I. "Sozialtherapeutische Maßnahmen auf den Prüfstand stellen"
(BT-Drucks. 15/31)
Die Anfrage zielt ihrem Wortlaut nach dahin, durch Vergabe
entsprechender Forschungsaufträge Erkenntnisse für die
Optimierung von Behandlungsmaßnahmen von Sexualstraftätern zu
erlangen. Das ist jedenfalls und dann ein unterstützenswertes
Anliegen, wenn Fernziel dieser Anfrage der Ausbau
sozial-therapeutischer Maßnahmen und das Ernstmachen mit
Behandlung im Vollzug ist.
Es war eine nahezu utopische Idee, die vor mehr als 20 Jahren
Einzug in das Strafvollzugsrecht hielt: "Im Vollzug der
Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in
sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen" (§ 2
StVollzG). Diesem Ziel der Resozialisierung dient auch die
Verlegung von solchen Gefangenen, die wegen einer Sexualstraftat
zu mehr als 2 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurden, in eine
sozialtherapeutische Anstalt. Die Anfrage nennt den wesentlichen
Erfolg, den diese Gesetzgebung für die Gesellschaft bislang
hatte, selbst: Der empirische Nachweis der Wirksamkeit von
sozial-therapeutischen Maßnahmen ist erbracht.
Es muss in diesem Zusammenhang aber daran erinnert werden, dass
im Jahre 1969, zu Zeiten, in denen die Gesetzgebung sich noch dem
Geist liberaler Rechtsstaatlichkeit verpflichtet fühlte, die
Einrichtung sozialtherapeutischer Anstalten beschlossen
wurde.1 Bekanntlich wurde das Inkrafttreten der
entsprechenden Regelungen immer wieder hinausgeschoben, weil ihre
Realisierung den Bundesländern zu kostspielig und zu aufwändig
war, bis sie im Jahre 1984 dann wieder aufgehoben
wurden2. An ihre Stelle ist die
("wesentlich"3) "bescheidenere"4 heutige
Integration der Sozialtherapie in den Strafvollzug
getreten.
Für Sexualstraftäter hat das Gesetz zur Bekämpfung von
Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten5
die Ausweitung der Begutachtung und ihre Behandlung in
sozialtherapeutischen Anstalten vorgeschrieben. Auch diese
auszubauen, ist mit erheblichem Aufwand für die Länder verbunden.
Ich kann Ihnen deshalb nur zu dem Mut gratulieren, den Weg weiter
verfolgen zu wollen. Er ist ein Teil des richtigen Weges, auch
wenn er in materieller Hinsicht zunächst teurer zu sein scheint,
als dumpfes Wegsperren von straffällig gewordenen Menschen.
II. "Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der
Bevölkerung vor Sexual-verbrechen und anderen schweren
Straftaten" (BT-Drucks. 15/29)
und
"Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung
anderer Vorschriften" (BT-Drucks. 15/350)
Die vorliegenden Entwürfe sollen im wesentlichen zusammen
behandelt werden, denn sie sind von demselben Geist getragen. Es
gibt nur zwei wesentliche Unterschiede, auf die vorab gesondert
einzugehen ist: Der Entwurf der Abgeordneten Bosbach, Röttgen und
weiter, sowie der CDU/CSU-Fraktion fordert die nachträgliche
Anordnung der Sicherungsverwahrung. Die Koalitionsfraktionen
wollen als Bollwerk gegen Kindesmissbrauch alle, die Kenntnis von
künftigen Taten haben, mit Strafe bedrohen, wenn sie diese nicht
anzeigen oder sich zumindest ernsthaft bemühen, sie
abzuwenden.
1. Nachträgliche Sicherungsverwahrung
(CDU/CSU-Entwurf)
Der Vorschlag, die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in
der Sicherungsverwahrung zuzulassen, beruht zwar - wie die
sozialtherapeutischen Maßnahmen - auf dem straftheoretischen
Ansatz der Spezialprävention, allerdings in ihrer negativen
Ausprägung, die der Vater des Zweckgedankens im Strafrecht, Franz
von Liszt, als "Unschädlichmachung der nicht Besserungsfähigen"
bezeichnete. Die Einwände gegen diese Theorie, die sich in der
Todesstrafe am vollkommensten verwirklicht hat, sind hinlänglich
bekannt: Der Staat nimmt sich das Recht zu prinzipiell
unbegrenzbaren Eingriffen, weil Tat und staatliche Reaktion nicht
ins Verhältnis zu setzen sind, und das Risiko einer
Fehlentscheidung des Staates trägt - bildlich gesprochen - der
Hingerichtete.
Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung würde faktisch auf ein lebenslanges
Wegsperren hinauslaufen. Das läßt sich insbesondere an Hand des
vorgeschlagenen § 66a Abs. 2 CDU/CSU-Entwurf verdeutlichen: Die
hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich während des Strafvollzugs
"ergeben" kann, dass der Verurteilte künftig erneut Taten, wie
die zuvor aufgezählten begehen kann, begründet sich schon allein
daraus, dass jemand zu vier Jahren Freiheitsstrafe - so die
Voraussetzung dieses Absatzes - verurteilt wurde und diese
verbüßt. Hätte man je davon gehört, dass allein die Verbüßung
einer Freiheitsstrafe einen Menschen gebessert hätte? Die
Rückfallzahlen sprechen dagegen. Deshalb besteht die innere Logik
des Entwurfs in Folgendem: Für bessernde Behandlung fehlt das
Geld. Strafe bessert nicht. Weil der Täter bestraft wurde, bleibt
er gefährlich. Und weil das so praktisch ist, soll das nach dem
Willen der Verfasser dieses Entwurfs keineswegs nur für
Sexualstraftaten gelten, sondern auch etwa für Räuber und
räuberische Erpresser.
Es ist ferner bekannt, dass dann, wenn die Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung einmal angeordnet wurde, im Verfahren über
ihre Fortdauer die Beweisregel "in dubio pro reo" nicht mehr
gilt. Der Täter darf nur noch entlassen werden, wenn das Gericht
die Entschärfung seiner Gefährlichkeit positiv feststellen kann.
Der Täter hat letztlich seine eigene Ungefährlichkeit zu
beweisen. Das wird ihm in dem Verfahren, das der Entwurf
vorsieht, noch weniger gelingen können, als bisher, denn er hat -
wie auch sein Verteidiger - nur Frage- und Erklärungsrechte,
nicht aber Antragsrechte (Art. 3 Nr. 12 des Entwurfs: § 456b Abs.
3 S. 4 StPO). Immerhin soll ihm das Rechtsmittel der sofortigen
Beschwerde zugestanden werden (§ 456b Abs. 4). Da es
aufschiebende Wirkung hat und man angesichts der Schwere des
Eingriffs offenbar die aufschiebende Wirkung nicht offen
beseitigen mochte, hat der Entwurf ein ganz neues Instrument
entwickelt: die vorläufige Sicherung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung (§ 456b Abs. 5). Wo bleibt da das Prinzip
Hoffnung, das einmal vom Bundesverfassungsgericht6 als
Teil der Menschenwürde auch den lebenslänglich Verurteilten
zugebilligt wurde?
Es geht es nicht darum, hier eine Lanze für die Straftäter zu
brechen, schon gar nicht für Sexualstraftäter. Es darf aber nicht
dazu kommen, dass in unserem Staat die Würde der Menschen, seien
sie Täter oder Opfer, wertlos wird.
2. Die Nichtanzeige geplanter (Sexual-)Straftaten, § 138
(Koalitionsentwurf)
Dieser Vorschlag will die Nichtanzeige bevorstehender
Sexualstraftaten zu einer "Straftat gegen die öffentliche
Ordnung" (so die Überschrift des 7. Abschnitts, zu dem § 138 StGB
gehört) machen.
a) Notwendigkeit der Änderung
Das Europäische Parlament, auf dessen Entschließung sich der
Koalitionsentwurf als Begründung für diesen Vorschal beruft, hat
dagegen die Kriminalisierung der Nichtanzeige im Sinne von
unterlassener Hilfeleistung gefordert.
Dafür gibt es aber bereits einen Tatbestand, § 323c StGB, der
sich an jeden richtet und der in Unglücksfällen oder in Fällen
von gemeiner Gefahr oder Not das Unterlassen der erforderlichen
und möglichen Hilfe unter Strafe stellt. Wenn eine Straftat
bevorsteht oder gerade ausgeführt wird, ist das für das Opfer ein
Unglücksfall oder jedenfalls Not. Hilfe ist dann erforderlich.
