Stellungnahme: 16-03


zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz „Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung“ (Stand: 14.7.2015)

Stellungnahme vom

Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) bedankt sich für die Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV). Die nach der Einleitung der Verbändeanhörung eingetretenen Ereignisse und die nachfolgenden Diskussionen belegen die dringende Notwendigkeit einer Reform. Eine solche Reform sollte nicht nur die Umsetzung der Istanbul-Konvention, sondern auch die allgemeine Einschätzung der Strafbarkeit sexueller und sexualisierter Handlungen in der Bevölkerung widerspiegeln. Dies ist mit dem Referentenentwurf nur teilweise gelungen.

Der djb begrüßt nachdrücklich den Ansatz des Entwurfs, Strafbarkeitslücken in gravierenden Fällen sexueller und sexualisierter Übergriffe zu schließen. Es erscheint in der Intention des Referentenentwurfs klug, die bekannten Strafbarkeitslücken über die Neufassung eines Missbrauchstatbestands für erwachsene Betroffene bei nicht einverständlichen sexuellen Handlungen in einer neu gefassten Norm zu schließen. So analysiert der Referentenentwurf die identifizierten Strafbarkeitslücken und fügt sie als „Ausnutzung besonderer Umstände“, die kausal eine Widerstandsunfähigkeit verursachen, in den Tatbestand des § 179 StGB-E ein.

Dies greift aber im Hinblick auf die in Art. 36 der Istanbul-Konvention intendierte umfassende Kriminalisierung nicht einverständlicher sexueller Handlungen zu kurz.

Durch den Referentenentwurf wird kein Paradigmen-Wechsel zum umfassenden Konsensual-Prinzip vollzogen, wie es die Istanbul-Konvention fordert, sondern nur die bestehende Gesetzessystematik weiter ausdifferenziert. Damit werden bereits im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens, das die Ratifizierung der Istanbul-Konvention vorbereiten und ermöglichen soll, völkerrechtliche und grundrechtliche Verwerfungen generiert.

Mit der anstehenden Ratifizierung würde die Istanbul-Konvention über Art. 59 Abs. 2 GG den Rang eines einfachen Gesetzes erhalten, dessen menschenrechtliche Garantien in allen justiziellen Verfahren unmittelbar Anwendung finden müssen, Art. 20 Abs. 3 GG. D.h. nationale Gesetze müssen im Einklang mit dieser Europarats-Konvention ausgelegt und angewendet werden. Das ergibt sich auch aus dem Verfassungsgrundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, Art. 24-26, 59 GG. Danach sind deutsche Staatsorgane verfassungsrechtlich verpflichtet, dem Völkerrecht (hier der Istanbul-Konvention) Effektivität zu sichern und das Risiko der Nichtbefolgung internationalen Rechts zu vermindern. Diesem Prinzip wird der vorgelegte Referenten-Entwurf nur unzureichend gerecht:

Fälle, in denen zwar nicht mit Gewalt, aber mit einem anderen empfindlichen Übel gedroht wird, sowie Überraschungsfälle werden durch den Gesetzentwurf zwar ebenso erfasst wie nach der nunmehr ausdrücklich erweiterten Begründung diejenigen Fälle, in denen das Opfer aufgrund seines altersbedingten Zustands keinen Widerstand mehr leisten kann. Dabei handelt es sich um drei der vom djb in seiner Stellungnahme vom 9. Mai 2014 systematisierten und aufgelisteten Fallgruppen von nach derzeitiger Rechtslage bestehenden Schutzlücken. Die dort benannten Forderungen gehen aber aus guten Gründen darüber hinaus. Nach wie vor lässt der Entwurf sexuelle Handlungen ohne Nötigungs- oder Überraschungselement ungeregelt, auch wenn sie gegen den explizit vorgetragenen Willen der Person ausgeführt werden. Wenn der Referenten-Entwurf den strafrechtlichen Schutz von Frauen und Männern zügig verbessern will, ist das grundsätzlich zu begrüßen. Auf Grund der Erfahrung mit der Durchsetzung der Strafbarkeit einer Vergewaltigung innerhalb der Ehe ist jedoch zu befürchten, dass mit dieser sog. „kleinen Änderung“ der eigentlich erforderliche Paradigmenwechsel auf absehbare  Zeit nicht eintreten wird.

