Stellungnahme: 01-25


zur öffentlichen Anhörung des Landtags des Landes Nordrhein-Westfalen zum Thema "Häusliche Gewalt" am 25./26.Oktober 2001

Stellungnahme vom

  • Gegen Gewalt in der Ehe - "Rote Karte" für gewaltbereite Ehepartner, Antrag der Fraktion der CDU, Drs. 13/851
  • Häuslicher Gewalt entschieden entgegentreten - Aktionsplan der Bundesregierung unterstützen und durch Landesaktionsplan begleiten, Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, LT-Drs.13/916
  • Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes und des Ordnungsbehördengesetzes, Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 13/1525

Der Deutsche Juristinnenbund (djb) begrüßt, dass sich die Fraktionen im Landtag von Nordrhein-Westfalen parteiübergreifend für Maßnahmen aussprechen, die dem verbesserten Schutz vor häuslicher Gewalt dienen. Die in den Anträgen formulierte Einschätzung zum Ausmaß von häuslicher Gewalt wie auch zum Handlungsbedarf teilt der djb vorbehaltlos. Der djb unterstützt die Vorgehensweise, die vorgeschlagenen Maßnahmen koordiniert, ressortübergreifend und unter Einbeziehung des Expertinnenwissens der Mitarbeiterinnen der Frauen- und Kinderunterstützungseinrichtungen anzugehen.
Die in den o.g. Anträgen sowie im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Polizeigesetzes und des Ordnungsbehördengesetzes enumerierten Vorschläge erscheinen geeignet, die Handlungspraxis zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt zu verbessern. Insbesondere vor dem Hintergrund der bevorstehenden Verabschiedung des sogenannten Gewaltschutzgesetzes durch den Deutschen Bundestag ist es notwendig, flankierende Maßnahmen u.a. durch ein verändertes polizeiliches Einschreiten zum Schutz der von Gewalt Betroffenen umzusetzen.


Im einzelnen nimmt der djb zu den ausgearbeiteten Vorschlägen wie folgt Stellung:

1. Datenerhebung/Monitoring

Die Erhebung von Daten zur Häufigkeit polizeilicher Einsätze im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt, der Anzahl und des Abschlusses von Strafverfahren und der einstweiligen Rechtsschutzverfahren bei den Amts- und Familiengerichten sowie die Erweiterung der Jugendhilfestatistik um die Frage, ob in der Familie häusliche Gewalt vorkommt, ist dringend geboten. Durch eine kontinuierliche Datenerhebung wird das Hellfeld von häuslicher Gewalt beleuchtet und sichtbar. Gleichzeitig kann evaluiert werden, ob eingeleitete Maßnahmen zu einer veränderten Handlungspraxis führen. So stiegen die Eingangszahlen nach Einführung des Sonderdezernates für häusliche Gewalt bei der Amtsanwaltschaft in Berlin von 3.000 im Jahr 1997 auf 6.000 im Jahr 1999. Die Vermutung liegt nahe, dass nicht die Gewaltrate innerhalb dieses kurzen Zeitraumes um 100% gestiegen ist, sondern eine veränderte Interventions- und Ermittlungspraxis durch die Polizei zu einer verbesserten Bearbeitung der Akten geführt hat.
Eine erweiterte Datenerfassung lässt sich auch auf Landesebene realisieren. Nachdem sich die Einführung von INPOL-Neu voraussichtlich bis 2004 verzögern wird, muss die Datenerhebung auf Landesebene verändert werden. In Berlin wurde z.B. zum 1.1.2001 ein Merker "häusliche Gewalt" in das ISVB System (Informationssystem Verbrechensbekämpfung) der polizeilichen Datenerfassung eingeführt. Der Zugriff auf alle im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt stehenden Taten ermöglicht einen Überblick über das Gesamtproblem. Der Merker wird zum Abschluss der Ermittlungen in das ISVB aufgenommen; damit ist der Vorgang registriert und kann der PKS zur Auswertung zugeführt werden. Der Merker häusliche Gewalt wurde ebenso bei der Amts- und Staatsanwaltschaft eingeführt, um den weiteren Verlauf der Verfahren evaluieren zu können.
Die Ergebnisse der Datenerhebungen sollten dem Landtag - wie im Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auch bereits formuliert - regelmäßig im Rahmen der jährlichen Berichtspflicht der Ressorts vorgetragen werden.

