Stellungnahme: 12-01


zum Grünbuch der Europäischen Kommission zum Recht auf Familienzusammenführung von in der Europäischen Union lebenden Drittstaatsangehörigen (Richtlinie 2003/86/EG), Fassung vom 4.2.2012

Stellungnahme vom

Der Deutsche Juristinnenbund (djb) begrüßt es ausdrücklich, dass die Europäische Kommission die Umsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) evaluiert und dabei auch die Legitimität einzelner Vorschriften zur Überprüfung stellt. Er hält es gleichwohl nicht für erforderlich, mit strengeren Vorgaben in der Richtlinie auf fehlerhafte Umsetzungen einzelner Mitgliedstaaten zu reagieren. Vereinzelt auftretenden Umsetzungsdefiziten kann ebenso auf anderem Wege, wie etwa durch Vertragsverletzungsverfahren etc., begegnet werden.

Der djb hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach zu den Problemfeldern Ehegattennachzug, Integrationsmaßnahmen, Spracherfordernisse, Unterhaltssicherung und Zwangsverheiratung geäußert. Auf die Stellungnahmen vom

wird ausdrücklich Bezug genommen.

Hervorzuheben ist auch, dass der djb bereits auf seinem Bundeskongress 2009 in Karlsruhe die besonderen Probleme der Migrantinnen diskutiert und Lösungsansätze hierfür entwickelt hat, die jetzt als besondere Empfehlungen in die neue Europäische Agenda für die Integration von Drittstaatsangehörigen Eingang gefunden haben.

Zu Recht führt die Kommission in der Einleitung des Grünbuchs aus, dass Einwanderer auf Familienzusammenführung angewiesen sind, denn nur dies ermöglicht ihnen ein Familienleben. Auch der djb hat mehrfach darauf hingewiesen, dass erst die Anwesenheit der Familienmitglieder ein normales Familienleben ermöglicht und somit eine größere Stabilität und bessere Verwurzelung des Menschen – also eine bessere Integration im Aufnahmeland –gewährleistet. Das Recht auf Familienzusammenführung ergibt sich aus dem notwendigen Schutz der Familie, die unser Grundgesetz als Grundeinheit der Gesellschaft ansieht, wie auch aus dem völkerrechtlich, insbesondere in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankerten Anspruch auf Achtung und Schutz des Familienlebens, der sich in den Artikeln 7, 24 der Grundrechte-Charta-EU wiederfindet. Die Europäische Sozialcharta, die in der 5. Begründungserwägung der Präambel zum EUV (ebenso in Art. 151 AEUV und in der Präambel Grundrechte-Charta-EU) erwähnt wird bzw. auf die ausdrücklich Bezug genommen wird, enthält in ihren Artikeln 16 ff. wichtige Rechte von Wanderarbeitnehmerinnen und ihren Familien, insbesondere Artikel 19 Nr. 6 zum Familiennachzug. Auf die Einhaltung dieser horizontalen Klauseln ist bei der Evaluierung der Familiennachzugsrichtlinie besonders zu achten. Dabei bilden die im Rahmen der Familienzusammenführung einreisenden Personen in der EU eine nach wie vor quantitativ bedeutsame Zuwanderergruppe, macht ihr Anteil doch ein Drittel der gesamten Zuwanderung in der EU aus.

Zu den Fragen im Einzelnen:

Frage 1

Sind diese Kriterien (begründete Aussicht auf das Recht auf dauerhaften Aufenthalt zum Zeitpunkt der Antragstellung gemäß Artikel 3 und eine Wartefrist bis zur konkreten Familienzusammenführung gemäß Artikel 8) der richtige Ansatz und die beste Art zu bestimmen, wer als Zusammenführender anerkannt werden kann?

Bezogen auf das Tatbestandsmerkmal der „begründeten Aussicht darauf, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen“ bestehen bereits Zweifel an der Bestimmtheit der Vorschrift, da unklar erscheint, was unter einem „dauerhaften Aufenthaltsrecht“ zu verstehen ist. Ist damit nur das unbefristete Aufenthaltsrecht, oder auch das zwar befristete, aber verlängerbare Aufenthaltsrecht (so wohl S. 3, Fußnote 10 des Grünbuchs) gemeint?