Wer Kenntnis davon hat und Hilfe leisten kann, ist dann dazu
verpflichtet. Wenn es etwa um den Missbrauch von Kindern geht,
ist eine jedenfalls immer mögliche Hilfe etwa die Anzeige beim
Jugendamt, deren Unterlassen also über diesen Weg schon nach
geltendem Recht strafbar wäre.
Es ist eine ganz andere Frage, dass und warum Strafverfahren mit
diesem Vorwurf in der Praxis so gut wie nicht vorkommen. Das gilt
auch für entsprechende Verfahren gegen Mitarbeiter/innen des
Jugendamtes selbst, wenn diese trotz Anzeige untätig bleiben. Die
vorgeschlagene Änderung des § 138 StGB liefe in diesen Fällen
völlig ins Leere, weil die die bevorstehenden Taten ja bereits
angezeigt sind. Die Untätigkeit von Amtsträgern ließe sich
insoweit - heute, wie auch nach einer Änderung des § 138 StGB wie
vorgeschlagen - generell nur über den Weg eines
Unterlassungsdelikts (näher dazu unten) erfassen, wie es etwa im
Umweltstrafrecht bereits gängige Praxis ist, wenn die zuständigen
Amtsträger es unterlassen, etwa gegen Straftaten nach § 324 StGB
einzuschreiten. - Tatsächlich ist aus der Praxis bekannt, dass
die Staatsanwaltschaften entsprechende Ermittlungsverfahren gegen
das Umfeld der geschädigten und auch gegen Mitarbeiter/innen der
Jugendämter deshalb nicht oder jedenfalls nicht zu Ende führen,
weil die Sonderdezernate für Sexualstraftaten überlastet
sind.
An dieser Praxis dürfte aber auch die vorgeschlagene Änderung des
§ 138 StGB nicht viel ändern können.
Nach deutschem Recht sind überdies Beteiligungen an den
Sexualdelikten, und das gilt auch für den Missbrauch von
Kindern7, möglich, und insbesondere kann etwa Beihilfe
dazu auch durch Unterlassen begangen werden8. Jeder
also, der in einer Beziehung zu Geschädigten steht, aus der
heraus er oder sie für deren Wohl verantwortlich ist (sog.
Garantenstellung), kann sich selbst der Beteiligung an dem
Sexualdelikt schuldig machen, wenn er oder sie nicht dagegen
einschreitet.
Es hätte also genügt, wenn die Bundesrepublik, vertreten durch
die Bundesregierung, gegenüber dem Europäischen Parlament eine
entsprechende Erklärung abgegeben hätte.
b) Geeignetheit der beabsichtigten Änderungen
Die vorgeschlagene Ergänzung des § 138 StGB wird ihr Ziel nicht
erreichen können.
aa) Erfasst werden nur geplante Taten und die Ausführung von
Taten. Es geht nicht etwa um die Sicherung der immer nur
nachträglich möglichen Strafverfolgung.9 Unter
Vorhaben ist dabei jeder ernstliche Plan zu verstehen. Der Täter
muss seine verbrecherische Absicht nach Person oder Tatobjekt
konkretisiert und die Art seines Vorgehens zumindest in den
Grundzügen bereits festgelegt haben.10 Die Ausführung
der Tat beginnt mit deren Versuch und dauert bis zur Beendigung
an.11
bb) Davon nun müssen diejenigen, an die sich die Pflicht zur
Anzeige richtet, "glaubhaft erfahren" und zwar zu einem
Zeitpunkt, zu der die Ausführung der Tat oder jedenfalls deren
Erfolg noch abgewendet werden kann. Wie nun muss man sich die
Situation vorstellen, in der jemand diese Kenntnis zu diesem
relevanten Zeitpunkt besitzt?
Die Kenntnis von einer bevorstehenden oder gerade stattfindenden
Sexualstraftat kann etwa daraus resultieren, dass die Mitwisser
selbst beteiligt sind. Der (künftige) Straftäter und
Tatbeteiligte wie etwa Gehilf/inn/en, die ihn - und sei es auch
nur psychisch durch Unterlassen des Einschreitens - unterstützen,
fallen aber schon nicht unter den Tatbestand. § 138 StGB läuft in
diesen Fällen leer, weil das Gesetz niemanden bei Strafe zwingen
kann, eigene Straftaten vor Begehung polizeilich anzumelden. §
138 StGB kann deshalb nur durch (tat-) unbeteiligte Dritte
verwirklicht werden.12
Möglich bleibt, etwa in Fällen von Kindesmissbrauch, dass jemand
Kenntnis von zurückliegenden und fortgesetzten Taten hat und
deshalb auch von künftig sich wiederholenden Taten ausgeht.