2. Aus- und Fortbildung

Mit Nachdruck weist der djb darauf hin, dass die Einbeziehung des Themas häusliche Gewalt in die Aus- und Fortbildungskataloge aller mit der Intervention befassten Berufsgruppen (insbesondere Polizei, Staatsanwaltschaft, Richterschaft, Jugendämter, Ärzteschaft) notwendige Voraussetzung ist, um die Interventionspraxis bei häuslicher Gewalt nachhaltig zu verändern. Von Seiten des Justizministeriums sollte darauf hingewirkt werden, dass die Anwaltskammer und die Fachverbände entsprechende Angebote für die anwaltschaftliche Fortbildung bereitstellen. Standards für die Curricula von Fortbildungsmaßnahmen werden derzeit durch eine interdisziplinär besetzte Unter-AG der vom Bundesfrauenministerium geleiteten Bund-Länder-AG, an der auch der djb beteiligt ist, ausgearbeitet.

3. Polizeirecht

Der djb begrüßt die vorgesehene Änderung des POG NRW, um auf häusliche Gewalt durch die Polizei offensiver zu reagieren. Die bisher bestehenden Eingriffsbefugnisse der Polizei werden durch den Entwurf (Drs. 13/1525) sinnvoll erweitert und klar bestimmt. So wird in Ergänzung zu dem zivilrechtlichen Gewaltschutzgesetz eine Lücke zum Schutz der betroffenen Frauen und ihrer Kinder auf der polizeirechtlichen Ebene geschlossen.
Die Schaffung einer eigenständigen Rechtsnorm in § 34 a POG NRW setzt ein eindeutiges Zeichen, bei häuslicher Gewalt einzuschreiten, und gibt den Einsatzbeamtinnen und beamten vor Ort Handlungs- und Rechtssicherheit. Gewalttätern wird signalisiert, dass Gewalttaten im häuslichen Bereich nicht länger toleriert werden. Den Opfern wird demonstriert, dass durch häusliche Gewalt strafbare Handlungen begangen werden, die ein polizeiliches Einschreiten erfordern und rechtfertigen.

Im Folgenden wird zu den einzelnen Regelungsbereichen Stellung genommen:

Zu § 34 a Abs. 4 und 6 POG NRW

Besonders hervorzuheben sind die sehr praxisnahen und instruktiven Regelungen zur Informations- und Mitteilungspflicht gegenüber den von häuslicher Gewalt Betroffenen hinsichtlich der Möglichkeit der Beantragung weitergehender zivilrechtlicher Maßnahmen und der Inanspruchnahme von spezifischen Beratungsangeboten (§ 34a Abs. 4 POG NRW). Ebenso verhält es sich mit der Hinweispflicht bezüglich der Dauer und der Beendigung der getroffenen Maßnahmen (§ 34 a Abs. 6 S. 2 POG NRW). Nur durch eine hohe Informationsdichte bleiben gefährdete Personen handlungsfähig und in der Lage,

