Stellungnahme: 16-14


zum Verfahren 2 BvR 2453/15 gemäß § 27a BVerfGG (Verfassungsbeschwerde)

Stellungnahme vom

Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) dankt für die Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 2453/15 könnte dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Gelegenheit geben, einige Fragen des Verfahrens zur Wahl der Bundesrichterinnen und -richter zu klären, die aus Sicht des djb frauenrelevant sind.

1. Frauenrelevanz

Angesichts dessen, dass die Zahl der Bundesrichterinnen in den letzten Jahren deutlich weniger angestiegen ist, als es der Zuwachs an herausragenden Richterinnen in den Vorderinstanzen hätte erwarten lassen, handelt es sich bei dem Verfahren zur Richterwahl zu einem Bundesgericht generell um ein Thema mit einer sehr spezifischen Frauenrelevanz.

Der Frauenanteil in den Bundesgerichten, so wie er aus den derzeitigen Geschäftsverteilungsplänen der Gerichte ermittelt werden kann, sieht wie folgt aus (Stand: April 2016, Quellen: Haushaltspläne, Geschäftsverteilungspläne):

Oberstes
Bundesgericht

Planstellen 2016

weibl. Richter = in % (bezogen auf Planstellen)

weibl.
Vorsitzende

BGH

134

38 = 28%

5 (von 18)

BAG

38

13 = 34%

3 (von 10)

BVerwG

57

14 = 25%

2 (von 11)

BFH

59

15 = 25%

2 (von 11)

BSG

44

12 = 27%

0 (von 12)

Wer die Zahlen der letzten Jahre vergleicht, sieht, dass der Anteil weiblicher Richter an den Bundesgerichten mit unbedeutenden Schwankungen schon seit vielen Jahren stagniert. Weder werden von den Mitgliedern des Richterwahlausschusses, insbesondere den Ländern, genug Frauen zu den Bundesgerichten vorgeschlagen, noch werden, sofern überhaupt vorgeschlagen, am Ende alle ausweislich ihrer Personalakten und der Präsidialratsvoten gut geeigneten Frauen gewählt. So auch im vorliegenden Fall, in dem die Beschwerdeführerin ungeachtet ihrer makellosen Personalakte und eines besonders positiven Präsidialratsvotums vom Richterwahlausschuss nicht gewählt wurde. Der djb geht davon aus, dass bei konsequenter Beachtung des Leistungsgrundsatzes aus Art. 33 Abs. 2 GG der Frauenanteil an den Bundesgerichten bereits deutlich höher liegen könnte. Er geht ferner davon aus, dass Art. 3 Abs. 2 GG alle am Richterwahlverfahren mit eigenen Beiträgen Beteiligten dazu verpflichtet, die Unterrepräsentanz von Frauen an den Bundesgerichten gezielt abzubauen und der Erhöhung des Richterinnenanteils mehr Gewicht beizumessen als anderen Hilfskriterien. Es ist zu besorgen, dass nicht allen Mitgliedern des Richterwahlausschusses ihre verfassungsrechtlichen Pflichten immer hinreichend deutlich vor Augen stehen. Die Länderquote (Art. 36 Abs. 1 Satz 1 GG) gleichwohl einzuhalten, wäre dabei unproblematisch, zumal wenn sie in der Auslegung des Richterwahlausschusses angewandt wird, wonach es nicht auf die Einhaltung der Länderquote bei jedem einzelnen Bundesgericht, sondern bei allen zusammen ankommt.

2. Begründungs-/Dokumentationspflicht des Richterwahlausschusses?

Art. 33 Abs. 2 GG gewährt jeder Bewerberin oder jedem Bewerber um ein Amt im öffentlichen Dienst gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt unabhängig von der Hierarchiestufe. Hierzu zählen auch Richterämter. Entscheidend für die Wahl einer Bundesrichterin oder eines Bundesrichters haben Eignung, Befähigung und fachliche Leistung zu sein (im Sinne von BVerfGE 139, 19 ff., Rn. 59). Ergänzend sind zu beachten die Benachteiligungsverbote aus Art. 33 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 3 GG, Förderpflichten gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und – wie erwähnt – Länderquoten gemäß Art. 36 Abs. 1 Satz 1 GG. Der Richterwahlausschuss hat also eine (Wertungs-)Entscheidung zu treffen, die in einem sehr umfassenden Sinne an das Verfassungsrecht gebunden ist.

