Stellungnahme: 21-08


zum Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 17. März 2021

Stellungnahme vom

Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) bedankt sich für die Gelegenheit zur Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 17. März 2021 (StPO-E). Der djb beschränkt sich in seiner Stellungnahme satzungsgemäß auf die gleichstellungspolitisch relevanten Teile des Entwurfs, die insbesondere die Regelungen zu den Verletzten betreffen.

1. Verletztendefinition

Der djb begrüßt die Einführung einer Legaldefinition des Begriffs der „Verletzten“ in der StPO (S. 39 des Entwurfs). Die Einführung einer Definition ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Umsetzung der EU-Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU. Der djb hatte dies bereits in seiner Stellungnahme „Opferrechte in Strafverfahren wegen geschlechtsbezogener Gewalt“ (St 18-18) vom 22. November 2018 gefordert. Der djb begrüßt die Formulierung, aus der hervorgeht, dass eine Tat noch nicht rechtskräftig festgestellt sein muss, um eine Person als „Verletzte“ einzustufen und dieser Rechte und Befugnisse zukommen zu lassen. Die nunmehr eindeutige gesetzliche Klarstellung kann Konflikten über die zutreffende Bezeichnung und einer dadurch hervorgerufenen eventuellen Verunsicherung der Betroffenen wie des Beschuldigten vorbeugen.

Inhaltlich fällt auf, dass sich die in § 373b Abs. 1 StPO-E vorgeschlagene Definition nicht an der Definition aus Artikel 2 Nummer 1 Buchstabe a der Richtlinie orientiert, die ausdrücklich auf körperliche, geistige und seelische Schädigungen sowie einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge einer Straftat Bezug nimmt. Die vorgeschlagene Formulierung („in ihren Rechtsgütern unmittelbar beeinträchtigt worden sind oder unmittelbar einen Schaden erlitten haben“) ist im Vergleich weiter, aber auch unbestimmter. Grundsätzlich können aber alle in der Richtlinie aufgeführten Beeinträchtigungen unter die vorgeschlagene Definition gefasst werden; eine solche Auslegung dürfte durch die explizite Inbezugnahme der Richtlinie in der Begründung auch hinreichend gewährleistet sein.

Zu begrüßen ist ferner die Erweiterung des Personenkreises auf zum Zeitpunkt des Todes in einem Haushalt lebenden nicht-ehelichen Lebensgefährt*innen, ohne mit dem Opfer in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft gelebt zu haben. Hierbei wird der Verzicht auf die in der Opferschutzrichtlinie zusätzlich formulierte Voraussetzung einer „intimen Lebensgemeinschaft“ im Sinne des Opferschutzes (S. 100 des Entwurfs) begrüßt.

Erwägenswert erscheint jedoch im Hinblick auf eine vergleichbare Interessenlage eine entsprechende Anpassung der Vorschriften der Nebenklage gemäß § 395 StPO und § 397a StPO, welche ohne nähere Begründung laut dem Gesetzentwurf unberührt bleiben sollen (S. 100 des Entwurfs).

2. Angaben zu Wohn- und Aufenthaltsort

Der djb begrüßt ebenfalls die Verbesserung des Schutzes der Zeug*innen, die zugleich Ver-letzte und deshalb potentiell in größerer Gefahr sind, mit den Änderungen bzgl. der Angaben zu Wohn- und Aufenthaltsort (§ 68 StPO-E; § 200 StPO-E, § 222 StPO-E).

Es wird auf die Problematik hingewiesen, dass gefährdete Zeug*innen in praktischer Hinsicht nur dann effektiv geschützt werden können, wenn sie frühzeitig auf ihre Rechte nach § 68 Abs. 2 StPO hingewiesen werden und die Möglichkeit geschaffen wird, die im Ermittlungsverfahren regelmäßig anzugebende vollständige Adresse (siehe S. 57 des Entwurfs) nachträglich im Rahmen der Akteneinsicht durch den*die Beschuldigte*n oder dessen Verteidigung auf Wunsch zu schwärzen. Es sollte auch in § 68 Abs. 2 StPO die Möglichkeit normiert werden, anstatt einer anderen ladungsfähigen Adresse die vollständige Adresse in einem Sonderheft der Ermittlungsakte zu separieren, welches nicht der Akteneinsicht durch die Verteidigung unterliegt. In der Praxis tragen die Ermittlungsbeamten die vollständige Adresse im Erfassungsbogen ein, ohne auf die Möglichkeit nach § 68 Abs. 2 StPO überhaupt hinzuweisen. Zum Zeitpunkt der polizeilichen Vernehmung ist es gefährdeten Verletzten oft gar nicht bekannt, dass dieser Erfassungsbogen und damit ihre vollständige Anschrift auch über die Akteneinsicht an den*die Beschuldigte*n gelangen kann. Zur effektiven Gewährleistung des Schutzes von Zeug*innen bedarf es daher der Schulung von Polizei und Staatsanwaltschaft, damit der Schutz frühzeitig greift. Da es sich insoweit um absolute Ausnahmefälle handeln dürfte, ist die Verteidigung in der Überprüfung der Glaubwürdigkeit des*der Zeug*in (S. 58 des Entwurfs) auch nicht übermäßig beschränkt – für die Überprüfung bedarf es regelmäßig nicht der Kenntnis der genauen Anschrift. Gegebenenfalls wäre für Ausnahmekonstellationen, in denen durch den*die Beschuldigte*n ein begründetes Interesse an der exakten Anschrift geltend gemacht werden kann, eine entsprechende Regelung zu Auskunftsansprüchen zu treffen.