Wünschenswert ist es darüber hinaus, die Übermittlung der Sozialdaten der von häuslicher Gewalt Betroffenen an geeignete, noch zu schaffende Stellen zu regeln, wie dies bereits in Mecklenburg-Vorpommern geschieht, um ein pro-aktives Handeln zu ermöglichen. Die Begründung im Entwurf (Drs. 13/1525), die eine Entmündigung der Frau durch ein pro-aktives Vorgehen befürchtet, vermag nicht zu überzeugen. Die Erfahrungen der Mitarbeiterinnen der Interventionsstellen in Österreich belegen, dass betroffene Frauen sich ausnahmslos positiv äußern, dass mit ihnen Kontakt aufgenommen wird. Sofern eine Frau keine Beratung wünscht, kann sie das Beratungsangebot jederzeit ablehnen. Der pro-aktive Ansatz erleichtert es den Betroffenen, Beratung und Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Gerade um den über das sogenannte Gewaltschutzgesetz eröffneten gerichtlichen Weg zu beschreiten, bedarf es einer professionellen Information, Beratung und Begleitung, da der Gang zu einem Gericht zur Durchsetzung eigener Rechte vielen Menschen nicht vertraut ist. Nur ein "Maßnahmenpaket" aus polizeilicher Wegweisung, einem nachfolgendem psycho-sozialen Unterstützungsangebot und den gerichtlichen Schutzanordnungen vermag den Betroffenen dauerhaften Schutz zu gewährleisten. Auf Seite 15 der Begründung des Gesetzentwurfes wird ausgeführt, dass die Polizei bei der Einwilligung zur Datenweitergabe vom Schriftformerfordernis des § 4 Abs. 1 S. 3 DSG NRW absehen kann und auch bei einer mündlich erteilten Einwilligung die Daten der gefährdeten Person weitergegeben werden können. Begründet wird dies mit der psychischen Ausnahmesituation der Frau, die es nicht angemessen erscheinen lässt, auf die Abgabe einer schriftlichen Einverständniserklärung zu bestehen. Folgt man dieser Begründung, führt dies konsequenterweise zur Bejahung des pro-aktiven Ansatzes. Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind und in einer ihre psychische wie physische Existenz bedrohenden Situation leben, haben häufig nicht die Kraft, eigenständig eine Beratungsstelle zu kontaktieren. Scham und Unsicherheit hindern die Frau daran, sich weitergehend zu informieren. Daher erscheint es sachgerechter, eine rechtliche Grundlage für die Weitergabe der Daten an geeignete und genau zu bestimmende Stellen zu schaffen. Auch Mecklenburg-Vorpommern hat als erstes Bundesland in Deutschland diesen Weg gewählt. Der djb empfiehlt, eine entsprechende Rechtsgrundlage auch in Nordrhein-Westfalen zu schaffen.

§ 41 Abs. 1 SOG Mecklenburg-Vorpommern lautet:

Sind andere Behörden, andere öffentliche Stellen oder Stellen außerhalb der öffentlichen Verwaltung an der Abwehr von Gefahren beteiligt, können ihnen personenbezogene Daten übermittelt werden, soweit die Kenntnis dieser personenbezogenen Daten zur Gefahrenabwehr erforderlich erscheint. Im übrigen können personenbezogene Daten an Behörden oder Stellen innerhalb und außerhalb der öffentlichen Verwaltung übermittelt werden, soweit dies zur Abwehr einer im Einzelfall bevorstehenden Gefahr erforderlich ist.

Der djb regt darüber hinaus an, dass die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen sich dafür einsetzt, dass die Staatsanwaltschaften durch eine klare Verfahrensregelung (auf der Ebene der StPO oder der RiStBV) verpflichtet werden, die Polizei zu informieren, sofern ein Gewalttäter in Untersuchungshaft genommen oder entlassen wird. Die Polizei kann dann im Rahmen der Gefahrenabwehr die gefährdete Person hiervon unverzüglich in Kenntnis setzen. Die Mitteilung dient dem Schutz der gefährdeten Person, die dann ggf. geeignete Maßnahmen, z.B. Flucht in ein Frauenhaus, ergreifen kann, und dem Selbstschutz der Beamtinnen und Beamten, die damit beauftragt sind, die Einhaltung der Wohnungsverweisung zu überprüfen.
Formulierungsvorschlag: Die Staatsanwaltschaft hat der Polizei die Anordnung oder Aufhebung der Untersuchungshaft gegenüber einem Beschuldigten von Straftaten, die im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt stehen, unverzüglich mitzuteilen; die §§ 18-22 EGVG bleiben unberührt. Zur Abwehr einer bevorstehenden Gefahr hat die Polizei diese Informationen an die gefährdete Person unmittelbar weiterzuleiten.

Zu § 34a Abs. 5 POG NRW

Um eine weitgehend lückenlose Verzahnung des polizeilichen Rückkehrverbotes mit der einstweiligen Zuweisung der Wohnung und/oder dem Erlass von Schutzanordnungen zu erreichen, sollten die in § 34a POG NRW genannten Fristen sich jeweils auf Werktage beziehen. Eine Dauer von zehn Werktagen bei einem polizeilichen Rückkehrverbot - mit der Möglichkeit, bei Stellung eines Antrags auf Erlass einer zivilrechtlichen einstweiligen Anordnung auf max. zwanzig Werktage zu verlängern - erscheint angemessen. Dies setzt allerdings voraus, dass auf Seiten der Justiz durch entsprechende Sensibilisierung und die Schaffung von Schwerpunktabteilungen alles getan wird, um die Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bei häuslicher Gewalt zu beschleunigen.