An diesen Vorgaben ändert auch Art. 95 Abs. 2 GG im Grundsatz nichts. Allerdings wird behauptet, dass die von Art. 33 Abs. 2 GG geforderte Qualifikation nicht zu den Kriterien gehört, deren Erfüllung im Rahmen einer Vorprüfung nach § 11 RiWahlG zu kontrollieren ist. Dies ist bereits zweifelhaft. Jedenfalls ist auch der Richterwahlausschuss an die Kriterien des Art. 33 Abs. 2 GG und die Förderpflichten des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG gebunden. Nach derzeit herrschender Meinung kann und soll dies allerdings nicht effektiv kontrolliert werden. Für das Gremium bestehe derzeit keine Begründungspflicht. Das läuft praktisch auf eine verfassungsrechtliche lex imperfecta hinaus. Ob dies so ist, stellt die Verfassungsbeschwerde zu Recht zur verfassungsgerichtlichen Prüfung.

Zu einer vergleichbaren Regelung in Hamburg hatte das BVerfG 1968 allerdings die fehlende Begründungspflicht mit der „Natur der Sache“ bei der „Wahlentscheidung eines vielköpfigen Gremiums“ begründet (BVerfGE 24, 268 ff., Rn. 28 – juris). Damals wurde Art. 33 Abs. 2 GG nicht herangezogen. Das BVerfG sah die Wahlentscheidung des hamburgischen Richterwahlausschusses offenbar nur durch Art. 63 Abs. 2 Satz 2 HmbVerf als begrenzt an, der selbst keine Bestenauslese verlangt. Die Verletzung von Art. 33 GG war damals in der (als unzulässig zurückgewiesenen) Vorlage möglicherweise nicht thematisiert worden. Jedenfalls ist auf die unterschiedliche Sachgestaltung zwischen dem Sachverhalt in BVerfGE 24, 286 und dem der Verfassungsbeschwerde aufmerksam zu machen. In BVerfGE 24, 286 ging es um einen „ersten“ Zugang zum Richteramt. Da mag man vielleicht andere, formalere Kontrollkriterien anwenden. Im vorliegenden Fall einer Konkurrentenklage geht es um die Auswahlentscheidung zwischen beruflich erfahrenen und qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern. Geht man also richtigerweise davon aus, dass Richterwahlausschüsse stets (auch) an Art. 33 Abs. 2 GG gebunden sind, so kann sich die Frage für eine Konkurrentenklage durchaus anders stellen.

Jede rechtsgeleitete Entscheidung kann auch begründet werden. An diesem rechtsstaatlichen Prinzip ist festzuhalten. Auch ein vielköpfiges Gremium kann sich mehrheitlich auf eine rechtsgeleitete Begründung einigen. Ob ein Entscheidungs-Gremium aus 5, 8, 16 oder 32 Personen besteht, kann insoweit nicht entscheidend sein. Mit wachsender Personenzahl des Gremiums wächst sicherlich die Schwierigkeit, sich (mehrheitlich) auf einen Begründungstext zu einigen, aber es bleibt eine leistbare Aufgabe. Dies schon deshalb, weil sämtliche dem Richterwahlausschuss überantworteten Entscheidungs- und Prognosespielräume rechtsgeleitet sind. Ungeachtet also aller – möglicherweise überaus unterschiedlicher – Beweggründe jedes einzelnen Mitglieds des Richterwahlausschusses, müssen sich diese Beweggründe doch sämtlich verfassungsrechtlich rechtfertigen lassen. Die Summe der möglichen verfassungslegitimen Gründe ist somit begrenzt.

