Stellungnahme: 07-06


zu den Vorlageverfahren beim BVerfG - BSG, Az. 1 BvL 3/05, 1 BvL 4/05, 1 BvL 5/05, 1 BvL 6/05, 1 BvL 7/05

Stellungnahme vom

AZ 1 BvL 3/05 u.a. - Beschluss des BVerfG vom 11.11.2008

 

Die Vorlagebeschlüsse des BSG betreffen fünf männliche Versicherte der Geburtsjahrgänge 1941 und 1942, die die vorgezogene Rente wegen Arbeitslosigkeit auf Grundlage einer Altersteilzeitvereinbarung in Anspruch genommen haben.

Die 1957 eingeführte Altersrente wegen Arbeitslosigkeit berechtigte zunächst zum abschlagsfreien Rentenbezug ab dem 60. Lebensjahr. Das Rentenreformgesetz 1992 sah die Anhebung der Altersgrenzen für den Bezug durch Versicherte der Geburtsjahrgänge ab 1937 vor. Ein vorzeitiger Rentenbezug ab 60 Jahren blieb weiterhin möglich, allerdings gemindert um einen lebenslangen Abschlag von 0,3 % pro Monat (d.h. 3,6 % pro Jahr), der in der Rentenformel durch den Zugangsfaktor 0,003 abgebildet wird. Die folgenden Reformen verkürzten die Übergangszeit für die Anhebung der Altersgrenzen und hoben dabei erstmals die Altersgrenzen auch für die hier betroffenen Geburtsjahrgänge an, zunächst auf 63 Jahre (RuStFöG 1996), später auf 64-65 Jahre (WFG 1996). 1996 (RuStFöG) wurde der Anwendungsbereich der Rentenart auf Versicherte erweitert, die ihre Lebensarbeitszeit durch freiwillige Vereinbarung auf Grundlage des Altersteilzeitgesetzes von 1996 für mindestens 24 Kalendermonate vermindert haben. Das RRG 1999 schaffte die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit (und geblockter Altersteilzeit) für die Jahrgänge ab 1952 - d.h. mit Wirkung ab 2017 - ab.

Die Dynamisierung des Rentenabbaus wurde durch Vertrauensschutzregelungen flankiert. Hierzu gehört die mit dem RRG 1999 eingeführte und hier zur Prüfung stehende Regelung, wonach die Bestimmungen des RRG 1992 auch auf Versicherte der Geburtsjahrgänge 1938-1941 anwendbar bleiben, die die Pflichtbeitragszeiten von 45 Jahren für versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit aufweisen. Zeiten der Versicherungspflicht wegen Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld II bleiben hierbei außer Betracht.

I. Verfassungsmäßigkeit der Ausgestaltung des § 237 Abs. 4 Nr. 3 (Vorlagefrage 1)

1.    Praktikabilität der Übergangsvorschrift

§ 237 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI ist eine der vier Vorschriften, die den Übergang für die Rentenarten regeln, die nur für

  • vor dem 1.1.1946 Geborene (Altersrente für langjährig Versicherte ab 63 nach § 236 SGB VI),
  • vor dem 1.1.1951 Geborene (Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 60 nach § 236 a SGB VI),
  • vor dem 1.1.1952 Geborene (Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit ab 60 nach § 237 SGB VI) und
  • vor dem 1.1.1951 geborene Frauen (Altersrente für Frauen ab 60 nach § 237 a SGB VI).

Nach Ablauf der Übergangszeitraums bleiben die Altersrente für langjährig Versicherte ab 62 und für schwerbehinderte Menschen ab 63 bestehen (§§ 36, 37 SGB VI). Die beiden mit der Rentenreforn 1957 eingeführten Rentenarten  wegen Arbeitslosigkeit und für Frauen entfallen ersatzlos.

Für den Übergamgszeitraum sind Regelungen entstanden, deren Inhalt sich nur schwergängig erschließt.