Zu § 34 a Abs. 7 POG NRW

Von besonderer Wichtigkeit ist die Regelung in § 34 a Abs. 7 POG NRW, die eine Überprüfung der Einhaltung des Rückkehrverbotes zwingend anordnet. Der djb empfiehlt, die Einhaltung regelmäßig innerhalb von 72 Stunden nach Anordnung der Wohnungsverweisung zu überprüfen. Eine spätere Überprüfung wird dem Schutzbedürfnis der Betroffenen nicht gerecht. Auch in der Begründung des Gesetzentwurfes (S. 19) wird der Zeitraum von 72 Stunden empfohlen.
Formulierungsvorschlag: Die Einhaltung des Rückkehrverbotes ist mindestens einmal innerhalb von 72 Stunden nach seiner Anordnung zu überprüfen.

Leitlinien für die polizeiliche Praxis

Der djb unterstützt die Weiterentwicklung und Veröffentlichung von Leitlinien für die polizeiliche Praxis bei gleichzeitiger Intensivierung der Aus- und Fortbildung. Nur so können die neu geschaffenen Handlungsmöglichkeiten auch praktische Wirkung entfalten. Der djb empfiehlt, bei der Entwicklung der Leitlinien die Expertise von PraktikerInnen aus den Berufsfeldern der Schutz- und Kriminalpolizei und der Frauen- und Kinderschutzeinrichtungen einzubeziehen. Das Erfordernis der kooperativen Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Berufsfeldern sollte in den Leitlinien verankert werden.

4. Justizorganisation

Die neuen Regelungen des zivilrechtlichen Gewaltschutzgesetzes verlangen nach einer gezielt geschulten Richterschaft wie auch einem gut vorbereiteten Rechtsantrags- und Geschäftsstellenpersonal, da bislang nur in seltenen Fällen der zivilrechtliche Schutz unmittelbar erreicht werden konnte. Die bereits vorhandenen und vom Bundesfrauenministerium veröffentlichten Musteranträge für die Beantragung zivilgerichtlicher Schutzanordnungen1 werden zur Zeit bei BIG überarbeitet.

Der djb regt an, die organisatorischen Maßnahmen, die sich in Strafgerichtsverfahren bewährt haben, etwa die Einrichtung von Sonderdezernaten bei der Staatsanwaltschaft wie auch geschützte Zeugenbetreuungsstellen für OpferzeugInnen, auf die Familiengerichte zu übertragen. Die Gerichtspräsidien sollten aufgefordert werden, die Befugnis zur Gerichtsorganisation zu nutzen, Sonderabteilungen zur Bearbeitung der Anträge nach dem neuen Gewaltschutzgesetz einzurichten. Nach Ansicht des djb sollte gleichzeitig vermieden werden, an Familiengerichten berufsunerfahrene Richterinnen und Richter einzusetzen, die bereits nach kurzer Zeit umgesetzt werden.

Die Diskussion zur Ächtung der Gewalt gegen Frauen und Kinder ist vom internationalen Austausch geprägt. Auch hinsichtlich der Gerichtsorganisation können wir von Vorbildern aus dem Ausland lernen. So sind beispielsweise in den Vereinigten Staaten über 100 domestic violence courts eingerichtet worden. Durch die Spezialisierung, die aus der Sonderzuständigkeit für häusliche Gewalt am Gericht erwächst, wird ein erhöhter Professionalisierungsgrad erreicht.
Nicht zuletzt möchte der djb die Bedeutung der Achtung und des Ausbaus der Verletztenrechte im Verfahrensrecht unterstreichen. Hierzu verweisen wir auf den Gesetzentwurf zur Reform der Nebenklage und anderer Verletztenrechte der Strafrechtskommission des djb aus dem Jahr 1998.

5. Kinder und häusliche Gewalt

Der djb unterstützt die Forderung des Landesaktionsplans, der Situation von Kindern in Gewaltbeziehungen sowie im Gesamtkontext häuslicher Gewalt erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Kinder sind immer Opfer von häuslicher Gewalt, auch wenn sie selbst nicht körperlich oder psychisch misshandelt werden, sondern "nur" Zeugen der Gewalthandlungen wurden.

