Kontext: Bereits 2011 hat die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) unterzeichnet, jedoch erst nach ausführlichen Diskussionen 2017 auch ratifiziert. Damit gilt die Istanbul-Konvention seit dem 1. Februar 2018 im Range eines Bundesgesetzes (BGBl II 2017, S. 1026), welches Landesrecht vorgeht, und zugleich weiterhin als Internationales Recht, welches eine völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts erfordern kann. Trotz vieler guter Regelungen und Praktiken gegen geschlechtsspezifische Gewalt besteht in Deutschland noch erheblicher Handlungsbedarf zur Umsetzung der Vorgaben aus der Istanbul-Konvention.
Aus Anlass des Internationalen Tags gegen Gewalt gegen Frauen am 25. November 2019 erläutert der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) dringlichen Umsetzungsbedarf in sieben Themenpapieren. Umsetzungsdefizite bestehen unter anderem in Bezug auf die effektive Strafverfolgung von sexualisierter Gewalt, insbesondere mit Blick auf Beweiserhebung und Beweissicherung sowie den angemessenen Umgang mit Opferzeug*innen und die Reflektion von Vergewaltigungsmythen und Geschlechterstereotypen durch die Justiz, womit sich das fünfte Themenpapier befasst.
Was die Istanbul-Konvention verlangt: Artikel 50 der Istanbul-Konvention fordert sofortigen und angemessenen Opferschutz durch Strafverfolgungsbehörden inklusive Beweissicherung. Nach Artikel 49(2) ist zu garantieren, dass unter Berücksichtigung eines geschlechtsbewussten Verständnisses von Gewalt wirksame Ermittlungen wegen und Strafverfolgung von nach diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten erfolgt. Art. 15 Abs. 1 verpflichtet die Bundesrepublik, für Angehörige der Berufsgruppen, die mit Opfern oder Tätern aller in den Geltungsbereich der Konvention fallenden Gewalttaten zu tun haben, ein Angebot an geeigneten Aus- und Fortbildungsmaßnahmen u.a. zu den Bedürfnissen und Rechten der Opfer sowie zur Verhinderung sekundärer Viktimisierung zu schaffen bzw. dieses Angebot auszubauen.
Aktuelle Situation und Rechtslage: Die vertrauliche Beweissicherung ist ein Verfahren, bei dem gerichtsfest Beweise gesichert werden, ohne dass sofort Anzeige erstattet oder ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden muss. Betroffene von sexualisierter Gewalt können oft nicht sofort entscheiden, ob sie Anzeige erstatten und damit ein Strafverfahren in Gang setzen wollen. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur, wenn die Gewalt von einem bekannten oder nahestehenden Täter ausgeübt wurde. Die vertrauliche Beweissicherung ermöglicht, Verletzungen und Spuren fachkundig und für ein späteres Strafverfahren verwertbar sichern und dokumentieren zu lassen. Diese Beweise werden verwahrt, so dass Betroffene dann Bedenkzeit haben, ob sie ein Strafverfahren in Gang setzen wollen, welches auch mit erheblichen Belastungen für sie verbunden ist. Allerdings wird die vertrauliche Beweissicherung bisher nicht flächendeckend und wohnortnah angeboten, sondern existiert nur in regionalen Pilotprojekten und wenigen Bundesländern.[1] Ein wesentlicher Grund für die bisher geringe Verbreitung ist die mangelnde finanzielle Absicherung der ärztlichen Untersuchung, der Dokumentation und der Aufbewahrung der Spuren.
Handlungsbedarf und Handlungsoptionen: Inzwischen hat die Bundesregierung einen aktuellen Gesetzesentwurf zur anonymen Spurensicherung nach sexualisierter Gewalt vorgelegt.[2] Die nunmehr vorgesehene Regelung ist grundsätzlich zu begrüßen, allerdings enthält der Entwurf keine Vorgaben zur medizinischen Erstversorgung. Darüber hinaus ist ungeregelt, wer das Material und die Schulungen für diejenigen zahlt, die die anonyme Spurensicherung durchführen. Um eine gerichtsverwertbare Qualität sicher zu stellen, sind Schulungen indes unerlässlich. Nur wenn durch die Umsetzung des Gesetzes eine flächendeckende Versorgung garantiert wird, sind die Vorgaben der Istanbul-Konvention gewahrt.
Mit dem am 15. November 2019 vom Bundestag beschlossenen Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens[3] soll u.a. die erhebliche Belastung von Betroffenen sexualisierter Gewalt durch wiederholte Vernehmungen im Ermittlungs- und Strafverfahren reduziert werden[4]. Bereits zuvor bestand nach § 58a Abs. 1 StPO die Möglichkeit, Vernehmungen von Kindern und Jugendlichen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind, audio-visuell aufzuzeichnen und dann in der Hauptverhandlung die Aufzeichnung abzuspielen, statt die Vernehmung zu wiederholen. Diese Regelung, welche in der Praxis sehr unterschiedlich umgesetzt wurde, ist nun auch auf erwachsene Betroffene von sexualisierter Gewalt ausgedehnt.