Ist eine Mehrheitsentscheidung zu begründen, setzt dies eine Erörterung der Beteiligten voraus. Eine Erörterung darf vom Richterwahlausschuss auch erwartet werden. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe übersteigt nicht wesentlich diejenige eines Kollegialgerichts, das fallabhängig durchaus vergleichbar Ermessens-, Beurteilungs- und Prognosespielräume in rechtlichen Begründungskategorien offen legen und ausfüllen muss. Dem wird entgegen gehalten, dass der Richterwahlauschuss in geheimer Abstimmung zu entscheiden habe (§ 12 Abs. 1 RichterwahlG), was seine Wahl einer Begründung nicht zugänglich mache (BVerfG, Kammer-Beschluss vom 4. Mai 1998 – 2 BvR 159/97 –, Rn. 13 – juris). Die Verfassungskonformität der geheimen Abstimmung ist indes dann in Zweifel zu ziehen, wenn sie zu einer Rechtsverkürzung führt. Dies kann der Fall sein, wenn jegliche Begründung ausgeschlossen wird. Art. 95 GG gibt die geheime Wahl nicht vor. Sie ist lediglich einfachrechtlich geregelt. Daher muss gefragt werden, welche Interessen durch die Notwendigkeit einer geheimen Abstimmung eigentlich „geschützt“ werden sollen. Jedenfalls sind die Mitglieder des Gremiums nicht davor zu schützen, dass die Mitglieder nicht wechselseitig erfahren dürften, welche Auffassungen vertreten werden. Das wäre doch eine recht merkwürdige Politikauffassung. Dass das Entscheidungsverfahren zum Schutz unterlegener Bewerber insgesamt „vertraulich“ gehandhabt werden sollte, ist eine ganz andere Frage. Ein offenes Wahlverfahren in Form eines Entscheidungsverfahrens, in dem man sich auch über eine Begründung verständigt, bleibt verfassungsrechtlich möglich und ist zumindest dann verfassungsrechtlich geboten, wenn der Bewerbungsverfahrensanspruch der einzelnen Bewerberinnen und Bewerber anderweitig nicht effektiv durchgesetzt werden kann. Dieser Anspruch umfasst, dass Art. 33 Abs. 2 GG in jedem Fall zwingend eingehalten wird und dass im Übrigen nur solche Auswahlkriterien zum Zuge kommen, die verfassungsrechtlich legitimiert sind. Das Spannungsverhältnis zwischen Art. 95 Abs. 2 und 33 Abs. 2 GG, von dem das OVG Lüneburg im Ausgangsfall spricht, beruht vor allem auf der bisherigen einfachrechtlichen Ausgestaltung der Richterwahl. Ob diese verfassungsgemäß ist, ist aber im vorliegenden Fall gerade zu überprüfen.

Eine Begründungspflicht würde jedenfalls mit dem Anspruch der Bewerberinnen und Bewerber um eine Bundesrichterstelle auf effektiven Rechtsschutz inhaltlich korrespondieren. In sonstigen Verfahren, in denen es um die Übertragung eines öffentlichen Amtes geht, gilt, dass Art. 33 Abs. 2 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG die Pflicht begründet, die wesentlichen Auswahlerwägungen schriftlich zu fixieren. Eine unterlegene Mitbewerberin bzw. ein unterlegener Mitbewerber soll auf diese Weise einen möglichen Verstoß gegen den Anspruch auf faire und chancengleiche Behandlung der eigenen Bewerbung prüfen und ggf. gerichtlichen (Eil-)Rechtsschutz in Anspruch nehmen können. Das BVerfG geht davon aus, dass die Dokumentation der maßgeblichen Erwägungen Grundlage der gerichtlichen Kontrolle des Bewerbungsverfahrensanspruchs ist (s. BVerfG, Kammer-Beschluss vom 25. November 2015 – 2 BvR 1461/15 – NJW 2016, 309-310).

Eine Begründungspflicht des Richterwahlausschusses würde nicht dazu führen, dass der Richterwahlausschuss an frühere Beurteilungen der Kandidatinnen und Kandidaten oder die Beurteilung durch den Präsidialrat gebunden ist. Sie würde faktisch allerdings wohl dazu führen, dass der Richterwahlausschuss seine davon abweichenden Wertungen – zumindest knapp – begründen müsste. Zur Vorbereitung der Entscheidung bestellt der Richterwahlausschuss zwei seiner Mitglieder als Berichterstatter. Diese dürften auch in der Lage sein, die Begründung der Mehrheitsauffassung abstimmungsreif vorzubereiten.