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die oder der Zusammenführende nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 2003/86/EG ohnehin über eine Aufenthaltserlaubnis verfügen muss, die eine Gültigkeit von mindestens einem Jahr hat, erscheint weder die Aussicht auf ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht noch die in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellte Einführung einer zweijährigen Mindestbestandszeit (Art. 8 Abs. 1) der richtige Ansatz und die beste Art zu bestimmen, wer als Zusammenführende/r anerkannt werden kann.

Der Schutz des Familienlebens kann es auch bei einem von vornherein befristeten, also nicht auf Dauer gerichteten Aufenthalt gebieten, den Nachzug von Familienangehörigen zuzulassen. Die Wartefrist des Artikels 8 Absatz 1 der Richtlinie ist zudem bei einer Familienzusammenführung, bei der auch sehr junge minderjährige Kinder betroffen sind, im Lichte von Artikel 6 GG, Artikel 8 EMRK nicht hinnehmbar und daher zu streichen. Sie kann zudem bei Personen, die nicht hoch qualifiziert sind und nur für den Zeitraum der Wartefrist einreisen wollen, den Familiennachzug vollständig ausschließen.

Frage 2

a) Ist es legitim, ein Mindestalter für den Ehegatten festzulegen, das nicht dem Volljährigkeitsalter eines Mitgliedstaats entspricht? Gibt es andere Möglichkeiten, Zwangsheiraten im Rahmen der Familienzusammenführung zu verhindern, und wenn ja, welche?

b) Gibt es eindeutige Beweise dafür, dass im Zusammenhang mit Zwangsheiraten ein Problem existiert? Wenn ja, wie groß ist das Problem (Belege durch statistische Daten) und hängt es mit den Regeln zur Familienzusammenführung zusammen (Festlegung eines anderen Mindestalters als das Volljährigkeitsalter)?

Zu a)
Das Mindestalter für Ehegattennachzug sollte unabhängig von der Volljährigkeitsgrenze einzelner Mitgliedstaaten auf 18 Jahre festgelegt sein, wobei generell das Problem der Zwangsverheiratung durch die Festsetzung eines Mindestalters nicht erfasst wird, da die Zwangsverheiratung unabhängig von einem Nachzug stattfindet. Durch Festlegung eines einheitlichen Mindestnachzugsalters wäre allenfalls eine einheitliche Handhabung der Nachzugsregelungen hinsichtlich der Altersbegrenzung gewährleistet. Das Problem, dass insbesondere sehr junge Frauen und Mädchen, aber auch junge Männer in einem Alter zu einer Heirat gezwungen/gedrängt werden könnten, in dem sie sich schon aufgrund ihres Alters hiergegen nicht effektiv werden zur Wehr setzen können, stellt keine Frage des Nachzugsalters, sondern allenfalls des Ehefähigkeitsalters bzw. des Lebens in entsprechenden autoritären Zusammenhängen dar. Kommen aber die von der Gefahr einer Zwangsverheiratung Betroffenen aus sehr patriarchalisch geprägten Lebenszusammenhängen, wird es dabei im Regelfall keinen Unterschied machen, ob die betreffende Person das 18. oder das 21. Lebensjahr vollendet hat. Die Heraufsetzung des Nachzugsalters auf 21 Jahre würde nach Einschätzung des djb eher einer – zusätzlichen – Zugangsbeschränkung als der Verhinderung von Zwangsverheiratungen dienen.