Missbrauch ist bekanntlich ein heimliches Delikt, zu dessen modus
operandi es gehört, dass die Täter alles daran setzen, ihre Opfer
zum Schweigen zu bringen - und manchmal sogar im finalen Sinne.
Es dürfte jedenfalls bei Taten, die sich außerhalb des sozialen
Nahraums abspielen, nur schwer vorstellbar sein, dass jemand vor
oder bei Ausführung der Tat diese entsprechende Kenntnis hat. Von
der Änderung betroffen sind deshalb primär Angehörige des Täters
(oder zugleich auch der Verletzten).
cc) Welches Verhalten nun verlangt § 138 StGB denjenigen ab, die
die erforderliche Kenntnis von der geplanten Tat haben? Strafbar
ist die Nichtanzeige gegenüber "der Behörde oder dem
Betroffenen". Für eine Anzeige gegenüber dem Betroffenen
dürfte es in Fällen von Kindesmissbrauch jedenfalls nicht
ausreichen, das Kind selbst zu warnen. Das kann bei geplanten
Vergewaltigungen erwachsener Frauen anders aussehen.
Voraussetzung ist immer, dass der Bedrohte für ausreichenden
Schutz (noch) Vorsorge treffen kann.
Interessanter ist die Frage, wer mit "der Behörde" gemeint ist.
Wenn es um Anzeigen geht, liegt die Assoziation zur Strafanzeige
nahe, und damit auch die Annahme, dass zuständige Behörden nur
die Polizei oder gar die Staatsanwaltschaft seien. Es ist aber
seit je her und zu Recht anerkannt, dass für die Anzeige jede
staatliche Dienststelle in Betracht kommt, zu deren Aufgabenkreis
ein verhütendes Einschreiten gehört.13 Es ist also
keineswegs (ausschließlich) die Polizei gemeint. Das bedeutet,
dass eine Anzeige etwa beim Jugendamt, wenn es um Missbrauch von
Kindern geht, ausreicht, um den Tatbestand der Nichtanzeige zu
vermeiden. Ebenso genügt etwa eine Anzeige bei der für die
Heimaufsicht zuständigen Behörde, wenn es um den Missbrauch einer
in einem Heim lebenden, widerstandsunfähigen Person, oder gar bei
der zuständigen Kirchenbehörde, wenn es um den Missbrauch von
Kindern durch einen Priester geht. Ob und wie die Behörde dann
daraufhin tatsächlich tätig wird, um die Straftat zu verhindern -
oder auch nicht -, liegt jedenfalls strafrechtlich nicht mehr in
der Verantwortung des oder der Anzeigenden.
Die Frage, ob eine Anzeige geplanter oder unmittelbar
bevorstehender Sexualdelikte ein geeignetes Mittel zur
Verhinderung solcher Taten ist, hängt danach (auch) davon ab, ob
und inwieweit die ordnungsgemäß eingeschalteten Behörden
ihrerseits überhaupt bereit oder etwa nach den Regeln
kunstgerechter Sozialarbeit in der Lage sind, die Tat(en) zu
verhindern. Es kann mit Blick auf die unterschiedlichen Schulen
jedenfalls nicht behauptet werden, dass die Anzeige geplanter
Straftaten ein mit Sicherheit geeignetes Mittel wäre, Missbrauch
und andere Sexualdelikte wirksam zu bekämpfen.
dd) Für Angehörige, soweit sie nicht schon über die Konstruktion
des Unterlassens zu Tatbeteiligten werden, schafft § 139 Abs. 3
Satz 1 StGB in der aktuell gültigen Fassung einen persönlichen
Strafaufhebungsgrund.
Voraussetzung für die Straflosigkeit der Nichtanzeige eines
Angehörigen, also beispielsweise der Mutter eines missbrauchten
Kindes, ist das ernsthafte Bemühen, den Angehörigen, also
beispielsweise ihren Ehemann und Stiefvater des Kindes, von der
Tat abzuhalten oder den Erfolg der Tat abzuwenden. Aus § 139 Abs.