Hierfür müsste der Richterwahlausschuss die Kandidatinnen und Kandidaten eigenständig beurteilen. Sieht er dafür kein eigenständiges Anhörungsverfahren vor, so ist er zwangsläufig auf die Auswertung der bisherigen Beurteilungen und einer darüber hinausgehenden Auswertung der jeweiligen Personalakten angewiesen. Allerdings ist bei einer Beurteilung nach „Papierform“ zu bedenken, dass es für die Entscheidung, ob die Kandidatin oder der Kandidat für das Richteramt an einem Bundesgericht am besten geeignet ist, regelmäßig nicht allein darauf ankommen kann, ob die- oder derjenige in ihren bisherigen Arbeitsbereichen hervorragende Arbeit geleistet haben. Das darf als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Wer diese Voraussetzung nicht erfüllt, dürfte eigentlich gar nicht vorgeschlagen werden, da auch die Vorschlagsberechtigten an Art. 33 Abs. 2 GG gebunden sind. Entscheidend ist vielmehr eine sich auf das erwartbare zukünftige Verhalten der Kandidatinnen und Kandidaten beziehende Prognose: Kann erwartet werden, dass die Kandidatin oder der Kandidat sich in dem angestrebten Amt an einem Bundesgericht gut und sehr gut bewähren wird? Dafür können bisherige Beurteilungen, die regelmäßig vergangenheitsorientiert sind, nur eine indizielle Bedeutung haben. Dies einmal deshalb, weil die Bewertungsmaßstäbe von Land zu Land und manchmal sogar innerhalb eines Landes differieren – und Bewerberinnen und Bewerber, die nicht aus dem öffentlichen Dienst kommen, eher ausgrenzen. Dies auch deshalb, weil bislang ein konsentiertes Anforderungsprofil für die Tätigkeit an Bundesgerichten fehlt.

Der djb ist in seinen Vorschlägen vom 28. April 2015 (Eckpunktepapier st 15-06 des djb-Arbeitskreises zur Reform der Wahl der Bundesrichterinnen und Bundesrichter – https://www.djb.de/st-pm/st/st15-06/) davon ausgegangen, dass ein verbindliches Grundanforderungsprofil für alle obersten Bundesgerichte wohl mindestens umfassen müsste:

  • sehr gute, breit angelegte und vertiefte Fachkenntnisse,
  • wissenschaftliche Befähigung bei deutlicher Praxisorientierung,
  • Teamfähigkeit und soziale Kompetenzen,
  • überzeugende Motivation und Verantwortungsbereitschaft.

Ob und inwieweit ein Anforderungsprofil auch durch Art. 33 Abs. 2 GG gefordert ist oder ob die Kriterien Eignung, Befähigung und fachliche Leistung insoweit genügen, kann verfassungsrechtlich vermutlich offen bleiben. Jedenfalls ist stets prognostisch im Hinblick auf die angestrebte Bundesrichtertätigkeit zu beurteilen, ob die Kriterien des Art. 33 Abs. 2 GG erfüllt sind. Denn das gewählte Verfahren muss zumindest geeignet sein, unter Kandidatinnen und Kandidaten danach zu differenzieren, ob jemand diese Kriterien stärker oder schwächer oder gar nicht erfüllt. Alles andere entspräche dem Gebot der „Bestenauslese“ im Sinne des Art. 33 Abs. 2 GG nicht.

Der Tätigkeit der Präsidialräte der Bundesgerichte kommt unter diesem Blickwinkel eine besondere Bedeutung zu. Es muss davon ausgegangen werden, dass ihr derzeitiges Verfahren im Vorfeld der Bundesrichterwahl (Anforderung und Bewertung von Arbeitsproben, persönliche Anhörung und Befragung, eigenständige Beurteilung unter Einbeziehung bisheriger Vorbeurteilungen und Vereinheitlichung der Maßstäbe, Erstellung einer – zumindest bis 2015 – aussagekräftigen Begründung) den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG noch am nächsten kommt. Es ist nicht im Interesse der Einhaltung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Richterwahl, den Beitrag der Präsidialräte zurückzudrängen – so wie dies teilweise in der jüngsten Diskussion von Politikern gefordert wird. Eine Gefahr der Kooptation, der Selbstergänzung der Richterschaft, besteht nicht, solange die Beurteilung durch den Präsidialrat nicht als allein entscheidend angesehen wird. Ohnehin sollte nicht verkannt werden, dass die starke Problematisierung schon des bloßen Kooptationsverdachtes in den 1950-70er Jahren angesichts einer damals vielfach noch autoritärem Gedankengut verhafteten Richterschaft zwar ihre wichtige politische Funktion hatte. Heutzutage liegen die damit verbundenen Befürchtungen angesichts einer unzweifelhaft der freiheitlich demokratischen Grundordnung verpflichteten Richterschaft aber eher fern und werden im europäischen Ausland so auch nicht geteilt. Einen eigenen „Richterstand“, um dessen Selbstergänzung es gehen könnte, gibt es heutzutage nicht mehr. Die Verfassungslegitimität der Bundesrichterwahl dürfte jedenfalls eher gewinnen, wenn die Präsidialratsvoten weniger marginalisiert werden, als dies derzeit der Fall ist. Vorausgesetzt natürlich, dass sie frei von Willkür erstellt werden – was zu kontrollieren ist.