Andere Möglichkeiten, Zwangsheiraten im Rahmen der Familienzusammenführung zu verhindern, sind vielfältig. Diese liegen insbesondere in gut ausgebauten, niedrigstufigen und muttersprachlichen Beratungsmöglichkeiten, dem Ausbau von Bildungsangeboten für Migrantinnen und Migranten sowie der Präventionsarbeit schon in den Schulen. Ebenso kann an die Unterstützung von Bildungsprogrammen in Drittländern gedacht werden. Wichtig ist auch der finanziell nachhaltig abgesicherte Ausbau von spezialisierten Zufluchtsstätten, da Betroffene, die aus der Familie fliehen, häufig einer besonders großen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sind. Dabei muss beachtet werden, dass auch Männer von Zwangsverheiratungen betroffen sein können.

Ausweislich der Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) vom 28. März 2011 „Zwangsverheiratung in Deutschland – Anzahl und Analyse von Beratungsfällen“ findet die Mehrheit der Zwangsverheiratungen (52%) im Ausland statt oder wird dort geplant, 28 Prozent der Ehen sollen in Deutschland geschlossen werden. Dabei gilt: Sowohl im Ausland wie in Deutschland Geborene werden weit mehrheitlich im Herkunftsland verheiratet. Sind die Betroffenen im Ausland geboren, ist zu 59 Prozent auch das Ausland Ort der Zwangsverheiratung, für in Deutschland Geborene beträgt der Prozentsatz 49 Prozent. Die vorgesehenen Ehegatt/inn/en leben mit rund 64 Prozent ebenfalls im Ausland. Zwangsverheiratungen gehen vielfach mit einem unfreiwilligen Umzug ins oftmals für die Betroffenen völlig unbekannte Ausland einher (vgl. BMFSFJ vom 28. März 2011 „Zwangsverheiratung in Deutschland – Anzahl und Analyse von Beratungsfällen“, S. 8 und 39). Gerade der zuletzt genannte Aspekt zeigt, dass Beratungsangebote, Hilfestellungen und insbesondere Zufluchtsmöglichkeiten im Inland von elementarer Bedeutung sind, soll Zwangsverheiratung effektiv bekämpft werden. Sind die Betroffenen bereits ins Ausland verbracht, sind einer Rückkehr meist nahezu unüberwindliche Hürden trotz neuen Rechts entgegengesetzt. Dies belegt, dass Hilfe- und Beratungsangeboten im Inland an dort bereits aufenthältige Personen mehr Gewicht zukommen sollte als der Begrenzung des Zuzugs durch Bestimmung eines Nachzugsalters, die alle betrifft.

Zu b)
Statistisches Material liegt dem djb zu der Frage, ob Probleme mit Zwangsverheirateten und den Regeln der Familienzusammenführung bestehen, nicht vor. Allerdings ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass zuverlässiges statistisches Material zu Zwangsverheiratungen ohnehin kaum zu beschaffen sein dürfte. Auch die bereits zitierte Studie des BMFSFJ vom 28. März 2011, die sich auf eine schriftliche Befragung in Beratungs- und Schutzeinrichtungen sowie eine sechsmonatige Dokumentation individueller Beratungsfälle beschränkt, weist darauf hin, dass die immer wieder gestellte Frage nach der genauen Zahl der betroffenen Personen nicht beantwortet werden kann.

Frage 3

Halten Sie es für zweckmäßig, jene Stillstandsklauseln, die von den Mitgliedstaaten nicht angewandt werden, z.B. diejenigen betreffend Kinder über 15 Jahren, beizubehalten?

Der djb hält die Beibehaltung der Stillstandsklauseln für Kinder über 12 Jahren einerseits und solchen über 15 Jahren andererseits nicht für zweckmäßig. Es handelt sich um nicht am Kindeswohl orientierte Sonderregelungen, die gestrichen werden sollten.

Frage 4

Sind die Regeln für Familienangehörige, die bei der Familienzusammenführung berücksichtigt werden können, angemessen, und sind sie weit genug gefasst, um den verschiedenen Definitionen des Begriffs Familie über die Kernfamilie hinaus Rechnung zu tragen?

Problematisch erscheint die Situation nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit minderjährigen Kindern, für die ein gemeinsames Sorgerecht besteht. In diesen Fällen sollte der/dem nichtehelichen, aber (mit-)sorgeberechtigten Lebenspartner/in der Familiennachzug gestattet werden, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft gelebt wird bzw. werden soll und die sonstigen Erteilensvoraussetzungen erfüllt sind.