4 StGB ergibt sich im Umkehrschluss, dass dieses Bemühen nicht
objektiv erfolgreich sein muss; die Straflosigkeit nach § 138
StGB hängt also nicht davon ab, dass die Tat tatsächlich
verhindert wurde. Es ist unter ernsthaftem Bemühen vielmehr (nur)
das Ausschöpfen aller Verhinderungsmöglichkeiten zu verstehen,
die der Täter (sc. des § 138 StGB) kennt.14
Was verlangt nun das Gesetz damit von der Mutter des
missbrauchten Kindes, die zugleich die Ehefrau des
missbrauchenden Stiefvaters ist? Verlangt es von ihr, dass sie
mitsamt dem Kind flieht und sich womöglich bis zu dessen
Volljährigkeit für den Missbraucher unerreichbar hält? Reicht es
aus, wenn sie ihn regelmäßig anfleht, er möge aufhören? Muss sie
das Kind permanent im Blick behalten? - Das Gesetz ist insoweit
alles andere als bestimmt.
Das gilt auch für den Täter, der sich auf allerlei Unbill aus
verschiedenen Richtungen einstellen muss - wie es bisher schon
immer der Fall war. Wenn Strafrecht wirklich so etwas wie
bewusstseinsbildende Kraft hätte, und alle Bürgerinnen und Bürger
auch bei längst heiß gelaufenem Gesetzgebungsapparat noch bereit
wären, Gesetzesänderungen überhaupt zur Kenntnis, geschweige denn
ernst zu nehmen, dann würde mit der vorgeschlagenen Änderung der
§§ 138 und 139 StGB nur ein zusätzliches Signal an den Täter
gesetzt, die Heimlichkeit seiner Tat noch besser abzusichern als
bisher.
Die vorgeschlagene Neufassung würde also im Ergebnis auf eine
Wiederbelebung des Gedankens der Sippenhaft hinauslaufen und
würde das ist der eigentliche Einwand - in diese Haftung
ausgerechnet das Opfer einbeziehen.
c) Verletzung der Handwerkskunst
Unter denselben Voraussetzungen sollen auch Mitglieder beratender
oder helfender Berufe nicht zur Anzeige verpflichtet, hier:
gerechtfertigt, sein.
Es scheint inzwischen Schule zu machen, dass man die sogenannten
"Berufshelfer" vergisst.15 Die vorgeschlagene Fassung
des § 139 Abs. 3 S. 2 StGB jedenfalls hätte, um es einmal an
einem anderen Beispiel festzumachen, folgende Konsequenz:
Eine Frau, die zur Prostitution gezwungen und dabei regelmäßig -
meistens montags - vergewaltigt wird, begibt sich mit ihren
Verletzungen zu einer Ärztin. Diese sieht sich an ihre
Schweigepflicht gebunden und erstattet - auch auf Wunsch der
Patientin - keine Anzeige. Einen etwaigen Polizeieinsatz sehen
beide als deutlich (lebens-) gefährlicher an. Statt dessen bemüht
sich die Ärztin (ernsthaft) die Gefahr dadurch abzuwenden, dass
sie ihre Patientin mit der örtlichen Hurenselbsthilfegruppe in
Kontakt bringt, die möglicherweise Hilfe zur Selbsthilfe bieten
kann. Leider übersieht die Ärztin dabei - genau so wie der
Gesetzgeber - , dass ihr eine medizinisch-technische Assistentin
bei der Aufnahme der Fotos von den Verletzungen behilflich war
und außerdem den gesamten, ihr diktierten Untersuchungsbefund im
Klartext zur Kenntnis genommen hat. Diese Assistentin nun müsste
nach dem Willen der Koalitionsfraktionen künftig Anzeige
erstatten, sei es bei der Polizei, bei der Ärztekammer oder gar
bei der Staatsanwaltschaft, auch wenn ihre Arbeitgeberin (die
Ärztin) und die Patientin eine andere Strategie verabredet haben,
die auf ein ernsthaftes Bemühen der Tatvermeidung
hinausläuft.