3. Kostenfreie anwaltliche Vertretung und psychosoziale Prozessbegleitung

Der djb bedauert, dass im Zuge der Fortentwicklung des Strafverfahrensrechts die Gelegenheit verpasst wurde, die erwachsenen Verletzten eines sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Abs. 1 und Abs. 2 StGB und von Partnerschaftsgewalt mit einem Anspruch auf kostenfreie anwaltliche Vertretung und psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren auszustatten.

Durch die Einordnung eines sexuellen Übergriffs als Vergehen ist die Beiordnung einer anwaltlichen Vertretung nach § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO nur in den Fällen des besonders schweren Falles (§ 177 Abs. 6 StGB) möglich, nicht jedoch, wenn der Grundtatbestand des § 177 Abs. 1 oder Abs. 2 StGB verwirklicht wurde. In diesen Fällen kommt nur noch eine Beiordnung nach § 397a Abs. 1 Nr. 4 Alt. 2 StPO in Frage, wenn die Opfer ihre Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen können oder § 397a Abs. 2 StPO, was grundsätzlich alle Opfer benachteiligt, die nicht prozesskostenhilfeberechtigt sind. Auch unabhängig von der Prozesskostenhilfeberechtigung sind diejenigen benachteiligt, denen aufgrund guter Resilienz zugemutet werden wird, ihre Interessen ohne anwaltlichen Beistand wahrzunehmen. Gerichtsverfahren sind jedoch gerade bei Sexualdelikten, in denen oftmals eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt, für Verletzte in der Regel so belastend, dass eine anwaltliche Beiordnung nicht an mangelnder Prozesskostenhilfeberechtigung scheitern oder auch in diesem Fall nicht in das Belieben der jeweiligen Richter*innen gestellt werden sollte. Ein Strafverfahren ist kein Parteiprozess; wenn Verletzte kein Zeugnisverweigerungsrecht haben, steht es nicht in ihrem Belieben, ob sie aussagen oder nicht und gerade bei Sexualdelikten sind sie intensivsten Befragungen durch sämtliche Prozessbeteiligten ausgesetzt. Ihnen sollte insofern das Recht auf anwaltliche Vertretung zustehen.

Dies gilt auch im Hinblick auf die psychosoziale Prozessbegleitung. Jedenfalls aber sollte § 406g Abs. 3 S. 2 StPO auf die Fälle des § 397a Abs. 2 StPO ausgedehnt werden, wie der djb es bereits wiederholt gefordert hat.[1]

Ein Rechtsanspruch auf kostenfreie psychosoziale Prozessbegleitung besteht derzeit nur in bestimmten, eng gefassten und zum Teil im Ermessen des Gerichts stehenden Konstellationen. Der Zugang zur kostenlosen psychosozialen Prozessbegleitung knüpft dabei nicht an den Bedarf an, sondern wird nur für bestimmte Gruppen von Opfern nach § 406g Abs. 3 S. 1 StPO gewährt. Nach der derzeitigen Regelung des § 406g Abs. 3 S. 1 StPO haben Personen, die als Minderjährige Opfer von Sexualstraftaten oder schweren Gewaltstraftaten (§ 397a Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO) geworden sind, einen Rechtsanspruch auf kostenlose psychosoziale Prozessbegleitung. Das ist zu begrüßen, allerdings ist diese begrenzte Beiordnungsmöglichkeit nicht sinnvoll. Die einfache sowie die gefährliche Körperverletzung nach §§ 223, 224 StGB sind nicht vom Katalog des § 397a Abs. 1 StPO umfasst. Damit besteht in Fallkonstellationen, in denen es „ausschließlich“ zu Körperverletzungsdelikten nach §§ 223, 224 StGB kommt, per se keine Möglichkeit einer kostenfreien Begleitung, auch wenn das Opfer sich in einer schutzbedürftigen Lage befindet oder seine Interessen selbst nicht wahrnehmen kann.

Ebenfalls nicht erfasst ist die Nachstellung im Grunddelikt gemäß § 238 Abs. 1 StGB. Im Fall der Nachstellung ist eine Kostenbefreiung nur möglich, sofern die Verbrechenstatbestände nach Absatz 2 oder 3 der Norm verwirklicht sind.