Ebenso sollten die Eltern der/des Zusammenführenden, wie wohl von der Hälfte der Mitgliedstaaten praktiziert, in den Anwendungsbereich der Familienzusammenführung aufgenommen werden. Die in Deutschland geltenden Anforderungen für sonstige Familienangehörige (§ 36 Abs. 2 AufenthG), wonach die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich sein muss, werden der besonderen familiären Situation der im Ausland verbliebenen Personen oft nicht gerecht, die entweder den bereits eingereisten Familienmitgliedern familiäre Unterstützung gewähren könnten oder selbst auf diese angewiesen sind, ohne hierbei zwingend die hohen Anforderungen einer außergewöhnlichen Härte zu erfüllen.

Ernsthafte Probleme ergeben sich auch für erwachsene Kinder, insbesondere junge Frauen, die zum Zeitpunkt der Übersiedlung ihrer Eltern noch im Familienverband leben und auf die Unterstützung durch die Familie angewiesen sind. Angemessen erscheint die Aufnahme einer Erweiterung, wie sie in der Regelung zum Familienverband in Artikel 23 Absatz 5 der neuen Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU enthalten ist.

Frage 5

a) Dienen diese Maßnahmen wirklich Integrationszwecken und wie lässt sich dies in der Praxis überprüfen? Welche Integrationsmaßnahmen sind am wirkungsvollsten?

b) Halten Sie es für zweckmäßig, diese Maßnahmen auf EU-Ebene genauer festzulegen?

c) Halten Sie Maßnahmen bereits vor der Einreise für empfehlenswert? Wenn ja, wie lässt sich gewährleisten, dass sie in der Praxis nicht zu unerwünschten Barrieren für die Familienzusammenführung werden (z. B. unverhältnismäßige Gebühren oder Anforderungen)und individuellen Schwächen (z. B. Alter, Analphabetismus, Bildungsniveau) Rechnung tragen?

Zu a)
Soweit Integrationsmaßnahmen wie der verpflichtende Besuch von Sprachkursen, der Besuch von Integrationskursen, die auf die besonderen Bedürfnisse der Migrant/inn/en eingehen, und die Beratung und Betreuung der Migrant/inn/en in den für sie relevanten Lebensbereichen (Bildungsangebote für Erwachsene und Kinder, Suche eines Arbeitsplatzes, Anerkennung ausländischer Abschlüsse etc.) nach der Einreise angeboten bzw. verpflichtend eingeführt werden, dienen sie der Integration und dem „Ankommen“ in dem jeweiligen Mitgliedstaat und sind daher zu begrüßen. Dabei stellt das Erlernen der jeweiligen Sprache auch nach Überzeugung des djb die Basis für jedwede weitere Integration dar. Am wirkungsvollsten dürften sich Integrationsmaßnamen darstellen, die einerseits von der Migrantin und dem Migranten bestimmte Leistungen abfordern (Besuch eines Sprachkurses nach der Einreise), andererseits aber gegenüber den Migrant/inn/en deutlich zum Ausdruck bringen, dass ihre rechtlich schutzwürdigen Interessen und Bedürfnisse ernst genommen werden und Beachtung finden. Dabei spielt die Achtung der familiären Lebensgemeinschaften eine zentrale Rolle.

Als besonders wirkungsvoll haben sich Maßnahmen erwiesen, die den Spracherwerb von Anfang an mit einer Integration ins Erwerbsleben verbinden. Ein ausreichendes Angebot an Praktika, Anpassungslehrgängen und geförderter Beschäftigung dient sowohl dem Spracherwerb, als auch dem Aufbau von sozialen Bindungen im Zuwanderungsstaat. Es unterstützt die Selbstständigkeit und Selbstbestimmung von Frauen und erweist sich so auch als effektive Maßnahme gegen Zwangsverheiratungen.