Die Präsidialratsvoten im Verfahren der Bundesrichterwahl erscheinen auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil klassischerweise die jüngsten Beurteilungen, die maßgeblich aus Anlass des Vorschlags zu einem Bundesgericht erstellt werden, noch die geringste Aussagekraft haben. Jedenfalls reduziert sich ihre Aussagekraft umso mehr, je mehr sie aus der Kette der früheren Beurteilungen hervorstechen und diese übertreffen. In solchen Fällen hat die Anlassbeurteilung erfahrungsgemäß nicht selten das Ziel, eine Einzelperson bewusst zu fördern oder „weg zu loben“; die Vergleichbarkeit der Maßstäbe und die Chancengleichheit von MitkonkurrentInnen werden bei solchen Anlassbeurteilungen selten im Blick behalten. Die unverzichtbare Aufgabe der Präsidialräte ist es hierbei, soweit irgend möglich, eine für alle Kandidatinnen und Kandidaten vergleichbare Beurteilungsgrundlage an Hand vergleichbarer Maßstäbe zu schaffen.

Dabei ist stets mit zu berücksichtigen, dass es sinnlos ist, über Bruchteile von Notenstufen Unterscheidungen treffen zu wollen. Eine mathematisch genaue Differenzierung von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung ist unmöglich. Letztlich hängt jede einzelne Beurteilung, auch soweit es um Leistungskriterien im engeren Sinne geht, von Wertungen ab. Das mindert die Bedeutung von Beurteilungen keineswegs, zumal wenn sie im Laufe der Jahre von unterschiedlichen Personen vergleichbar gesehen werden. Allerdings ist hiermit die auch für die Länder maßgebliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kaum zu vereinbaren. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Jahre 2003 für Auswahlentscheidungen Binnendifferenzierungen (Ausschärfungen) innerhalb einer Notenstufe für geboten gehalten (Urteil vom 27. Februar 2003 – BVerwG 2 C 16/02 – DVBl 2003, 1548 ff. = NVwZ 2003, 1397 f.). Dagegen haben Papier/Heidebach (DVBL 2015, 125, 135) zutreffend eingewandt, dass ein solch ausgefeiltes System der Ausdifferenzierung lediglich eine gewisse Scheinrationalität erzeuge. Es werde impliziert, die Auswahlentscheidung werde nach objektiv bestimmbaren Kriterien und strengen rechtlichen Vorgaben durchgeführt. Tatsächlich finde beispielsweise auf der Ebene der so genannten Ausschärfung durch die Gewichtung einer Vielzahl von Einzelbeurteilungen in erster Linie eine Wertungsentscheidung statt. Indem die Wertungsentscheidung auf die Stufe der Bestimmung der Qualifikationskriterien verschoben werde, werde verschleiert, dass bei jeder Auswahl auch ein gewisser Ermessensspielraum bestehe. Sie haben in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass sich solche Ausschärfungen nicht selten zu Lasten von Frauen auswirkten, da Leistungs- und Befähigungsbeurteilungen auch von Geschlechterstereotypen und überkommenen Rollenverteilungen beeinflusst sind und sich diese eher zulasten von Bewerberinnen auswirkten. Dem ist aus Sicht des djb zuzustimmen (vgl. die Stellungnahme st15-05 des djb zur Geschlechtergerechtigkeit bei dienstlichen Beurteilungen von Beamtinnen und Tarifbeschäftigten vom 22. April 2015, wfd://5/3393).