Damit wird eine Vielzahl von Fällen der häuslichen Gewalt sowie die Nachstellung nicht von der Möglichkeit kostenfreier Prozessbegleitung erfasst. Gerade in diesen Fällen werden sich viele Opfer – insbesondere solche, die ihre Interessen nicht selbst wahrnehmen können – im Strafprozess in einer massiven Stresssituation befinden, sodass es hier zu eklatanten Schutzlücken kommt.

Der djb fordert daher, dass das Recht auf kostenfreie anwaltliche und psychosoziale Prozessbegleitung auf alle Betroffenen von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt im Sinne der Istanbul-Konvention ausgeweitet wird. Es muss eine umfassende Begleitungsmöglichkeit unabhängig von starren Kategorien von Betroffenen geschaffen werden.

4. Änderungen des BGB

Die Erweiterung des §1361b Abs. 2 Satz 1 BGB um das Schutzgut der sexuellen Selbstbestimmung wird als konsequenter Gleichlauf mit dem strafrechtlichen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung begrüßt.

5. Erweiterung in § 1 Gewaltschutzgesetz

Der djb begrüßt ausdrücklich die Erweiterung in § 1 Gewaltschutzgesetz um das Schutzgut der sexuellen Selbstbestimmung. Diese – klarstellende – Novellierung wird den Schutz in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt klar verbessern und damit die Umsetzung der Istanbul-Konvention im deutschen Recht weiter verbessern.

Jedoch bedauert der djb, dass die in § 4 Abs. 1 GewSchG vorgesehene Strafbewehrung von Verstößen gegen gerichtlich bestätigte Vergleiche ebenso wie gerichtliche Anordnungen in der Höhe der Strafandrohung nach wie vor zu niedrig ist. Eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe decken den Unrechtsgehalt der Taten nicht ab, erwecken den Anschein, es handele sich um ein Bagatelldelikt und verfehlen somit wohl ihre spezialpräventive Wirkung. Der djb fordert eine Anpassung des Strafrahmens auch für § 4 GewSchG.

6. Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts auf Berater*innen in Fachberatungsstellen für Opfer von sexualisierter und häuslicher Gewalt

Der djb weist darauf hin, dass bei dieser Gelegenheit verpasst wurde, das Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 53 StPO auf Opferberater*innen in anerkannten Unterstützungs- und Fachberatungsstellen für Opfer von sexualisierter und häuslicher Gewalt auszudehnen. Zwar unterliegen die meisten Opferberater*innen einer Schweigepflicht, Ihnen kommt jedoch kein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Damit können zum einen die Betroffenen in der Situation nicht von hundertprozentiger Vertraulichkeit ausgehen, obwohl den Betroffenen das Recht auf vertrauliche Beratung durch Opferunterstützungseinrichtungen gemäß Artikel 8 Absatz 1 der Opferschutzrichtlinie zusteht. Zum anderen laufen die Berater*innen selbst Gefahr, dass ein Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung eingeleitet wird. Es sollte entsprechend ein Zeugnisverweigerungsrecht für Opferberater*innen von anerkannten Unterstützungs- und Fachberatungsstellen für Opfer von sexualisierter und häuslicher Gewalt eingeführt werden.

7. Gesetzliche Verankerung der Fortbildungsverpflichtung für Richter*innen

Angesichts der expliziten Bezugnahme des Entwurfs auf die EU-Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU möchte der djb erneut auf die Forderung nach Fortbildungsverpflichtungen für Polizei, Staatsanwält*innen und Richter*innen hinweisen (so bereits in der Stellungnahme „Opferrechte in Strafverfahren wegen geschlechtsbezogener Gewalt“ (St 18-18)). Artikel 25 der Richtlinie und Artikel 15 Absatz 1 der Istanbul-Konvention sehen solche Fortbildungsverpflichtungen für Angehörige der Berufsgruppen vor, die mit den Opfern in Berührung kommen, um ein besseres Bewusstsein für die Bedürfnisse der Opfer zu schaffen und einen unvoreingenommenen, respektvollen Umgang mit den Opfern zu gewährleisten. Artikel 25 Absatz 2 der Richtlinie hält explizit fest, dass eine solche Fortbildungsverpflichtung auch nicht die Unabhängigkeit der Justiz berührt. Die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Fortbildungsverpflichtung für Richter*innen wurde ferner vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages bestätigt.[2] Auch wenn einige Landesrichtergesetze dahingehend geändert wurden, regt der djb an, eine Fortbildungsverpflichtung auf Grundlage der Richtlinie und der Istanbul-Konvention auch auf Bundesebene im Deutschen Richtergesetz gesetzlich zu verankern.

 

Prof. Dr. Maria Wersig                              Dr. Leonie Steinl, LL.M.

Präsidentin                                                Vorsitzende der Kommission Strafrecht

 

Dilken Çelebi, LL.M. (Turin)

Mitglied der Kommission Strafrecht

 


[1]„Opferrechte in Strafverfahren wegen geschlechtsbezogener Gewalt“ (St 18-18) vom 22. November 2018.

[2] Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Zur Verfassungsmäßigkeit einer Fortbildungspflicht für Richter, 2019, WD 3 - 3000 - 229/19.