Dies ist grundsätzlich zustimmungswürdig, doch ist die hierfür erlassene Neuregelung umständlich und nicht widerspruchsfrei.[5] Mit der Neuregelung werden eine Ermessens- und eine verpflichtende Vorschrift zur Vermeidung von Mehrfachvernehmungen nebeneinander gestellt, deren Verhältnis ungeklärt ist. Auch steht den Betroffenen weiterhin kein Rechtsbehelf zur Verfügung, um eine ablehnende Entscheidung bezüglich des Vermeidens einer Mehrfachvernehmung überprüfen zu lassen. Vor allem aber werden die Hintergründe der bislang sehr zurückhaltenden Nutzung dieser entlastenden Regelung nicht adäquat adressiert. Hierzu zählen u.a. die mangelnde technische Ausstattung der Gerichte, oder, wenn diese prinzipiell für Hauptverhandlungen vorhanden ist, mangelnde Möglichkeit des Einsatzes im Ermittlungsverfahren; die Überlastung der Schreibkräfte bei der Transkription; und die mangelnde Spezialisierung durch Schulungen in der Vernehmung kindlicher Zeug*innen oder besonders belasteter Zeug*innen durch Ermittlungsrichter*innen sowie das Fehlen von entsprechenden Kompetenzzentren.[6]
Aktuelle Situation und Rechtslage: Effektive Strafverfolgung und Unterbindung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist aber nicht allein von der Rechtslage und einer gelingenden Beweissicherung abhängig. Eine wesentliche Rolle spielt auch das in der Konvention geforderte geschlechtsbewusste Verständnis, die Orientierung an Menschenrechten und die unbedingte Zielsetzung, sekundäre Viktimisierung zu verhindern. Die Istanbul-Konvention betont die Bedeutung von Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für die wirksame Bekämpfung und Unterbindung geschlechtsspezifischer Gewalt. Auch eine grundlegende Änderung des Sexualstrafrechts bedingt nicht notwendig seine effektive und geschlechtssensible Umsetzung.
Wie im sog. Erläuternden Bericht (para. 192) zu Art. 36 der Istanbul-Konvention deutlich wird, „muss auch dafür Sorge getragen werden, dass die Auslegungen der Gesetzgebung zu Vergewaltigung und die in den entsprechenden Fällen eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen nicht von Geschlechter-Stereotypen und Mythen zur männlichen bzw. weiblichen Sexualität beeinflusst werden“. Bei der Beurteilung von Beweisen müsse „die gesamte Bandbreite von Verhaltensreaktionen auf sexuelle Gewalt und auf eine Vergewaltigung berücksichtigt werden, die das Opfer zeigen kann, und sie darf nicht auf Vermutungen zum typischen Verhalten in einer solchen Situation begründet werden“.
Ein konkretes Beispiel für die schädigenden Auswirkungen mangelnder Reflektion von Stereotypen auf den Umgang mit Opferzeug*innen von sexualisierter Gewalt ist die mangelnde Anwendung von § 68a StPO in Sexualstrafverfahren. Die darin enthaltene Beschränkung des Fragerechts zielt auf den Schutz des Privat- und Intimbereichs, indem Fragen, welche den persönlichen Lebensbereich der Zeug*innen betreffen, nur gestellt werden dürfen, wenn dies unerlässlich ist. In der Praxis sehen sich Opferzeug*innen bei sexualisierter Gewalt im Gerichtsverfahren häufig gezwungen, ihr sexuelles Vorleben oder auch Vorlieben umfassend offenzulegen und diese intimen Informationen vor den Prozessbeteiligten und stereotypengesättigt kommentieren zu lassen, obwohl insbesondere das Vorleben des Opfers in der Regel keine Bedeutung für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts der belastenden Aussage hat.[7]
Richterakademien bieten zwar durchaus Aus- und Fortbildungen zur Stellung des Opfers im Strafverfahren und den Auswirkungen von Strafprozessen an; Veranstaltungen zur Reflektion von opferschädigenden Geschlechterstereotypen oder Vergewaltigungsmythen finden sich indes allenfalls vereinzelt. Vergewaltigungsmythen treten in verschiedenen Formen auf, etwa als allgemeine, massiv opferschädigende Vorstellungen über sexuelle Interaktionen,[8] feindselige Vorbehalte gegenüber dem Opfer in Bezug auf dessen Glaubwürdigkeit[9] oder meist unerfüllbare und immer unangemessene Erwartungen in Bezug auf ein ideales Opferverhalten, welche opferbeschuldigend und täterentlastend wirken.[10] Solche Stereotype und Mythen waren bisher ein wesentliches Hindernis für die effektive Strafverfolgung von Sexualdelikten.[11]
Handlungsbedarf: Notwendig ist daher eine flächendeckende Bereitstellung verpflichtender[12] Fortbildungsmaßnahmen für Polizei, Staatsanwaltschaften und Justiz, welche die Angehörigen dieser Berufsgruppen befähigt, Geschlechterstereotype und Vergewaltigungsmythen zu reflektieren und den Bedürfnissen und Rechten der Betroffenen von sexualisierter Gewalt im Strafverfahren gerecht zu werden.
