Stellungnahme: 00-10


der Europa-Kommission des djb zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Stand 15. August 2000

Stellungnahme vom

Stand: 15. August 2000

Die grundlegenden Vorschläge der Europakommission der djb für eine Grundrechtecharta (Stand Mai 2000) finden sie hier

Das Präsidium hat Ende Juli einen vollständigen Text der Charta vorgelegt. Der djb begrüßt den Text. Der Grundrechtsstandard ist im wesentlichen sachgerecht formuliert. Für folgende Artikel schlägt der djb Änderungen vor:


1. Recht auf freie Entwicklung der Persönlichkeit

Der djb schlägt vor, nach Art. 3 folgenden neuen Artikel einzufügen:

Artikel 3a     Recht auf freie Entwicklung der Persönlichkeit

Alle Menschen haben das Recht, sich frei in ihrer Persönlichkeit zu entwickeln, soweit sie nicht gegen die Rechte anderer oder das Recht der Union verstoßen. Der Kern ihrer Persönlichkeit ist frei von hoheitlicher Einmischung

Begründung:
Eine allgemeine Handlungsfreiheit ist mehreren europäischen Verfassungen bekannt. Ihre Auffangfunktion macht eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit jeglicher belastender Eingriffe möglich, insbesondere des auch europarechtlich anerkannten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
Als besonders wichtige Ausprägung der Menschenwürde bedarf es eines ausdrücklichen absoluten Schutzes des Persönlichkeitskerns, der auch über den Schutz des Privatlebens im Sinne des Art. 7 hinausgeht.

Der nunmehr in Art. 8 aufgenommene Schutz personenbezogener Daten ist zu begrüßen, aber nicht ausreichend.

Die Menschenwürde stellt eine absolute Tabugrenze dar, die klassisch mit Bereichen wie Menschenhandel, Folter, Todesstrafe oder Euthanasie verbunden wird.

Die neuere Rechtsentwicklung und die durch sie reflektierte rasante Entwicklung im technologischen Bereich haben jedoch gezeigt, dass auch Fälle wie die Verwendbarkeit von Tagebucheintragungen, der Schutz des Namens, das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung etc. den Kernbereich sowohl der allgemeinen Handlungsfreiheit als auch der Menschenwürde berühren. Eine ausdrückliche grundrechtliche Absicherung ist deshalb geboten.

Die Formulierung "Achtung ihres Familienlebens" in Art. 7 dagegen deutet auf eine Begrenzung des Persönlichkeitsschutzes auf den Bereich außerhalb des Berufs, des öffentlichen Lebens, kurz innerhalb der eigenen vier Wände hin, der zwar notwendig, aber nicht ausreichend ist.


2. Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen (Artikel 9)

Der djb schlägt vor, an den bisher einzigen Satz folgenden Satz 2 anzufügen:

Artikel 9     Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen

Das Recht, eine Ehe einzugehen, und das Recht, eine Familie zu gründen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen gewährleistet, welche die Ausübung dieser Rechte regeln. Niemand darf zur Eheschließung gezwungen werden.

Begründung:
Das Recht, eine Ehe einzugehen, ist unvollständig, wenn nicht ausdrücklich der Zwang zur Eheschließung ausgeschlossen wird. Dieser Aspekt ist im Präsidiumsvorschlag nicht berücksichtigt und sollte ergänzt werden.


3. Asylrecht (Artikel 18)

Der djb schlägt vor, den Asylartikel wie folgt neu zu fassen:

Artikel 18     Asylrecht

(1) Jede nicht der Union angehörende Person, die politisch, aus religiösen oder rassistischen Gründen verfolgt wird oder unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung oder Behandlung ausgesetzt ist, hat ein Recht auf Asyl in der Union. Sie hat das Bleiberecht bis zum Abschluss des Verfahrens.
(2) Kollektivabschiebungen von Ausländerinnen und Ausländern sind nicht zulässig.

Begründung:
Das Asylrecht im Präsidiumsvorschlag ist differenzierter zu fassen. Die vorgeschlagene Formulierung ermöglicht die Anerkennung religiöser, rassistischer und frauenspezifischer Fluchtgründe. Der notwendige Abschiebungsschutz ist als Absatz 2 angefügt.

