Die jüngsten Berichte aus Städten wie z.B. Ellwangen, Bielefeld oder Bremen zeigen, dass ein wirksamer Schutz vor dem Coronavirus in Aufnahmeeinrichtungen und Sammelunterkünften derzeit kaum realisierbar ist und sich Infektionen zunehmend ausbreiten. Die Unterbringung in kleinen Mehrbettzimmern, zentrale Essensausgaben und sanitäre Anlagen, die von vielen Bewohner*innen geteilt werden müssen, machen es unmöglich Quarantänemaßnahmen und Abstandsregelungen einzuhalten. Die Gesundheitsämter sind derzeit zu überlastet, um die Umsetzung und Anpassung der Hygienekonzepte der Einrichtungen entsprechend der Verpflichtung nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 IfSG zu kontrollieren. Geflüchtete in Sammelunterkünften verstoßen so gezwungenermaßen gegen Kontaktsperren und Abstandsgebote, die die Verbreitung des Virus eindämmen sollen. Auch Menschenansammlungen, wie sie aktuell über die Infektionsschutzverordnungen der Länder verhindert werden sollen, sind in den Unterkünften für Geflüchtete unumgänglicher Alltag. Damit sind Infektionsketten vorprogrammiert. Diese Einschätzung teilt auch das Verwaltungsgericht Leipzig in einem Beschluss vom 22.04.2020 (3 L 204/20), mit dem es die Verpflichtung eines Antragstellers, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, beendete.
„Der Schutz vor Corona darf nicht vor den Türen von Einrichtungen für geflüchtete Menschen aufhören.“, fordert Prof. Dr. Maria Wersig, Präsidentin des Deutschen Juristinnenbund e.V. (djb). „Eine Unterbringung auf derart engem Raum ist nicht nur aber vor allem auch für schwangere Frauen, Neugeborene und Familien mit Kleinkindern unzumutbar. In dieser Situation nicht zu handeln, ist mehr als ein Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz, es gefährdet Menschenleben. Dezentrale Unterbringungen müssen hier schnellstmöglich Abhilfe schaffen.“
Die Bewohner*innen von Aufnahmeeinrichtungen werden schon durch das Zusammenleben auf engstem Raum in der derzeitigen Lage einer völlig unzumutbaren Situation ausgesetzt. Durch die Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitsschutzes ist in der aktuellen Situation zudem völlig offen, wann sie weiterverteilt werden. Frauen leben in diesen Einrichtungen angesichts der Enge und der situationsbedingten aufgeladenen und aggressiven Stimmung mit einem deutlich höheren Risiko, Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt zu werden. Kommt eine angeordnete Quarantäne hinzu, dürfen sie ihre winzigen, häufig überbelegten Räume gar nicht mehr verlassen, ausgenommen, um die gemeinschaftlichen sanitären Anlagen aufzusuchen. Sie können nichts mehr kaufen – falls sie überhaupt Bargeld erhalten – keine ergänzenden Nahrungsmittel, vor allem für die Kinder, aber auch keine Handy-Karten, um noch Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. Das Thema Gewaltschutz wurde in den Aufnahmeeinrichtungen bisher nur schleppend vorangetrieben. Die baulichen Voraussetzungen sowie Fortbildungen der Mitarbeitenden zu sexualisierter Gewalt und einem geschlechtergerechten Ansatz wurden weitgehend nicht institutionalisiert. Die Frauen sind dieser zusätzlichen Ausnahmesituation schutzlos ausgeliefert. Ohne eigenes Handy können sich Frauen in Gewaltsituationen nicht eigenständig an das Nottelefon oder eine Beratungsstelle wenden. Nicht zuletzt fehlt es häufig bereits an der notwendigen Information über Beratungs- und Hilfsangebote in der jeweiligen Sprache.
Diese Situationen, die sich so in den allermeisten Aufnahmeeinrichtungen finden, sind unvereinbar mit dem Gebot einer menschenwürdigen Existenzsicherung, dem Schutz des Kindeswohls und einer angemessenen Gewaltschutzprävention. Der effektive und vollumfängliche Schutz vor Gewalt – auch für geflüchtete Frauen – wird nicht zuletzt von der Istanbul-Konvention gefordert, die auch in Deutschland verbindlich gilt und umzusetzen ist. Die Länder sind nach § 3 AsylbLG verpflichtet, eine menschenwürdige Unterkunft bereitzustellen und den Ernährungsbedarf angemessen zu decken.
Der djb fordert, Geflüchtete aus Aufnahmeeinrichtungen dezentral in abgrenzbaren Wohneinheiten unterzubringen. Familien müssen über eine eigene Nasszelle und eine Kochmöglichkeit verfügen. Auch Alleinstehende benötigen eigenständige Appartements oder Zimmer. In Hotels, Jugendherbergen, Tagungshäusern steht derzeit ausreichend Wohnraum zur Verfügung. Die rechtliche Grundlage hierfür besteht: § 49 Abs. 2 AsylG ermöglicht ausdrücklich die sofortige Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung „aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge“. In einer nie dagewesenen Situation wie der gegenwärtigen Pandemie wird daraus eine zwingende Handlungspflicht.