Der Entwurf bleibt der Prämisse verhaftet, dass grundsätzlich das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung durch die Trägerin oder den Träger des Rechtsguts selbst - aktiv - geschützt werden muss. Er geht weiterhin davon aus, dass ein Opfer sich im „Normalfall“ zur Wehr setzt und der Täter im „Normalfall“ davon ausgehen darf, dass bei fehlendem Widerstand ein Einverständnis des Opfers mit sexuellen Handlungen vorliegt. Nach wie vor wird also gerade nicht jede nicht-einverständliche sexuelle Handlung unter Strafe gestellt, anders als in der Istanbul-Konvention gefordert. Die Überschrift des § 179 StGB-E macht deutlich, dass nach wie vor „besondere Umstände“ ausgenutzt werden müssen, um eine Strafbarkeit zu begründen. Lediglich Fälle, in denen Widerstand aufgrund der Gesamtsituation nicht möglich ist (Überraschungsfälle) oder das Opfer den Widerstand aus Angst vor weiteren Übergriffen unterlässt, sollen nunmehr zusätzlich als Missbrauchstatbestand strafbar sein.

Der djb hat bereits ausführlich dazu Stellung genommen, dass ein grundsätzliches Umdenken im Sexualstrafrecht erforderlich ist und das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung umfassend und voraussetzungslos geschützt werden muss. Das Strafrecht muss den hohen gesamtgesellschaftlichen Wert abbilden, der der sexuellen Selbstbestimmung beigemessen wird, und sexuelle Handlungen an einer anderen Person ohne deren Einverständnis grundsätzlich unter Strafe stellen. Mit den Stellungnahmen vom 9. Mai 2014 und vom 25. Juli 2014 zum Referentenentwurf des BMJV zur „...Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht“ wurde dies ausführlich begründet und unter anderem ein Diskussionsentwurf für eine große Reform des Sexualstrafrechts vorgelegt.

Die dem Referentenentwurf weiterhin zugrunde liegende Prämisse, dass Widerstand des Opfers für die Begründung der Strafbarkeit grundsätzlich erforderlich ist, dass also eine sexuelle Handlung an einer anderen Person nur dann strafbar ist, wenn diese sich widersetzt oder aber – ausnahmsweise – auf Grund „besonderer Umstände“ hierzu nicht in der Lage ist, widerspricht dem modernen, in den Diskussionen der letzten Wochen deutlich zutage getretenen Verständnis der Bevölkerung von gelebter sexueller Selbstbestimmung: Ohne ausdrückliches oder konkludentes Einverständnis einer anderen Person muss es verboten sein, an dieser sexuelle Handlungen vorzunehmen. Dass der Entwurf davon absieht, das fehlende Einverständnis zum tragenden Element einer Sexualstraftat zu machen und stattdessen lediglich durch Aufnahme einzelner Fallkonstellationen das nach wie vor auf der Überwindung eines Widerstands aufbauende Sexualstrafrecht ergänzt, ist bedauerlich. Auch wenn der Entwurf ausführt, dass angesichts des herannahenden Endes der Legislaturperiode aus Zeitgründen nur eine sogenannte „kleine“ Lösung als möglich angesehen wird, so hätte eine solche kleine Lösung auch in der Einfügung eines Straftatbestands bestehen können, der – mit einer geringeren Strafandrohung als im jetzigen § 177 StGB – sexuelle Handlungen ohne Einverständnis der anderen Person unter Strafe stellt. Dies würde den notwendigen Paradigmenwechsel bestätigen und den Vorgaben der Istanbul-Konvention genügen.