Das Ausmaß miterlebter Gewalt ist nicht zu unterschätzen2:
90% der Kinder aus Familien, in denen der Vater gegenüber der Mutter gewalttätig wurde, befanden sich in demselben oder im angrenzenden Raum.
73% beobachteten die Gewalttätigkeit direkt.
10% beobachteten sexuelle Gewalt gegen ihre Mutter.
62% hörten die Gewalttätigkeit.

In Gewaltbeziehungen erleben Kinder in der Regel nicht nur eine vereinzelte Gewalthandlung mit, sondern sehen die Mutter - und damit mittelbar sich selbst - der Machtausübung des Misshandlers oft über Monate und Jahre hinweg ausgesetzt. In dieser verwirrenden Situation fühlen sie sich in ihrer Existenz bedroht, da die Mutter nicht mehr als Garantin von Sicherheit und Schutz erlebt wird oder sogar ggf. durch eigenes Eingreifen vor dem Misshandler geschützt werden muss.

Kinder, die eine Gewaltausübung des Vaters gegenüber der Mutter miterleben, zeigen dieselben Symptome wie Kinder, die unmittelbar misshandelt wurden:

  • Störungen im Sozialverhalten (Aggressionen, Schwierigkeiten im Umgang mit Grenzen, Kontrollverlust, Kontaktschwierigkeiten, Dissozialität; je nach eigener Geschlechterrolle Überidentifikation mit dem Täter oder dem Opfer, Lernen "pathologischer", nicht-gewaltfreier Geschlechterrollen)
  • schwere Ängste
  • Verzögerungen in der sprachlichen, motorischen, kognitiven Entwicklung
  • psychosomatische Störungen (Essstörungen, Einnässen, Einkoten, hohe Krankheitsanfälligkeit)

Diese Auswirkungen miterlebter Gewaltausübung finden sich nicht nur in den Berichten der Frauenhäuser und Beratungsstellen, sondern auch in der einschlägigen Literatur:

So wird das Erleben massiver Gewalt als traumatische Erfahrung beschrieben, da die Kinder eine existenzielle Angst vor der eigenen Vernichtung erleben. Eine Grundvoraussetzung, diese Traumatisierung bearbeiten zu können, ist ein sicherer Rahmen, der Schutz und Abstand vom Aggressor ermöglicht.

Der gewalttätige (Stief-)Vater gefährdet demnach durch seine Gewaltausübung gegenüber der Mutter auch das Kindeswohl. Diese Tatsache muss in die Entscheidungsfindungsprozesse im Bereich des Sorge- und Umgangsrechts Eingang finden: Ein seine Partnerin misshandelnder (Stief-) Vater übt, aufgrund der schädlichen Folgen dieser Gewalt für die Entwicklung des Kindes, sein Erziehungsrecht (aus § 1666 BGB) missbräuchlich aus und verstößt damit auch gegen den neu ins BGB eingeführten Anspruch des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung (§ 1631 II BGB).

Zudem müssen die Schutzinteressen der von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen in der Abwägung Berücksichtigung finden. Praxis und Forschung belegen, dass mit der Trennung vom Mißhandler in der Regel die Gewalt nicht beendet ist, sondern zu eskalieren droht. In der Phase der Trennung erhöht sich die Gefährdung, verletzt oder getötet zu werden, um das dreifache. Gleichzeitig wird die Frau in dieser Zeit oft mit einer hohen Erwartungshaltung der Gerichte und Jugendämter konfrontiert. Als Grundlage für weitere Entscheidungen hinsichtlich des Umgangs- und Sorgerechts wird eine ausgeprägte Kooperationsbereitschaft der Frau vorausgesetzt, die sich darin zeigt, dass die Mutter einen möglichst ununterbrochenen Kontakt der Kinder zum Vater sicherstellen soll. Eine solche Haltung aber setzt die Frau unter den Druck, mit dem Misshandler in Verbindung zu bleiben und eigene Sicherheitsbedürfnisse der Demonstration von Kooperations- und Einigungsfähigkeit nachzuordnen. Nicht zuletzt versuchen viele Misshandler, den Kontakt zu den Kindern und damit auch zur Mutter zu nutzen, um zu diffamieren, zu drohen, zu kontrollieren oder Einfluss zu nehmen.
Der djb fordert daher, bei häuslicher Gewalt kein gemeinsames Sorgerecht zu erteilen. Auch ein alleiniges Sorgerecht für Täter von häuslicher Gewalt scheidet aus den oben genannten Gründen aus. Es sollte kein Umgang des Vaters angeordnet werden, solange die Gefahr der Gewaltausübung gegenüber der Mutter und/oder gegenüber dem Kind besteht. Vor der Erteilung des Umgangsrechts muss gesichert sein, dass weder dem Kind noch der Mutter weitere Gewalttätigkeiten drohen. Bei häuslicher Gewalt sollte vor der Erteilung des Umgangsrechts immer geprüft werden, ob zunächst ein begleiteter Umgang angeordnet wird. Dieser sollte allerdings erst dann erfolgen, wenn der Vater willens und in der Lage ist, Verantwortung für sein gewalttätiges Handeln zu übernehmen.

