogene Kriterium der „Gewalt“ hingegen wird in der Laiensphäre oft anders bewertet als nach der umfangreichen und über die Jahrzehnte teils widersprüchlichen Rechtsprechung, so dass für potentielle Täter strafbewehrtes und straffreies Verhalten nach einer Gesetzesänderung leichter abzugrenzen wäre.

7. Folgeänderungen

Bei der vorgeschlagenen Änderung wären folgerichtig

  • sexuelle Handlungen an oder vor Kindern – mangels wirksamen Einverständnisses – grundsätzlich immer,
  • sexuelle Handlungen an oder vor Jugendlichen, sofern kein wirksames Einverständnis vorliegt,
  • sexuelle Handlungen an Personen, die derzeit durch § 179 StGB geschützt werden, ebenfalls mangels wirksamen Einverständnisses

unter Strafe gestellt.

Zugleich müssten für alle Opfergruppen

  • die Anwendung von Gewalt oder Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben,
  • die Tatbegehung durch mehrere Täter,
  • die Tatbegehung durch Wiederholungstäter,
  • die Tatbegehung unter Einsatz von Waffen oder gefährlichen Werkzeugen,
  • die Ausnutzung einer besonderen Vertrauensstellung

erhöhte Strafrahmen (Mindeststrafe zwei Jahre Freiheitsstrafe oder mehr) gelten.

Schließlich könnte die systemfremde Regelung des § 240 Abs. 4 Nr. 1 StGB aufgehoben werden.

Ramona Pisal
Präsidentin

Dagmar Freudenberg
Vorsitzende der Kommission Strafrecht

 

[1] EGMR v. 4.12.2003, M.C. gegen Bulgarien, Bsw. 39272/98, Nr. 153.

[2] Offizielle englische Version: ‚non-consensual‘.

[3] Erläuternder Bericht zur Konvention, Nr. 191.

[4] EGMR v. 4.12.2003, M.C. gegen Bulgarien, Bsw. 39272/98, Nr. 158-163.

[5] Erläuternder Bericht zur Konvention, Nr. 191.

[6] Hier und im Folgenden wird darauf verzichtet, jeweils die weibliche und die männliche Form zu benutzten, weil nach wie vor im Erwachsenenalter in erster Linie Frauen von sexuellen Übergriffen durch Männer bedroht sind.

[7] Vom Missbrauch besonderer Abhängigkeitsverhältnisse (§§ 174a-c) abgesehen.

[8] BT-Drs-16/3656, 10.

[9] Erläuternder Bericht zur Konvention, Nr. 189.

[10] EGMR, a.a.O., Nr. 88-108, 126-147.

[11] EGMR, a.a.O., Nr. 162, 166.

[12] Online: <http://www.frauenrechte.de/online/index.php/themen-und-aktionen/haeusliche-und-sexualisierte-gewalt/aktuelles/1336-unterschriftenaktion-vergewaltigung-schluss-mit-der-straflosigkeit> (Zugriff: 13.04.2014).

[13] Violence against women: an EU-wide survey, European Union Agency for Fundamental Rights, 2014; Global and regional estimates of violence against women: prevalence and health effects of intimate partner violence and non-partner sexual violence, World Health Organisation, London School of Hygiene & Tropical Medicine, South African Medical Research Council, 2013; Garcia-Moreno/Riecher-Rössler, eds, Violence against Women and Mental Health, Basel, 2013; Schröttle et al., Gewalt gegen Frauen – Eine sekundäranalystische Auswertung zur Differenzierung von Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und Unterstützung nach erlebter Gewalt, im Auftrag des BMFSFJ, 2009; Garcia-Moreno et al.: WHO Multi-country Study on Women’s Health and Domestic Violence against Women, World Health Organisation, 2005; Müller/Schröttle: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, Untersuchung im Auftrag des BMFSFJ, 2004.

[14] Zuletzt Fliedner/Schwab/Stern/Iten, Kosten von Gewalt in Paarbeziehungen, im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann, Bern, 2013; Arth, The Economic Impact of Violence against Women in Tennessee im Auftrag der Tennessee Economic Council on Women, 2013 (Zugriff: 9.5.2014); s.a. statt vieler Corso et al., Medical Costs and Productivity Losses Due to Interpersonal and Self-Directed Violence in the United States, Am J Prev Med 2007; 32(6): 474-482; Walters et al., The Economic Dimensions of Interpersonal Violence, World Health Organisation, 2004; Walby, The cost of domestic violence im Auftrag der Department of Trade and Industry, Women and Equality Unit, 2004; s.a. Forschungsübersichten in Hagemann-White et al., Combating violence against women, Stocktaking study on the measures and actions taken in Council of Europe member states im Auftrag des Europarats, 2006, sowie in der Studie des UN-Generalseketärs zur Gewalt gegen Frauen, 2006, S. 50-52 und 133-139, (Zugriff: 9.5.2014) mit Grundlagenpapier Walby, Improving the statistics on violence against women, UN Expert Group Meeting, Geneva, 2005 (Zugriff: 9.5.2014).

[15]Belgien: Art. 375 § 1 Strafgesetzbuch; Irland: Sectl. 2 81) des Criminal Law (Rape) Act von 1981 und Sect. 9 des Criminal Law (Rape) (Amendment) Act 1990, wobei das Gesetz zudem regelt, dass fehlender Widerstand nicht als Einverständnis interpretiert werden darf; England/Wales: Part 1 Sexual Offences Act Part 1.