Forderungen:
Maßnahmen der vertraulichen Beweissicherung müssen flächendeckend und wohnortnah eingeführt werden. Hierbei sind die medizinische Erstversorgung zu regeln sowie die Finanzierung der Materialien und notwendiger Schulungen für die erfolgreiche Durchführung vertraulicher Beweissicherung zu garantieren. Ferner müssen alle rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um Betroffenen von sexualisierter Gewalt Mehrfachvernehmungen zu ersparen und Vernehmungen nur durch geschultes Personal zu sichern. Zudem ist eine Fortbildungspflicht für Polizei, Staatsanwaltschaften und Justiz zum angemessenen Umgang mit sexualisierter Gewalt und den hiervon Betroffenen einzuführen, in welcher insbesondere auch Geschlechterstereotype und Vergewaltigungsmythen reflektiert werden.
Prof. Dr. Maria Wersig
Präsidentin
Prof Dr. Ulrike Lembke
Vorsitzende der Kommission Europa- und Völkerrecht
Dr. Leonie Steinl, LL.M. (Columbia)
Vorsitzende der Kommission Strafrecht
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Anmerkungen
[1] Zum aktuellen Versorgungsstand und für konkrete Empfehlungen zur Umsetzung von Artikel 25 der Istanbul-Konvention siehe das Kooperationsprojekt des Deutschen Instituts für Menschenrechte und des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff), Artikel 25 Istanbul-Konvention: Akutversorgung nach sexualisierter Gewalt, https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/frauenrechte/istanbul-konvention/projekt-artikel-25-istanbul-konvention/. Zum flächendeckenden Verfahren in Niedersachsen siehe http://www.opferschutz-niedersachsen.de/nano.cms/sicherung-von-beweisen-einer-straftat.
[2] Fachfremder Änderungsantrag 1 der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum Entwurf eines Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz), BT-Drs. 19/13452, Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Gesundheit am 23.10.2019, abrufbar unter http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP19/2517/251722.html.
[3] Siehe Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Pressemitteilung vom 15. November 2019, https://www.bmjv.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/111519_Modernisierung_StPo.html.
[4] Siehe hierzu Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 8. August 2019, sowie Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 23. Oktober 2019, beide abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Modernisierung_Strafverfahren.html.
[5]Deutscher Juristinnenbund, Stellungnahme vom 08.10.2019 zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz für ein Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens, https://www.djb.de/verein/Kom-u-AS/K3/st19-22/. Der spätere Regierungsentwurf wies diesbezüglich keine Änderungen auf.
[6]Deutscher Juristinnenbund, Stellungnahme vom 08.10.2019 zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz für ein Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens, https://www.djb.de/verein/Kom-u-AS/K3/st19-22/. Der spätere Regierungsentwurf wies diesbezüglich keine Änderungen auf.
[7] Grundlegend hierzu Deutscher Juristinnenbund, Policy Paper „Opferrechte in Strafverfahren wegen geschlechtsbezogener Gewalt“, 22. November 2018, https://www.djb.de/verein/Kom-u-AS/K3/st18-18/.
[8] Bspw. Deutscher Richterbund, Stellungnahme 3/2016 (Januar 2016), S. 5: „Auch außerhalb aller Klischees gibt es wohl viele Fälle, in denen einer der beiden Sexualpartner den anderen erst zu den gewünschten sexuellen Handlungen überreden muss, und dazu nicht nur die Kraft seiner Argumente, sondern unter Umständen auch die erhoffte Verführungswirkung sexueller Handlungen einsetzt.“
[9] Siehe dazu nur die Studie von Erich Elsner & Wiebke Steffen, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern, 2005, S. 160ff., wonach Polizeibeamt*innen von Falschanzeigenquoten von bis zu 80% ausgehen; grundsätzlich Susan Estrich, Palm Beach Stories, in: Law and Philosophy 11 (1992), S. 5-33 (11): „No myth is more powerful in the tradition of rape law than the myth of the lying woman.“
[10] Grundlegend Ulrike Lembke, Vergebliche Gesetzgebung. Die Reform des Sexualstrafrechts 1997/98 als Jahrhundertprojekt und ihr Scheitern in und an der sog. Rechtswirklichkeit, in: ZfRSoz 2014, S. 253–283.
[11] Ausführlich Ulrike Lembke, Vergebliche Gesetzgebung. Die Reform des Sexualstrafrechts 1997/98 als Jahrhundertprojekt und ihr Scheitern in und an der sog. Rechtswirklichkeit, in: ZfRSoz 2014, S. 253-283; grundlegend Udo Steinhilper, Definitions- und Entscheidungsprozesse bei sexuell motivierten Gewaltdelikten, 1986, 2. Aufl. 1998.
[12] Eine gesetzliche Pflicht zur Fortbildung auch für Richter*innen verstößt nicht gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, siehe Claus Dieter Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3: Art. 83-146, 3. Aufl. 2018, Art. 97 GG, Rn. 29.