  • Für die vier Rentenrten müssen unverändert die jeweiligen Wartezeiten (Langjährig Versicherte und schwerbehinderte Menschen 35 Jahre, Arbeitslose und Frauen 15 Jahre) vorliegen.
  • Für die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und von Frauen sind die zusätzlichen Rentenvoraussetzungen der Arbeitslosigkeit und der jeweiligen vorheriger Pflichtversicherung erforderlich.
  • Ab wann die Rente abschlagsfrei in Anspruch genommen werden kann, richtet sich abhängig von Geburtsjahr und Monat der Versicherten nach der Veränderung der Altersgrenzen, wie sie als Anlage 21 für langjährig Versicherte, als Anlage 22 für schwerbehinderte Menschen, als Anlage 19 für Arbeits(teilzeit)arbeitslosigkeit und in Anlage 20 für Frauen in den Tabellen zur Anhebung der jeweiligen Altersgrenzen von 63 bzw. 60 bestimmt sind.
  • Von dieser für alle Versicherten geltenden Anhebung sind bestimmte Versichertengruppen wiederum ausgenommen, wie in §§ 236 Abs. 2, § § 236 a Satz 5, § 237 Abs. 4, 237 a Abs. 3 SGB VI nachzulesen  ist.

Die streitbefangene Vorschrift des § 237 Abs. 4 Nr. 3 ist ein Beispiel für Privilegierungen von der ansonsten greifenden Anhebung der Altersgrenzen. Der niedrigere Zugangsfaktor, der bei einer möglichen vorzeitigen Inanspruchnahme nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI sonst greifen würde, kommt ensprechend nicht zum Tragen.  

Der Gesetzgeber hat so zwar die wesentlichen Entscheidungen getroffen. Sie sind für Fachleute bei einer genaueren Lektüre auch nachvollziebar.  Zum Verständnis des  Rechts hätte es näher liegen können, das Regel- Ausnahme-Verhältnis klarer zu regeln.  Das Übergangsrecht ist nicht in einem Ausmaß intransparent, das es die Grenze zur Verfassungswidrigkeit überschreitet.

2.    Verstoß gegen das Verbot mittelbarer Differenzierung wegen des Geschlechts

Der Umbau der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ist als Maßnahme zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Rentenversicherung gerechtfertigt.

Die in § 237 SGB VI getroffenen Regelungen tragen dem Vertrauensschutz der rentennahen Jahrgänge grundsätzlich auch in der gebotenen Weise Rechnung.

Als im Anwendungsbereich eng begrenzte, privilegierende Ausnahme im Rahmen gesetzlicher Überleitung liegt § 237 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI grundsätzlich noch im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Die Bedenken des djb setzen aber an dem Element des Übergangsrechts an, das auch in den drei anderen Übergangsvorschriften als Ausnahme von der Anhebung der Altersgrenze geregelt ist. Privilegiert werden Versicherte mit mehr als 45 Jahren mit Pflichtbeitragszeiten. Zeiten, in denen Versicherte wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe versicherungspflichtig waren, werden nicht berücksichtigt.

Nach Auffassung des djb ist Anforderung von 45 Jahren aber am verfassungsrechtlichen Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts zu messen. Das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts ist nach Auffassung des Juristinnenbundes in Art. 3 Abs. 3 GG zu verankern (so auch für einen Einbezug indirekter Ungleichbehandlungen Jarass/Pieroth-Jarass, GG, Art. 3 Rn. 119; Sachs-Osterloh, GG, Art. 3 Rn. 256 f; v. Münch/Kunig – Gubelt, GG, Art. 3 Rn. 86; a. A. Dreier-Heun, GG, Art. 3 Rn. 31, 124).

Der Vertrauensschutz knüpft nicht unmittelbar an das Geschlecht, sondern an mindestens 45 Jahre mit Pflichtbeitragszeiten. Die darin zum Ausdruck kommende kontinuierliche Zugehörigkeit zum Kreis der Pflichtversichterten  ist typischerweise für Frauen schwerer als für Männer zu erreichen. Im Rentenzugang 2004 bildet sich dies deutlich ab. Grundlage ist das bis zur Angehung der Regelaltersgrenze von 65 auch 67 geltende Recht, also wie das Übergangsrecht ohne AFG Leistungen:

  • 27, 11% der Männer und
  • 2,48% der Frauen

erfüllen die 45 Jahren. Wenn die Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung und Pflege eingerechnet werden und damit für Frauen typischere Unterbrechungszeiten, ändert sich das Bild nur geringfügig. Dann würden

  • 27,12% der Männer und
  • 4,39 % der Frauen

45 und mehr Jahre erreichen.