Die Ausklammerung der sogenannten Berufshelfer ist einfach ein
handwerklicher Fehler.
d) Gegenläufige Nebeneffekte der vorgeschlagenen
Regelung
Wie bereits mehrfach erwähnt, ist die Regelung insgesamt dazu
angetan, akute Situationen etwa für betroffene Kinder eher zu
verschärfen, als zu verhindern. Nicht nur der Geheimhaltungsdruck
wird steigen; es steht auch zu befürchten, dass die Bereitschaft,
Kindern zuzuhören, die sich offenbaren wollen, eher abnimmt.
Schon jetzt müssen betroffene Kinder nach den Ergebnissen einer
Studie16 im Durchschnitt 7 Erwachsene ansprechen,
bevor einer Hilfe leistet oder in sonstiger Weise aktiv wird.
Künftig kann schon das Hinhören oder genaueres Hinsehen die
Gefahr strafrechtlicher Ahndung auslösen. Denn selbst, wenn das
Kind sich nur dadurch psychische Entlastung verschaffen will,
dass es über seine Erfahrungen spricht, aber keinesfalls ein
Einschreiten will, müßte eine Vertrauensperson, die nicht
zugleich Angehörige ist, beim Jugendamt Anzeige erstatten. Folge
wäre ein (weiterer) Vertrauensbruch, der den Auftakt zur
sogenannten sekundären Viktimisierung bildet.
Insoweit schafft auch der vorgeschlagene neue Absatz 5 des § 139
keine Abhilfe. Zwar lesen sich dessen Voraussetzungen ähnlich wie
die des Absatz 3: auch hier muss die zur Anzeige verpflichtete
Person sich "ernsthaft bemüht" haben, die Ausführung oder den
Erfolg der Tat anders als durch Anzeige abzuwenden; die
Rechtsfolge ist aber nicht automatisch Straflosigkeit oder gar
Rechtfertigung. Vielmehr handelt es sich um eine Ermächtigung des
Gerichts, von Strafe abzusehen, d. h. es muss erst einmal zu
einem Verfahren kommen. Ein solches Verfahren muss allerdings
nicht notwendig bis ins Stadium der Hauptverhandlung
fortschreiten, denn § 153b StPO läßt in Fällen, in denen das
Gericht von Strafe absehen kann, bereits die Einstellung durch
die Staatsanwaltschaft zu. Das ändert aber nichts daran, dass es
jederzeit zu einem Ermittlungsverfahren gegen die
Vertrauensperson kommen kann und diese deshalb jederzeit damit
rechnen muss.
Fazit:
Die vorgeschlagene Vorschrift ist einerseits ein zahnloser Tiger,
der klassische Fall symbolischer Gesetzgebung also, andererseits
aber geeignet, die Nötigungssituation oder das persönliche
Dilemma der potentiellen Opfer noch zu verschärfen.
2. Stellungnahme zu einzelnen Regelungsvorschlägen
a) Strafrahmen
Insgesamt ist der Entwurf der Koalitionsfraktionen, was die
Sanktionen angeht, in sich stimmiger.
aa) Das beruht vor allem darauf, dass in diesem Entwurf die
unbenannten Strafmilderungsgründe, also Regelungen, die nur ganz
allgemein für einen "minder schweren Fall" den Strafrahmen
senken, weitgehend beseitigt werden.
Solche unbenannten Strafmilderungsgründe sind vor allem im
Sexualstrafrecht Einfallstore für opferbeschuldigende
Verfahrensstrategien des Beschuldigten. Auch Verteidiger sind
unter Umständen verpflichtet, solche Ansätze zugunsten ihres
Mandanten im Prozess zu verfolgen.
Allerdings könnte die Strafdrohung für eine spezifische
Fallgestaltung problematisch werden, wenn es keine
Milderungsmöglichkeit gibt. Bislang sollte etwa ein minder
schwerer Fall des § 176 dann vorliegen, wenn ein jugendlicher
Täter mit einem älteren Kind von etwa 13 Jahren eine sexuelle
Beziehung im Rahmen einer Liebesbeziehung unterhält. Diese Fälle
sind zwar nach § 138 Abs. 1 Satz 2 des Koalitionsentwurfs von der
Anzeigepflicht ausgenommen, sind für den Täter aber gleichwohl
nach § 176 StGB strafbar. Abgesehen davon, dass dies in sich
nicht stimmig ist, müsste man, wenn der Koalitionsentwurf Gesetz
würde, darauf vertrauen, dass Jugendgerichte der minderen Schwere
der Schuld durch großzügige Anwendung der Diversionsregeln des
Jugendgerichtsgesetz Rechnung tragen.