Zu b)
Die Vergangenheit lehrt, dass es sinnvoll ist, die Maßnahmen auf EU-Ebene genauer festzulegen. Dies betrifft insbesondere die Frage, ob es zulässig ist, die Erbringung bestimmter Integrationsmaßnahmen vor der Einreise zu verlangen und wie unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit individuellen Gegebenheiten Rechnung zu tragen ist (dazu gleich c).

Zu c)
Der djb hält es weder für sinnvoll noch mit der Intention der Familienzusammenführungs­richtlinie vereinbar, dass Integrationsmaßnahmen bereits vor der Einreise zu erbringen sind.

So bewirkt etwa die in Deutschland geltende Regelung des Spracherwerbs vor Einreise eine wesentliche Erschwernis des Familiennachzugs für Ehegatt/inn/en, die aus einer Region mit wenigen Angeboten für Sprachkurse nachziehen wollen. Die Regelung entfaltet eine diskriminierende Wirkung insbesondere für Frauen, die durch Kinderbetreuung, eine Schwangerschaft, familiäre Pflichten und/oder aus kulturtraditionellen Gründen in ihrem Herkunftsland am Spracherwerb gehindert sind und führt damit zu deutlichen Barrieren für die Familienzusammenführung, die in einzelnen Fällen dadurch sogar unmöglich gemacht wird. Individuellen Besonderheiten und Fähigkeiten wird dabei nicht Rechnung getragen.

Das BVerwG hält in Übereinstimmung mit dem BVerfG das durch das Richtlinienumsetzungsgesetz im August 2007 eingeführte Erfordernis, dass die Ehegattin oder der Ehegatte, die oder der zu einer oder einem in Deutschland lebenden Ausländer/in nachziehen will, sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können muss (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG <juris: AufenthG 2004>), für mit Artikel 6 GG (Rn.30), Artikel 8 EMRK (juris: MRK) und Artikel 7 Absatz 2 der RL 2003/86/EG (juris: EGRL 86/2003) vereinbar und meint, das Fehlen einer allgemeinen Ausnahmeregelung für Härtefälle stehe der Verfassungsmäßigkeit der Regelung nicht entgegen, da zur Vermeidung einer unverhältnismäßigen Trennung der Eheleute im Einzelfall auf anderem Weg, etwa durch Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Spracherwerb nach § 16 Absatz 5 AufenthG, Abhilfe geschaffen werden könne (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.3.2010 – 1 C 8/09 – bestätigt durch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 25.3.2011 – 2 BVR 1423/10 –).

Dem folgt der djb nach wie vor nicht, da die Familienzusammenführung durch Einführung des Nachweises der Sprachkenntnisse vor der Einreise wesentlich erschwert, in vielen Fällen unmöglich gemacht wird und den individuellen Gegebenheiten auch die Regelung des § 16 Absatz 5 AufenthG nicht hinreichend gerecht wird. Die Annahme etwa, eine Analphabetin mit mehreren kleinen Kindern könne in einem angemessenen, an der Intention der Familienzusammenführungsrichtlinie orientierten Zeitraum zum einen alphabetisiert werden, zum anderen eine ihr fremde Sprache erlernen, erscheint nicht nachvollziehbar.

Frage 6

Ist es mit Blick auf die Anwendung der Richtlinie erforderlich und gerechtfertigt, eine solche Ausnahmeregelung zu belassen, die eine Wartefrist von drei Jahren ab Antragstellung vorsieht?

Bei der als Ausnahmeregelung zu verstehenden Regelung des Artikels 8 zweiter Unterabsatz erscheint es aufgrund der bereits langen Laufzeit der Richtlinie weder erforderlich noch gerechtfertigt, diese weiter aufrecht zu erhalten, da sie grundsätzlich der Familienzusammenführung entgegenwirkt. Sie sollte daher gestrichen werden.

Frage 7

Sollten besondere Regeln für die Situation vorgesehen werden, in der der Aufenthaltstitel des Zusammenführenden zum Zeitpunkt der Ausstellung des Aufenthaltstitels des Familienangehörigen weniger als ein Jahr gültig ist, aber verlängert werden soll?