Die für die Rentenhöhe entscheidenden Entgeltpunkte würden die langjährig Versicherten mit den Berücksichtigungszeiten für Männer leicht (von 56,68 auf 56,67) und für Frauen deutlicher absinken (von 44,70 auf 40, 38). Die Höhe der Entgeltpunkte ist  allerdings für die streitbefangene Frage der 45 Jahre ohne Bedeutung.

Es liegt mit der Voraussetzung von 45 Jahren eine signifikante Privilegierung von Männern vor. Auch bei Gesamtbetrachtung aller Rentenarten ändert sich dies Bild nicht, insbesondere auch nicht unter Einschluss der vorgezogenen Alterrente für Frauen. Alle vier Rentenarten verwenden für die Privilegierung den 45-Jahre-Wert. 

Die Vertrauensschutzregel des § 237 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI ist systemfremd.

Die Versicherungszeit wirkt sich auf den Umfang des Beitragsaufkommens und damit auf die Rentenhöhe aus. Systemspezifisch sind außerdem die Wartezeiten zur Begründung des Altersrentenanspruchs und die zusätzlichen Voraussetzungen für den Bezug der Renten wegen Arbeitslosigkeit, weil hierdurch die Finanzierbarkeit der Leistungen sicher stellt wird. Für die Regelung in § 237 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI ist aber weder ein Zweck benannt, noch ist ein Zusammenhang mit dem Vertrauensschutz der Versicherten erkennbar. Der Sicherung der Finanzierungsgrundlagen dient die Regelung gerade nicht.

Eine die mittelbare Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts rechtfertigender Grund ist nicht ersichtlich. 

3.    Verstoß gegen das Verbot zur Diskriminierung der Familie (Art.  3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG)

§ 237 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI steht auch nicht im Einklang mit dem Verfassungsgebot zum Schutz der Familie, weil Versicherte, die für die Zeit der Kindererziehung auf eine versicherungspflichtige Tätigkeit verzichtet haben, gegenüber anderen Versicherten in ungerechtfertigter Weise diskriminiert werden. Die Bindung des Vertrauensschutzes an die Erfüllung von 45 Pflichtbeitragsjahren unter Ausschluss der Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung ist insoweit nicht mehr vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umfasst.

Anders als in den Systemen der Kranken- oder Pflegeversicherung spiegelt die Leistung der Rentenversicherung den lebenslangen Versicherungsverlauf wider. Im typischen Versicherungsverlauf der betroffenen Geburtenjahrgänge war der Elternteil, der die Kinder erzog (ganz überwiegend die Mutter), während dieser Jahre nicht erwerbstätig. Im typischen Zeitraum der Kindererziehung durch diese Kohorte, d.h. vor allem in den Jahren zwischen 1961 und 1986, bestanden neben dem Kindergeld nur wenige staatliche Leistungen, die eine wenigstens teilzeitig ausgeübte versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ermöglicht oder zu ihr motiviert hätten. Im Gegenteil begünstigten Instrumente wie das Ehegattensplitting oder die beitragsfreie Ehegatten-Mitversicherung die Beschränkung der Familie auf nur ein Erwerbseinkommen. Mit der Beschränkung des Vertrauensschutzes in § 237 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI wird dieses Verhalten der Familie nachträglich negativ sanktioniert, obwohl gerade der Kindererziehung bestandssichernde Bedeutung für das System der Altersversorgung zukommt (BVerfGE 87, 1, 37). Für den Ausschluss der Berücksichtigungszeiten fehlt es außerdem an einem sachlichen Grund.

Dies gilt für § 237 IV und gleichermaßen für den nicht streitgegenständlichen § 237a III.

4. Kein Verstoß der Differenzierung zwischen Versicherten mit 45 Pflichtbeitragsjahren und solchen mit weniger Pflichtbeitragsjahren, aber (mindestens) gleich hoher Vorleistung gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 14 GG)

Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist nach Auffassung des Deutschen Juristinnenbundes die Beschränkung des Vertrauensschutzes auf Versicherte mit einer 45-jährigen Pflichtbeitragszeit unter Ausschluss Versicherter, die weniger Pflichtbeitragsjahre, aber höhere Wertstellungen (in der Zahl der erworbenen Entgeltpunkte) aufweisen. Das BSG scheint zu fordern, dass Versicherte, die in kürzeren Beitragszeiten aufgrund von hohen Einkommen auch 45 Entgeltpunkte erworben haben, ebenfalls in den Genuss der Übergangsregelung kommen müssen.