bb) Ein weiterer Punkt ist befremdlich. Es ist (seit der letzten
Änderung des § 176a StGB) ein Novum im materiellen Strafrecht,
dass ein Rückfall nach Verurteilung innerhalb eines bestimmten
Zeitraums einen Qualifikationsgrund bildet (§ 176a Abs. 1 Nr. 4
StGB). Nun soll der Rückfall gar als Regelbeispiel für einen
besonders schweren Fall herangezogen wird, wie es in § 176 Abs. 3
des Koalitionsentwurfs vorgeschlagen wird.
Der besonders schwere Fall einer Straftat kann sinnvollerweise
nur in Umständen begründet sein, die eben diese Straftat selbst
kennzeichnen. Dass ein Täter wegen einer Straftat nach demselben
Gesetz bereits früher einmal verurteilt wurde, ist kein
solcher Umstand.
Wohl aber kennt das System des Strafrechts die "wiederholte" oder
"beharrliche" Gesetzesverletzung als einen Umstand, der etwa die
Hochstufung des Unrechts einer Ordnungswidrigkeit zur Straftat
begründen kann. Das ist insofern legitim, als der Täter durch
seine wiederholte oder andauernde Verletzung einer Norm deutlich
macht, dass er durch den Normappell nicht erreichbar ist und
deshalb einem erhöhten Schuldvorwurf ausgesetzt ist. Versteht man
das Regelbeispiel also so, dass es die wiederholte
Gesetzesverletzung ist, die den schweren Fall begründet, dann
ließe sich das rechtfertigen. Allerdings würde eine solche
Regelung zu Ungleichbehandlungen gleichartiger Fälle führen, wenn
nicht an die Vortat, also die Serienartigkeit der Taten, sondern
an die Verurteilung angeknüpft wird. Ein Täter, der vielfach und
über einen längeren Zeitraum ein Kind sexuell missbraucht, würde,
allein weil diese Taten in nur einem Verfahren abgeurteilt
würden, keinen besonders schweren Fall des Missbrauchs begangen
haben. Umgekehrt müsste z. B. ein besonders schwerer Fall
angenommen werden, wenn ein Täter wegen einer einmaligen
(geringfügigen) Verfehlung verurteilt wurde und dann etwa trotz
Therapie nur ein weiteres Mal (ebenfalls mit einer eher
geringfügigen Tat) rückfällig wird. Hinter diesem Regelbeispiel
dürfte die - gewiss nicht ganz unzutreffende - Vorstellung
stehen, dass Pädophilie nur schwer therapierbar ist und ein
Delikt, das auffällt, deshalb als Indiz für ein größeres
persönliches Dunkelfeld angesehen werden kann. Mit anderen
Worten: hier wird ein überschießender Verdacht erschwerend
berücksichtigt.
In der Praxis wird der heutige § 176a Abs. 1 Nr. 4 StGB, dem das
Regelbeispiel nachgebildet ist, freilich insofern als "praktisch"
empfunden, als der Verbrechenscharakter der Rückfalltat
verhindert, dass solche Taten etwa durch Verfahrenseinstellung
oder Täter-Opfer-Ausgleich "bagatellisiert" werden. Ferner lässt
sich schon bei der ersten Verurteilung auf die Folgen eines
Rückfalls hinweisen, so dass eine höhere Präventionswirkung
angenommen werden kann.