Die Grundrechtscharta hat die Rahmenbedingungen konkret zu formulieren, um dem Erfordernis der Transparenz zu genügen. Es sollte deshalb keine Verweisung auf geltende internationale Abkommen und Verträge im übrigen erfolgen.


3. Gleichheit und Nichtdiskriminierung (Artikel 21)

Der djb schlägt vor, Absatz 1 des Nichtdiskriminierungsartikels wie folgt neu zu fassen:

Artikel 21     Gleichheit und Nichtdiskriminierung

(1) Unterscheidungen nach der ethnischen oder sozialen Herkunft, der Hautfarbe, der Religion, der politischen Anschauung, der sexuellen Identität oder der Behinderung sind untersagt, sofern sie nicht zum Ausgleich bestehender Nachteile erforderlich sind.

Begründung:
Der hier vorgeschlagene Abs. 1 entspricht im Kern dem vom Präsidium vorgeschlagenen Art. 21 Abs. 1. Die Rechtsgleichheit wird hier im Sinne genereller rechtlicher Differenzierungsverbote konkretisiert. Kompensatorische Maßnahmen sind ausdrücklich zulässig. Allerdings müssen diese auch erforderlich sein. Die vorgeschlagene Umschreibung des Benachteiligungsverbotes ist klarer und juristisch eindeutiger als ein Diskriminierungsverbot. Es sind wesentliche Merkmale ausgewählt worden, die ele-mentaren Unrechtserfahrungen entsprechen. Das vom Präsidium auf der Grundlage der EMRK vorgeschlagene Unterscheidungsverbot nach dem Alter oder dem Vermögen wird abgelehnt. In beiden Fällen existieren vielfältige und allgemein akzeptierte gesetzliche Differenzierungen (Altersgrenzen; Steuer- und Leistungsgesetze), die ein generelles Differenzierungsverbot nicht sachgerecht erscheinen lassen. Der in Artikel 20 verankerte allgemeine Gleichheitssatz bietet hier einen ausreichenden Schutz.


4. Gleichheit von Männern und Frauen (Artikel 22)

Der djb begrüßt die Verankerung der Gleichstellung von Frauen und Männern in einem eigenständigen Artikel. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten sind Frauen. Die Rechte von Frauen sind deshalb nicht als ein Aspekt des Minderheiten-schutzes zu betrachten.

Der djb schlägt wegen der zu engen Fassung des Präsidiumsvorschlages folgende Neufassung von Artikel 22 vor:

Artikel 22     Gleichstellung von Frauen und Männern

(1) Die Union ist verpflichtet, die Bedingungen für die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen zu schaffen und bei allen ihren Maßnahmen die Geschlechtergleichstellung mit einzubeziehen.
(2) Neben der Ungleichbehandlung nach dem Geschlecht ist die Verwendung von Kriterien untersagt, die formal geschlechtsneutral sind, jedoch einen erheblich höheren Anteil der Angehörigen eines Geschlechtes betreffen, ohne dass sie durch wichtige Gründe, die nicht auf das Geschlecht bezogen sind, gerechtfertigt werden können.
(3) Zur Herstellung tatsächlicher Gleichberechtigung sind Maßnahmen zur Förderung des benachteiligten Geschlechts zulässig.

Begründung:
Artikelbezeichnung:
Der gebräuchliche Terminus im vorliegenden Politikbereich ist "Gleichstellung". "Frauen" sollten vor "Männern" aufgeführt werden, um der alphabetischen Reihenfolge zu genügen.

Abs. 1:
Die Voraussetzungen der tatsächlichen Gleichberechtigung können von der Union in ihren Zuständigkeitsbereichen verwirklicht werden. Das Ergebnis selbst, wie z.B. die gleiche Teilhabe auf allen Ebenen des Erwerbslebens kann nicht von der Union hergestellt werden. Im zweiten Teilsatz ist der gender-mainstreaming-Ansatz formuliert. Die Union muss die Geschlechtergleichstellung überall mit einbeziehen. Das ergibt sich bereits jetzt aus Artikel 2, 3 Abs. 2 EG-Vertrag. Der Präsidiumsvorschlag engt die Geschlechtergleichstellung auf den Beschäftigungsbereich ein. Eine wie hier vorgeschlagene umfassende Formulierung ist vorzuziehen.