Der Richterwahlausschuss hat nach alledem einen nicht unbeträchtlichen Beurteilungsspielraum, auch soweit er die jeweilige „Papierform“ der Bewerberinnen und Bewerber eigenständig bestimmt. Soweit er aber die vorhandenen Beurteilungen – wie beispielsweise die des Präsidialrates – nicht mit nachvollziehbaren Gründen ablehnen oder berücksichtigen kann, gerät er in Willkürverdacht. Reine „politische Entscheidungen“ entsprechen den Vorgaben des Grundgesetzes nicht. Festzuhalten bleibt: Der Richterwahlausschuss hat eine rechtsgebundene Entscheidung zu treffen. Eine Begründungspflicht des Richterwahlausschusses wäre aus Sicht des djb jedenfalls rechtsstaatlich angemessen und zumindest dann erforderlich, wenn nicht die Lösung des Problems alternativ bei einer Begründungspflicht des zuständigen Ministers gesucht wird oder das Verfahren nicht anderweitig in einer Weise umgestaltet wird, dass alle höchst-qualifizierten Bewerberinnen und Bewerber eine effektivere Chance als bisher erhalten bei der Wahl berücksichtigt zu werden.

3.  Begründungs-/Dokumentationspflicht durch die zuständige Bundesministerin oder den zuständigen Bundesminister?

Bliebe es bei der fehlenden Begründungspflicht des Richterwahlausschusses, so könnte dem Anspruch der Bewerberinnen und Bewerber auf effektiven Rechtsschutz im Falle der Nichtberücksichtigung ggf. auch dadurch Genüge getan werden, dass der oder dem durch Art. 95 Abs. 2 GG zu eigenständiger Mitwirkung berufenen Ministerin oder Minister eine entsprechende Begründungs- bzw. Dokumentationspflicht auferlegt wird. Es handelt sich dabei (derzeit) entweder um den Bundesjustizminister oder um die Arbeits- und Sozialministerin des Bundes. Diese müssen, sofern eine bei ihnen ressortierende Gerichtsbarkeit betroffen ist, der Entscheidung des Richterwahlausschusses zustimmen, damit es zu einer Richterberufung kommen kann. Ist wie vorliegend die Stelle einer Richterin oder eines Richters am BGH betroffen, geht es um die Zuständigkeit des Bundesjustizministers.

Der zuständige Bundesminister leitet den Richterwahlausschuss, ohne dort über ein eigenes Stimmrecht zu verfügen. Eine derartige Leitung darf u.a. dahin verstanden werden, dass sie die Mitglieder des Richterwahlausschusses mit den notwendigen schriftlichen Unterlagen (Personalakten, Zusammenstellung der bisherigen Beurteilungen, etc.) versorgt sowie die Erörterung der maßgebenden Erwägungen bei einer Auswahlentscheidung moderiert. Das Grundgesetz gibt dem Minister nach zutreffender Auslegung zusätzlich aber eine eigenständige Entscheidungsposition. Ausweislich Art. 95 Abs. 2 GG entscheidet der zuständige Bundesminister gemeinsam mit dem Richterwahlausschuss über die Berufung der Bundesrichterinnen und -richter. Auszugehen ist also von einem zweistufigen Richterwahlverfahren. Der Richterwahlausschuss entscheidet zunächst allein – wie gesagt, unter dem Vorsitz, aber ohne die Stimme des Ministers. Die Zustimmung des Bundesministers erfolgt sodann erst auf einer weiteren Verfahrensstufe (s.a. § 13 RichterwahlG). Der Minister ist zu einer eigenständigen Prüfung, ob die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen für die Ernennung zum Richter vorliegen, berechtigt und verpflichtet (so für Landesrichterwahlen BVerwGE 102, 168 ff.). Dem Bundesminister steht dabei der gleiche Ermessens- und Beurteilungsspielraum wie dem Richterwahlausschuss zu. Entscheidender noch: Der zuständige Minister trägt auch die Letztverantwortung für die Berufung zur Bundesrichterin oder zum Bundesrichter. Denn er verfügt über die größere erforderliche demokratische Legitimation. Die demokratische Legitimation des Richterwahlausschusses ist demgegenüber – ungeachtet seiner ausdrücklichen Erwähnung im Grundgesetz – defizitär. Als exekutivisch-parlamentarisches Mischorgan ist er weder dem Bundestag noch der Bundesregierung verantwortlich. Das BVerfG stellte – sehr vergleichbar – zu einem auf Landesebene angesiedelten Richterwahlausschuss fest, dass dieser Parlament und Regierung nicht verantwortlich sei und schon deshalb keine alleinige Entscheidungsbefugnis habe könne, die im Einklang mit den Anforderungen des Demokratieprinzips stehe (BVerfG, Kammer-Beschluss vom 4. Mai 1998 – 2 BvR 2555/96 –, Rn. 22, juris, unter Hinweis auf BVerfGE 93, 37, 73). Wird dieser Aspekt in den Vordergrund gerückt, läge es möglicherweise sogar näher, die oder den nach Art. 95 Abs. 2 GG zuständigen Ministerin oder Minister als Adressat von Dokumentations- und Begründungspflichten zur Sicherung des Anspruchs aus Art. 19 Abs. 4 GG zu sehen. Einer solchen Dokumentation müssten – unabhängig von den Erwägungen des Richterwahlausschusses – die wichtigsten Gründe für die Auswahl der Bewerberinnen und Bewerber zu entnehmen sein; dies gemessen an Art. 33 Abs. 2 GG und den weiteren verfassungslegitimen Auswahlkriterien – zu denen auch Überlegungen zu Art. 3 Abs. 2 GG gehören.