Es wäre aber ehrlicher und angemessener, nach einer Neuregelung
für die wiederholte Begehung solcher Taten zu suchen, die nicht
an die Zäsur einer Verurteilung anknüpft, sondern zur Vermeidung
von Wertungswidersprüchen zugleich das ungelöste Problem der
fortgesetzten Tat lösen sollte. Der (förmliche) Rückfall ist dazu
ungeeignet. Langjähriger, wiederholter Missbrauch ist regelmäßig
nur Gegenstand eines einzigen Verfahrens, das überdies besondere
Schwierigkeiten aufwirft. Der Vorwurf aller Einzeltaten lässt
sich im Nachhinein zumeist nach Zeit, Ort und Art der Begehung
nicht mehr hinreichend konkretisieren und aufgrund fehlender
Detailerinnerung der Beteiligten auch im Hauptverfahren oft nicht
mehr zuverlässig nachweisen. Gestaltet man generell die
wiederholte Begehung (oder die beharrliche Verletzung einer
strafrechtlichen Norm) im Bereich des Missbrauchs von Kindern als
schuldsteigernd und damit als Straferschwerungsgrund aus, würde
es ausreichen, wenn einige hervorgehobene Einzelfälle (etwa der
erste Fall des Missbrauchs oder der eine oder andere Fall, an den
sich Verletzte oft noch genau erinnern können) nachgewiesen sind
und im übrigen nur die Tatsache dass weitere Fälle vorgekommen
sind bewiesen wird, die sich unter den Begriff "wiederholter"
oder "beharrlicher" Begehung subsumieren lassen, ohne dass diese
im Einzelnen konkretisiert werden müssten.
Gleiches gilt für den analog formulierten Vorschlag für einen
neuen Absatz 3 in § 179.
b) DNA-Identitätsfeststellung
Die Erweiterung der Möglichkeiten zur DNA-Identitätsfeststellung
passt sich zwanglos in den aktuellen Trend der Gesetzgebung ein,
den sogenannten gläsernen Menschen herzustellen. Es ist
inzwischen hoffnungslos geworden, diesen Trend wieder umzukehren.
Von daher lassen die vorliegenden Entwürfe nur die Wahl zwischen
einem größeren und einem kleineren Übel. Das kleinere Übel ist
der Vorschlag des Koalitionsentwurfs.
Allerdings wird die ganze Regelungssystematik noch immer von
einem Fehler in Mitleidenschaft gezogen, der den Verfassern des
DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes von 1998 unterlaufen ist, die
es verabsäumt haben, die Einzelvorschriften in die StPO zu
integrieren. Die Regelungen sind unübersichtlich und in sich
widersprüchlich. Beispielsweise weist der Entwurf der
CDU/CSU-Fraktion zu Recht darauf hin, dass für eine der
Regelungen des DNA-Identitätsfestellungsgesetzes (§ 2a) das dort
aufgeführte Verfalldatum (30. 6. 2001) bereits überschritten ist.
Ich rege an, diesen Komplex insgesamt neu zu regeln, die Regeln
in die Strafprozessordnung zu integrieren und das
DNA-IdentitätsfeststellungsG als solches vollständig
aufzuheben.
Berlin, den 24. März 2003
Margret Diwell Präsidentin | Prof. Dr. Ursula Nelles Komm. Vorsitzende der Kommission Strafrecht |
1 Durch das 2. StrRG v. 4. 7. 1969, BGBl I, S.
717 ff wurde ein entsprechender § 65 in das StGB eingefügt.
2 Durch Art. 2 StVollzÄG vom 20. 12. 1984, BGBl. I, S.
1654.
3 So noch Lackner, StGB 18. Aufl., 1989, vor § 63, Anm.
2.
4 So Lackner/Kühl, StGB, 24. Aufl., 2001, vor § 63 Rn
2.
5 Vom 28. 1. 1998, BGBl. I, S. 160.
6 BVerfGE 45, 187.
7 Lackner/Kühl, 24. Aufl., § 176 Rn. 8.
8 So etwa Miebach (NStZ 1996, S. 121) für die Mutter,
die gegen den Missbrauch ihrer Kinder nicht einschreitet.
9 Geschütztes Rechtsgut ist nach h. M. der Schutz der
Rechtsgüter, die durch die anzeigepflichtigen Straftaten verletzt
werden (Lackner/Kühl, 24. Aufl. Rn 1 m.w.N.), nach a. A. daneben
auch die Rechtspflege (Tag JR 1995, 133).
10 Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB,
26. Aufl. 2001, § 138 Rn. 4.
11 Lackner/Kühl, 24. Aufl., § 138 Rn 2.
12 Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB,
26. Aufl. 2001, § 138 Rn. 20 m. w. N.
13 Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB,
26. Aufl. 2001, § 138 Rn. 13 m. w. N.
14 Lackner/Kühl, § 24 Rn.20.
15 So etwa in § 100h Abs. 2 stopp.
16 Kirchhof, Sexueller Missbrauch vor Gericht,
1996.