Damit Kinder, die häusliche Gewalt in ihrer Familie erleben, dennoch ihr Entwicklungspotential voll entfalten können, brauchen sie Unterstützung. Professionelle EntscheiderInnen, die mit Fragen des Sorge- und Umgangsrechts auf der Ebene der Justiz, der Jugendämter oder der Sozialen Dienste befasst sind, benötigen daher sachgerechte Kenntnisse über die Dynamik häuslicher Gewalt und deren Folgen für die Entwicklung eines Kindes, um die Gefährdung des Kindes und ggf. der Mutter erkennen und die dem Kindeswohl entsprechende Entscheidung treffen zu können.
Es sind deshalb geeignete Fortbildungsangebote für RichterInnen, VerfahrenspflegerInnen und
Jugendamtsmitarbeiterinnen bereitzustellen. Zusätzlich sollten für die Angehörigen der verschiedenen Berufsgruppen Leitlinien für die Erteilung des (begleiteten) Umgangs bei häuslicher Gewalt entwickelt werden.

6. Gesundheitswesen

Kliniken und ärztliche Praxen werden häufig von Betroffenen von häuslicher Gewalt aufgesucht. Das Gesundheitswesen ist in Deutschland nicht ausreichend darauf ausgerichtet, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die Gewalterfahrungen hervorrufen, diagnostisch festzustellen und den Frauen eine adäquate Hilfe und Unterstützung zu erteilen. Da Frauen aus Scham oder Angst oft nicht oder nicht in vollem Umfang die Ursache ihrer Verletzungen benennen, ist auch hier eine Sensibilisierung der ÄrztInnen und des Pflegepersonals notwendig. So wird oft übersehen, dass Gewalterfahrungen der eigentliche Grund für das Aufsuchen der ärztlichen Hilfe sind. Dies mündet in Fehldiagnosen und -therapien, Übermedikalisierung und Chronifizierung psychosomatisch bedingter Leiden.

Der djb regt deshalb an, den Landesaktionsplan um das Element Gesundheit zu erweitern. Das Gesundheitswesen kann einen eigenen wichtigen Beitrag zum Schutz der betroffenen Frauen und Kinder leisten, wenn es Standards für die Früherkennung von Gewalterfahrungen sowie für die Nachsorge-Intervention anwendet. Unter Nachsorge-Intervention ist hier die systematische, vernetzte Kooperation mit den Frauenunterstützungsstellen gemeint.
Auf Erfahrungen mit ausdifferenzierten Instrumentarien aus dem Ausland wie aus Deutschland selbst kann zurückgegriffen werden. Seit Herbst läuft das Modellprojekt S.I.G.N.A.L. im Berliner Klinikum Benjamin Franklin, das wissenschaftlich begleitet wird. Durch gezielte Fortbildungsangebote und einen Screeningleitfaden wird dort das Pflegepersonal und die Ärzteschaft zur häuslichen Gewalt und zu Methoden des Gewaltscreening geschult. Informationsmaterialien für praktische ÄrztInnen wurden bei BIG e.V. entworfen und flächendeckend an Berliner Arztpraxen verteilt. In der Broschüre befinden sich auch Hinweise über Anlaufstellen für betroffene Frauen und deren Kinder. In Niedersachsen bereitet die Landesärztekammer in Kooperation mit der Pflegekammer, der medizinischen Hochschule und der Landesregierung ein diagnostisches Nachschlagewerk nach dem Modell vor, das in den meisten Bundesländern für die Pädiatrie zur Gewalt gegen Kinder bereits veröffentlicht worden ist, um nur eins von vielen Projekten hervorzuheben. Andere Bundesländer und einzelne Kliniken sind dabei, diese Fokussierung bei der Gewaltintervention in Angriff zu nehmen. Der djb begrüßt die länderübergreifende Kooperation, die sich entwickelt, und regt eine Beteiligung Nordrhein-Westfalens insoweit an.