Dem ist nicht zu folgen, da dem eine zu starke und verfassungsrechtlich nicht gebotene Aufwertung eines versicherungsmathematischen Äquivalenzprinzips zugrunde liegt. Der Gesetzgeber ist zur Ausgestaltung der gesetzlichen Rentenversicherung ein weiter sozialpolitischer Gestaltungsspielraum eröffnet (vgl. nur Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, 2005, § 41 Nr. 2, S. 647), der mit der vorliegenden Ausgestaltung der Übergangsregelung nicht überschritten wurde. Es wäre im Gegenteil verfassungsrechtlich bedenklich, wenn für die Inanspruchnahme einer Übergangsregelung nur an die Zahl der erworbenen Entgeltpunkte angeknüpft würde, weil dann ein wesentliches Element der gesetzlichen Rentenversicherung – der solidarische Ausgleich von niedrigeren und höheren Beiträgen beim Rentenzugang – aufgegeben würde.

Die Anzahl der Entgeltpunkte, die ein Versicherter in seiner aktiven Zeit erworben hat, bestimmt nur seine individuelle Rentenhöhe. Für den Rentenzugang oder die Inanspruchnahme von Vertrauensschutzregelungen war die absolute Zahl der Entgeltpunkte bisher weder im SGB VI noch in der früheren Reichsversicherungsordnung relevant. Dies hat seine Berechtigung darin, dass andernfalls die Bezieher von hohen Einkommen in sehr kurzer Beitragszeit diese Voraussetzungen erfüllen würden, während die Bezieher niedrigerer Einkommen sehr viel länger erwerbstätig sein müssten, um die gleiche Zahl der Entgeltpunkte zu erreichen, oder sie möglicherweise in ihrem ganzen Versicherungsleben nicht erwerben können.

Der Gesetzgeber durfte - vorbehaltlich der obigen Ausführungen zu den Berücksichtigungszeiten - in § 237 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI eine Sonderregelung für besonders langjährige Versicherte einführen und dabei an die Dauer der Zugehörigkeit zur gesetzlichen Rentenversicherung anknüpfen. Wie die Wartezeit von 35 Jahren bei der Altersrente für langjährige Versicherte und der Altersrente für schwerbehinderte Menschen zeigt, sind lange Zugehörigkeitszeiten zum System der gesetzlichen Rentenversicherung traditionelle und anerkannte Anknüpfungskriterien für eine Privilegierung beim Rentenzugang. Ob diese Anknüpfungskriterien angesichts der Zunahme von prekären Beschäftigungsverhältnissen sozialpolitisch vernünftig sind, ist nicht zu beurteilen. Verfassungswidrig ist dieses Anknüpfungskriterium jedenfalls nicht.

II. Verfassungsmäßigkeit des zeitlich unbegrenzten Zuschlagsfaktors (Vorlagefrage 2)

Das BSG kritisiert die dauerhafte Abschmelzung der Rente um den verminderten Zugangsfaktor und hält es aus verfassungsrechtlichen Gründen für geboten, dem Versicherten nach Abschmelzung seines individuellen Vermögensvorteils durch vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit wieder die volle Rente auf der Grundlage der ursprünglich erworbenen Entgeltpunkte zuzuerkennen. Für das Gericht gibt es keinen Sachgrund, jemandem die durch Vorleistung erworbene Rentenhöhe auch dann noch zu versagen, wenn er seinen zusätzlichen Vermögensvorteil aus vorzeitiger Inanspruchnahme seiner Altersrente mittels Rentenkürzung zurückgezahlt habe. Qua Verfassungsrecht soll Rentnern, die eine vorzeitige Rente in Anspruch genommen haben, im Alter von 87 Jahren und 10 [s. Vorlagebeschluss S. 55] Monaten eine erhebliche Rentenerhöhung (Neuberechnung auf der Grundlage eines Zugangsfaktors von 1,0) zuerkannt werden.