In jedem Fall sollte gewährleistet werden, dass eine Familienzusammenführung nicht daran scheitert, dass der Aufenthaltstitel der/des Stammberechtigten/Zusammenführenden eine Geltungsdauer von weniger als einem Jahr hat.

Dabei sollte die Möglichkeit eröffnet werden, ausnahmsweise die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels der/des Familienangehörigen über diejenige der/des Zusammenführenden hinausgehen zu lassen, soweit die Aufenthaltserlaubnis der/des Zusammenführenden verlängerbar ist.

Frage 8

Sollte die Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird, unter die Bestimmungen der Richtlinie über die Familienzusammenführung fallen?

Sollten Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird, die günstigeren Bestimmungen der Richtlinie über die Familienzusammenführung zugutekommen, die von Flüchtlingen nicht die Erfüllung bestimmter Kriterien verlangt (Unterkunft, Krankenversicherung, feste und regelmäßige Einkünfte)?

Der djb teilt die Auffassung, dass der Schutzbedarf von Flüchtlingen und Personen, denen subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, identisch ist. Die Rechtstellung beider Personengruppen sollte daher auch hinsichtlich der Familienzusammenführung dringend angeglichen werden. Gerade bei Menschen mit traumatischen Fluchterfahrungen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, weil sie vor einem ernsthaften Schaden im Sinne des Artikels 15 der Richtlinie 2004/83/EG (jetzt: Art. 15 Richtlinie 2011/95/EU) (Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Herkunftsland, ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts) geflohen sind, sind auf familiären Halt und Unterstützung, aber auch auf die Gewissheit, ihre Familienangehörigen in Sicherheit zu wissen, in besonderem Maße angewiesen. Familienzusammenführung dient hierbei in hohem Maße der Stabilisierung der betroffenen Personen, die wiederum Voraussetzung für eine Integration auch derjenigen Personen darstellt, denen subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist.

Die Rechtstellung der subsidiär Geschützten sollte daher derjenigen der anerkannten Flüchtlinge angeglichen werden, sie sollten unter Beachtung auch der Neufassung der Richtlinie 2044/83/EG durch die Richtlinie 2011/95/EU unter den Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie fallen und ihnen sollten dieselben Vergünstigungen zukommen, die anerkannten Flüchtlingen zukommen (erleichterte Anforderungen bei Lebensunterhaltssicherung, Unterkunft, Krankenversicherung etc.). Diesem Gedanken trägt die Richtlinie 2011/95/EU Rechnung, nach deren Artikel 1 es Zweck der Richtlinie unter anderem ist, Normen für einen einheitlichen Schutz für Flüchtlinge oder für Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, sowie für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festzulegen. Dementsprechend sind in den Artikeln 23 und 24 der Richtlinie 2011/95/EU bisher bestehende Sonderregelungen für Personen mit subsidiärem Schutz bei der Wahrung des Familienverbandes entfallen.

Frage 9

a) Sollten die Mitgliedstaaten weiterhin die Möglichkeit haben, die Anwendung der günstigeren Bestimmungen auf Flüchtlinge zu beschränken, deren familiäre Bindungen aus der Zeit vor ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stammen?

b) Sollte Familienzusammenführung für breitere Gruppen von Familienangehörigen, die gegenüber den Flüchtlingen unterhaltsberechtigt sind, vorgesehen werden, und wenn ja, bis zu welchem Grad?

c) Sollten Flüchtlinge weiterhin nachweisen müssen, dass sie den Anforderungen bezüglich Unterkunft, Krankenversicherung und Einkünften genügen, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wird?