7. Kooperation und Vernetzung

Der djb begrüßt den Vorschlag, die Kooperation und die Vernetzung zwischen den verschiedenen Ressorts und den an der Intervention beteiligten Berufsgruppen aus- bzw. aufzubauen.

Der Bericht über die Arbeitsweise und den Erfolg des Berliner Interventionsprojektes gegen häusliche Gewalt in der Bund-Länder-AG hat gezeigt, dass die Einrichtung einer unabhängigen Landeskoordinierungsstelle eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Vernetzungsarbeit ist. Zu demselben Ergebnis kommt auch die wissenschaftliche Begleitforschung WiBIG in ihrem vom Bundesfrauenministerium herausgegebenen Bericht "Modelle der Kooperation"3.

Die Koordinierungsstelle hat die Aufgabe, Kooperationsstrukturen aufzubauen, die zielgerichtete Entwicklung von Maßnahmen voranzubringen und die Umsetzung dieser Maßnahmen in die Praxis zu begleiten. Die Finanzierung von mindestens vier Personalstellen erscheint notwendig, um die vielfältigen Aufgaben, bezogen auf die komplexe Thematik, zu bewältigen. Das Anforderungsprofil ist sehr hoch, da Probleme aus dem Bereich des Polizeirechts, des Straf- und des Zivilrechts, des Ausländerrechts, des Sozialrechts und des Jugendhilferechts bearbeitet werden müssen.

Der Aufbau von tragfähigen Vernetzungsstrukturen ist eine Aufgabe, die facettenreiche Kompetenzen4 und Erfahrung erfordert. Beispielsweise:

  • die Bereitschaft sich in berufsfremde Denk- und Handlungsweisen hineinzudenken und
  • produktive Umgangsformen in einem interdisziplinären Rahmen zu entwickeln.

Die Bedingungen für eine funktionierende Koordinierungsstelle werden in dem Bericht der wissenschaftlichen Begleitforschung WiBIG anschaulich beschrieben:

  • Die Koordinierungsstelle braucht einen klaren Arbeitsauftrag und ein eindeutiges Anforderungsprofil, um ihre Rolle als moderierende und in Konflikten vermittelnde Kraft auszuüben.
  • Das Koordinierungsteam sollte interdisziplinär besetzt sein. Die hier vertretenen Disziplinen sollten nach Möglichkeit den wichtigsten Berufsfeldern im Kooperationsverbund entsprechen.
  • Die Koordinatorinnen sollten qualifiziert und berufserfahren sein, um die Akzeptanz im Kooperationsverbund zu finden. Ihr Auftrag ist es, die Komplexität der Thematik immer wieder einzubringen und ihrem Auftrag als steuernde Kraft gerecht zu werden.
  • Sie sollten konsequent die pragmatischen Ziele verfolgen, aber darüber die prozessbezogenen mittelfristigen Ziele nicht aus den Augen verlieren und die Arbeit des Projektes immer wieder auf die übergeordnete Mission zurückführen.

Margret Diwell
Präsidentin

 



1 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Materialien zur Gleichstellung 80/2000,
2 Hester, Marianne; Pearson, Chris; Harwin, Nicola; Making an Impact - Children and Domestic Vio-lence, Leicester 1998
3 "Modelle der Kooperation gegen häusliche Gewalt", S. 329 f., Materialien des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Art-Nr. 3309, Telnr.: 0180/5329329
4 s.a.: Susanne Eichler; Gesa Schirrmacher; 1998, Friedenspraxis gegen Alltagsgewalt -Vorausset-zungen inter-institutioneller Zusammenarbeit zum Abbau von Gewalt im Geschlechterverhältnis, noch unveröffentlichter Abschlussbericht des gleichnamigen Forschungsprojektes an der Universität Osnabrück