Abs. 2:
Das unmittelbare Diskriminierungsverbot ist in einer Grundrechtscharta festzuschreiben. Dazu gehören auch verdeckte Benachteiligungen, die nur ein Geschlecht betreffen. Die Verankerung eines qualifizierten mittelbaren Diskriminierungsverbotes ist gleichfalls notwendig. Das entspricht der bisherigen Rechtslage.

Abs. 3:
Die Wirklichkeit zeigt deutlich notwendigen Handlungsbedarf, nicht nur im Beschäftigungsbereich. Frauen nehmen anders als Männer am öffentlichen Leben und am Erwerbsarbeitsleben teil. Sie sind in Entscheidungspositionen im wirtschaftlichen und politischen Bereich deutlich unterrepräsentiert, wenn überhaupt vertreten. Im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichberechtigung von Frauen und Männern sind deshalb spezifische Vergünstigungen des benachteiligten Geschlechts beizubehalten oder zu beschließen. Eine Kompensationsklausel, wie hier vorgeschlagen, ist deshalb in die Grundrechtscharta aufzunehmen.


5. Einklang von Familien- und Berufsleben (Artikel 31)

Der djb begrüßt grundsätzlich die Einbeziehung und Weiterentwicklung des Aspektes der Vereinbarkeit des Familien- und Berufslebens und die Überarbeitung der anfänglich vorgeschlagenen Regelungen zu Mutterschutz und Elternurlaub.

Der djb schlägt aber wegen der zu engen Fassung des Präsidiumsvorschlages folgende Neufassung von Artikel 31 vor:

Artikel 31     Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben

(1) Jede Person hat das Recht auf rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz ihres Familienlebens.
(2) Die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben ist zu gewährleisten.
(3) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genießen als Eltern besonderen Schutz. Den Belangen von schwangeren Arbeitnehmerinnen ist besonders Rechnung zu tragen.

Begründung:
Artikelbezeichnung:
Der gebräuchliche Terminus im vorliegenden Politikbereich ist "Vereinbarkeit".

Abs. 1:
Die Formulierung eines subjektiven Rechts ist gegenüber dem vom Präsidium vorgeschlagenen Gewährleistungsrecht vorzuziehen.

Abs. 2:
Die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben ist von besonderer Bedeutung und sollte deshalb in einem eigenständigen Absatz als Gewährleistungsrecht formuliert werden, denn Frauen und Männer sind in der Regel Erwerbstätige und tragen zugleich Familienverantwortung.

Abs. 3:
Elternschaft ist Aufgabe von Müttern und Vätern, die in der Regel gleichzeitig Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer sind. Um ihren gesellschaftlich wichtigen Betreuungs- und Erziehungsaufgaben nachkommen zu können, benötigen sie einen besonderen Schutz. Um die gemeinsame Verantwortung herauszustellen, wird in Abs. 3 S. 2 ein Elternschutz formuliert.

Dieser notwendige besondere Schutz beschränkt sich nicht auf Mutterschutz und Elternurlaub. Dies kommt in der vom Präsidium vorgeschlagenen Formulierung in Abs. 2 Satz 2 "umfasst insbesondere" zwar zum Ausdruck. Die hier vorgeschlagene Formulierung in Abs. 3 S. 1 ist allerdings offener für jedwede Weiterentwicklung. In einer Grundrechtscharta sollten nicht beispielhaft Maßnahmen aufgezählt werden, die beschränkend wirken können.


6. Sprache

Der djb begrüßt, dass der vom Präsidium vorgeschlagene Text der Charta überwiegend geschlechtsneutral formuliert ist. Soweit dies nicht möglich ist, wird allerdings auf das generische Maskulinum zurückgegriffen, wie z.B. "Unionsbürger". Frauen stehen der Union oft kritisch gegenüber. Sie sollten als "Unionsbürgerinnen" direkt angesprochen werden. Der djb empfiehlt die sprachliche Überarbeitung des deutschen Textes mit dem Ziel, in den Fällen, in denen eine geschlechtsneutrale Formulierung nicht möglich ist, eine geschlechtsdifferenzierte Formulierung einzufügen.


Bonn, den 17. August 2000


gez. Sabine Overkämping
Vorsitzende der Kommission Europa des djb