Nach Auffassung des djb liegt dieser Argumentation eine zu starke Betonung einer individuellen Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen statt eines solidarisch umverteilenden Sozialversicherungsprinzips zu Grunde. Der Gesetzgeber darf einen lebenslangen Zugangsfaktor bei der vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente einführen, da nur so der einseitige Vorteil für diejenigen, die eine vorzeitige Rente in Anspruch nehmen ausgeglichen wird. Zutreffend hat das BSG herausgearbeitet, dass erst nach 27,7 Jahren der Vorteil der vorzeitigen Inanspruchnahme „aufgebraucht“ ist. Das bedeutet jedoch gleichzeitig, dass in allen Fällen in denen ein vorgezogner Altersrentner vor Erreichen des Alters von 87 Jahren und 10 Monaten stirbt, der individuelle Vorteil der vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente bestand.

Das BSG betrachtet allein den einzelnen Versicherten, der seinen ursprünglichen Vermögensvorteil „zurückzahlt“, dies zeigt auch die zu enge Vergleichgruppenbildung des Gerichts. Nahe würde es liegen, die Gruppe aller Rentner mit vorgezogenen Altersrenten einerseits mit der Gruppe aller Regelaltersrentner andererseits unabhängig von ihrem Alter zu vergleichen. Wie das BSG selbst aufgrund der versicherungsmathematischen Überlegungen festgestellt hat, dürfte in diesem Vergleich die Rentner mir vorgezogenen Altersrenten im Vorteil sein und insgesamt höhere Leistungen aus der Sozialversicherung erhalten (haben). Dies hängt damit zusammen, dass bei einem Versterben vor dem 87,7 Lebensjahr der Vorteil aus der vorgezogenen Altersrente noch besteht und die durchschnittliche Lebenserwartung gegenwärtig noch niedriger ist als 87,7 Jahre.

Stattdessen zieht das BSG als Vergleichsgruppen die Regelaltersrentner und die vorgezogenen Altersrentner jeweils jenseits von 87,7 Lebensjahren heran und sieht bei diesem Vergleich eine Benachteiligung derjenigen Rentner, die vorzeitig in Rente gegangen seien, weil ihre Rente niedriger sei. Diese Vergleichgruppenbildung ist zu eng. Es wird nicht berücksichtigt, dass den Nachteilen in diesem Alter Vorteile in jüngeren Jahren gegenüber gestanden haben.

Das BSG vergleicht innerhalb der Gruppe der vorzeitigen Altersrentner die vor dem Ausgleichszeitpunkt verstorbenen Versicherten, mit den nach dem Ausgleichszeitpunkt verstorbenen Versicherten. Die früher verstobenen Versicherten seien in diesem Vergleich begünstigt, da sie ihren Rentenvorteil nach gesetzlicher Planung "mit ins Grab" nehmen dürften. Diese Begründung des BSG ist nur schwer verständlich, wenn die Gesamtbegünstigung durch das System der gesetzlichen Rentenversicherung betrachtet wird. Es wird gerade kein Vorteil „mit ins Grab“ genommen, denn die Rente endet im Sterbemonat. Insofern werden bei einer Betrachtung der gesamten Rentenleistungen immer diejenigen, die alt werden und lange Rentenlaufzeiten haben, begünstigt. Diese Begünstigung ist durch die versicherungsmäßige Absicherung des Risikos Alter und Bestreitung des Lebensunterhalts nach der Zeit der Erwerbstätigkeit gerechtfertigt.

Die Lösungsmöglichkeiten des BSG (höherer Abschlagsfaktor für kürzere Zeiten bzw. deutliche Rentenerhöhung im Alter von 87,7 Jahren) würden weitere Gleichheitsprobleme aufwerfen und es wäre sozialpolitisch auch nur schwer vermittelbar, warum nach einer Rentenbezugszeit von 27 Jahren und 11 Monaten eine deutliche Rentenerhöhung eintreten soll. Zudem ist das gegenwärtige System einer dauerhaften Rentenminderung um einen starren Faktor auch verwaltungspraktikabel und gut nachvollziehbar.

Jutta Wagner   
Präsidentin                   

Christel Riedel
Vorsitzende der Kommission Recht der sozialen Sicherung,
Familienlastenausgleich