Insgesamt gilt: Mit der Rechtsprechung des BVerfG zur Übertragung öffentlicher Ämter jenseits des Art. 95 Abs. 2 GG ist davon auszugehen, dass nur durch eine schriftliche Fixierung der wesentlichen Auswahlerwägungen – deren Kenntnis gegebenenfalls durch Akteneinsicht zu erlangen ist – Mitbewerberinnen und Mitbewerber in die Lage versetzt werden, sachgerecht darüber zu befinden, ob Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen den Anspruch auf faire und chancengleiche Behandlung der Bewerbung bestehen und daher mit Aussicht auf Erfolg gerichtlicher (Eil-)Rechtsschutz in Anspruch genommen werden kann. Auch eröffnet erst die Dokumentation der maßgeblichen Erwägungen dem Gericht die Möglichkeit, die angegriffene Entscheidung eigenständig nachzuvollziehen (BVerfG, Kammer-Beschluss vom 9. Juli 2007 – 2 BvR 206/07 – Rn. 21, juris, unter Hinweis auf BVerfGE 65, 1 <70>; 103, 142, <160>).

4. Grundrechtsschutz durch Verfahren?

Der djb ist in seinem Eckpunktepapier vom 28. April 2015 (a.a.O.) davon ausgegangen, dass – im Interesse der Nichtbenachteiligung weiblicher Bewerber – auf eine Dokumentationspflicht verzichtet werden könnte, wenn sowohl bei den Vorschlägen als auch bei der späteren Wahl die jeweils zuständigen Gleichstellungsbeauftragten (typischerweise die Gleichstellungsbeauftragten der hinsichtlich der Vorschläge oder hinsichtlich der Wahl befassten Ministerien) substantiell beteiligt würden. Aus Sicht des djb könnte die Mitwirkung durch ein solcherart unabhängiges Organ, wie es die Gleichstellungsbeauftragten darstellen, die Ansprüche der Bewerberinnen und Bewerber auf faire und chancengleiche Behandlung ihrer Bewerbung bis zu einem gewissen Grad ggf. auch ohne Dokumentationspflichten sichern und damit den erforderlichen Grundrechtsschutz der Bewerberinnen und Bewerber absichern. Da es eine solche Beteiligungspflicht bislang nicht gibt, sei der Gedanke hier indes nicht weiter verfolgt.

Der djb kommt nach den vorstehenden Überlegungen zu dem Schluss, dass das bisherige Verfahren zur Berufung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter nicht genügt, den Bewerbungsverfahrensanspruch von höchstqualifizierten Bewerberinnen um ein Bundesrichteramt wie der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens effektiv durchzusetzen.


Ramona Pisal
Präsidentin

Link zum Beschluss des Zweiten Senats vom 20. September 2016 - 2 BvR 2453/15 - : https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/09/rs20160920_2bvr245315.html