Zu a)
Artikel 9 Absatz 2 der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten die Anwendung dieses Kapitels auf Flüchtlinge beschränken können, deren familiäre Bindungen bereits vor ihrer Einreise bestanden haben, sollte nach Auffassung des djb ersatzlos gestrichen werden. Flüchtlinge müssen oft mehrere Jahre auf die abschließende Entscheidung ihres Aufnahmegesuchs warten, familiäre Bindungen, die (erst) in dieser Zeit entstanden sind, dürfen dabei nicht unberücksichtigt bleiben. Junge Flüchtlinge, die erst in der Zeit der Flucht eigene familiäre Bindungen aufgebaut haben, sind dabei ebenso schutzwürdig wie diejenigen, die bereits vor ihrer Ausreise familiäre Bindungen hatten. Es wird der besonderen Situation der Flüchtlinge nicht gerecht, wollte man ihre schützenswerten familiären Bindungen auf diejenigen Bindungen reduzieren, die bereits vor der Ausreise bestanden haben. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Flüchtlinge aufgrund ihrer Lage in der Regel in besonderem Maße auf stabile familiäre Bindungen angewiesen sind.

Zu b)
Der Nachzug sollte für Verwandte in gerader Linie 1. Grades (Eltern, Kinder) sowie für Ehegatten ermöglicht werden. Hierbei ist eine der Vorschrift des Artikels 23 Absatz 5 der Richtlinie 2011/95/EU entsprechende Öffnungsklausel für andere enge Verwandte denkbar.

Zu c)
Die Regelung des Artikels 12 Absatz 1 Satz 3 der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten von dem Flüchtling die Erfüllung der in Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie (Wohnraum, Krankenversicherung, Einkünfte) genannten Voraussetzungen verlangen können, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde, wird der besonderen Situation der Flüchtlinge sowie ihrer Familienangehörigen nicht gerecht und sollte daher gestrichen werden. Zumindest erscheint die Dreimonatsfrist als zu kurz. Gerade für Flüchtlinge dürfte es oft schwierig sein, die für die Familienzusammenführung erforderlichen Papiere zu erhalten. Auch dürfte sich die Kontaktnahme zu den Familienangehörigen oft als schwierig darstellen. Nicht zu vergessen ist die Notwendigkeit, sich selbst in der neuen Situation nach Zuerkennung zurechtzufinden – d.h. Wohnung, Arbeit etc. zu finden –, die auch den Bedürfnissen der nachziehenden Familienmitglieder gerecht wird.

Frage 10

Liegen Ihrem Land eindeutige Beweise für Betrug vor? Wie groß ist das Problem (Statistiken)? Sind Regeln für Befragungen und Nachforschungen, einschließlich DNA-Tests, Ihrer Meinung nach die Lösung? Halten Sie eine genauere Regelung dieser Befragungen und Nachforschungen auf EU-Ebene für zweckmäßig? Wenn ja, welche Regeln würden Sie in Betracht ziehen?

Dem djb liegt statistisches Material zur Anzahl von Betrugsfällen nicht vor. Allerdings muss deutlich gemacht werden, dass es sich allgemein bei Nachforschungen im familiären Bereich bis hin zur Anforderung einer DNA Analyse jeweils um elementare Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen handelt, die nur in besonders gelagerten Einzelfällen und unter strenger Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig sein können. Bei der Anforderung von DNA Tests kann hinzukommen, dass gerade bei Familien mit vielen Kindern die Kosten für die Betroffenen nicht aufgebracht werden können. Hier müssen Grenzen gesetzt werden, um zu verhindern, dass Familienzusammenführung bereits an den aufzubringenden Kosten scheitert. Schließlich muss gewährleistet werden, dass bei bestehender sozialer Vaterschaft familiäre Lebensgemeinschaften nicht auseinandergerissen werden.

Frage 11

Haben Sie klare Anhaltspunkte dafür, dass Scheinehen ein Problem darstellen? Verfügt Ihr Land über Statistiken zu solchen Ehen (falls sie entdeckt werden)? Hängen die Probleme mit den in der Richtlinie enthaltenen Regeln zusammen? Ließe sich die Richtlinie in Bezug auf Kontrollen wirkungsvoller anwenden und wenn ja, wie?

Dem djb liegen Statistiken zu festgestellten Scheinehen nicht vor. Allerdings darf auch hier angezweifelt werden, dass valides statistisches Material vorhanden ist, wobei das Vorliegen einer Scheinehe weder mit einer arrangierten Ehe noch mit einer Zweckheirat verwechselt werden darf. Nach Einschätzung des djb sind die nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen zu beurteilenden Kontrollmöglichkeiten ausreichend, um eine Scheinehe aufzudecken. Den oben aufgeführten schwerwiegenden Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, dem dabei zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie dem Übermaßverbot kommt dabei besondere Bedeutung zu. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang die Frage der materiellen Beweislast. Müssen die Eheleute im Visaverfahren (materiell) nachweisen, dass keine Scheinehe geführt werden soll, stoßen sie dabei oft auf unüberwindbare Beweisprobleme. Diskriminierende Schlussfolgerungen aufgrund des Altersunterschiedes müssen bei den durchgeführten Kontrollen unterbunden werden.

Frage 12

Sollten die Verfahrenskosten geregelt werden? Wenn ja, sollten Schutzklauseln vorgesehen oder genauere Angaben gemacht werden?

Eine Regelung zu den Verfahrenskosten erscheint weder opportun noch geboten. Soweit es in einzelnen Mitgliedstaaten zu Problemen hinsichtlich der festgesetzten Verfahrensgebühren gekommen ist (EuGH, Urteil vom 29.4.2010 – C-92/07), können diese anhand des Einzelfalles ohne generalisierende Vorgaben für alle Mitgliedstaaten gelöst werden. Im Übrigen ist auf Artikel 18 der Europäischen Sozialcharta zu verweisen.

Frage 13

Ist die in der Richtlinie festgesetzte Frist zur Antragsprüfung gerechtfertigt?

Die in Artikel 5 Absatz 4 der Richtlinie genannten Fristen erscheinen in Anbetracht der zu schützenden Rechtsgüter des Artikels 8 EMRK sowie der Artikel 7 und 9 der Grundrechte-Charta sowie unter Berücksichtigung der Tatsache, dass durch den Einsatz moderner Kommunikationsmittel der Abgleich zwischen den in den Drittstaaten ansässigen Botschaften sowie den Ausländerbehörden vor Ort wesentlich schneller und effektiver gestaltet werden kann, als deutlich zu lang. Dabei erweist sich die Dauer der Visaverfahren bei der Familienzusammenführung immer wieder als Hindernis.

Durch den Einsatz von E-Mail, Telefax oder online-Abfragen dürfte eine Bearbeitungsfrist von im Regelfall drei Monaten, die in Ausnahmefällen auf sechs Monate verlängert werden kann, ausreichend und angemessen sein.

Frage 14

Wie ließe sich die Anwendung dieser horizontalen Klauseln erleichtern und in der Praxis sicherstellen?

Die effektive Einhaltung und Sicherstellung der horizontalen Klauseln der Artikel 5 Absatz 5 und Artikel 17 der Richtlinie 2003/86/EG, der Artikel 7 und 24 Absätze 2 und 3 der Grundrechte-Charta, des Artikels 3 Absatz 1 des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes sowie der Artikel 17, 18 und 19 der Europäischen Sozialcharta stellen sich bei der nationalen Umsetzung immer wieder als problematisch dar. Um die Mitgliedstaaten stärker an die Einhaltung der oben genannten horizontalen Klauseln zu erinnern und zu binden, könnte ein Artikel in der Richtlinie hilfreich sein, nach dem die Mitgliedstaaten bei dem Nachzug von Familienangehörigen, insbesondere bei dem Nachzug von Kindern, zwingend eine Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung und Abwägung der in Artikel 5 Absatz 5 und Artikel 17 der Richtlinie 2003/86/EG, der Artikel 7 und 24 Absätze 2 und 3 der Grundrechte-Charta, der Artikel 17, 18 und 19 der Europäischen Sozialcharta sowie des Artikels 3 Absatz 1 des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes gemachten Vorgaben durchzuführen haben.

Ramona Pisal
Präsidentin     

Dr. Katja Rodi
Vorsitzende der Kommission Öffentliches Recht,
Europa- und Völkerrecht