Die massive Empörung über sexuelle und sexualisierte Übergriffe in der Silvesternacht 2015 in Köln und anderen Städten hat gezeigt, dass die Bevölkerung ganz selbstverständlich die sexuelle Selbstbestimmung in jedem Fall für ein umfassend schützenswertes Gut hält. So herrscht in der Bevölkerung, entgegen der geltenden Rechtslage, die Überzeugung vor, dass auch ein Griff an das bekleidete Gesäß, den Busen oder zwischen die Beine strafbar ist, also die Erheblichkeits-Schwelle des § 184h Nr. 1 StGB überschreitet. Ebenso, dass sexuelle Handlungen schon dann strafbar sind, wenn sie ohne Einverständnis der anderen Person erfolgen. Dass dies nicht nur für den öffentlichen, sondern gleichermaßen auch für den privaten Raum gelten muss, in dem nach wie vor der Großteil der sexuellen Übergriffe auf Frauen stattfindet, versteht sich dabei von selbst.

Begrüßenswert am Entwurf bleibt, dass eklatante Schutzlücken geschlossen werden.

Auch die Einbindung des bisherigen § 240 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StGB in den Kanon der Sexualstraftaten und die grundsätzliche Trennung von Handlungen, die mittels Gewalt oder der Drohung mit Gewalt, also gravierenden Nötigungsmitteln ausgeführt werden, von sonstigen sexuellen Übergriffen ist sinnvoll.

Die gewählte Fassung läuft allerdings Gefahr, neue definitorische Unsicherheiten zu produzieren, deren Auswirkungen in der Rechtsprechung unklar erscheinen und der Intention der Istanbul-Konvention im Ergebnis zuwider laufen könnten: So ist eine überraschende Begehung sexueller Handlungen im öffentlichen Raum sicherlich zweifelsfrei unter den § 179 StGB-E zu subsumieren. Nutzt jedoch ein Täter den gemeinsamen Aufenthalt im selben Raum, zum Beispiel einer Wohnung, zu sexuellen Handlungen oder auch nur einem Griff an geschlechtlich konnotierte Körperteile aus, ist zu befürchten, dass alte Mythen („warum geht die Person denn in die Wohnung mit“) wieder aufleben, die mit der freien sexuellen Selbstbestimmung im Sinne der freien Entscheidung jeder Person darüber, wer sie anfassen darf oder nicht, nichts zu tun haben. Da zudem ein Griff an das bekleidete Gesäß oder ein aufgedrängter Kuss nach herrschender Rechtsprechung nicht als „erhebliche“ sexuelle Handlung angesehen werden, sollte auf jeden Fall noch ein zusätzlicher Tatbestand der „sexuellen Belästigung“ eingeführt werden. Hierzu wird weiter ausgeführt werden.

In dem Entwurf sind weiterhin die vielen Fälle nicht erfasst, in denen Opfer sich aufgrund des Übergriffs nicht wehren können, weil sie im Schock erstarren. In der Fallanalyse des Bundesverbandes der Frauennotrufe wurden solche Fälle geschildert. Auch der Bundestag hatte bereits 1997 solche Fälle vor Augen und in der Begründung für die Einführung des Tatbestands „Ausnutzen einer schutzlosen Lage“ in § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB als strafwürdig eingestuft (Bundestagsdrucksache 13/7324, S. 6). Mit der damals gewählten Formulierung wurde dieses Ziel nicht erreicht, weil das Tatbestandsmerkmal aufgrund seiner Verortung im Nötigungstatbestand des § 177 StGB und der damit verbundenen Strafandrohung eng ausgelegt wird und so nur wenige Fälle zu erfassen vermag. Auch die jetzige Formulierung sieht die Strafbarkeit solcher Fälle nicht vor: Wenn die erstarrte Person kein konkretes Übel befürchtet, lässt sich dieser Fall auch nicht unter § 179 Absatz 1 Nr. 3 StGB-E subsumieren.

Nach wie vor nicht strafbar lässt der Entwurf auch Fälle, die bislang nicht als Sexualdelikt geahndet wurden, weil die sexuelle Handlung – wie beispielsweise ein Griff zwischen die Beine – als nicht „erheblich“ im Sinne des § 184 h Abs. 1 StGB erachtet wird. Dies könnte auch auf einige der Taten zutreffen, die als sexuelle Übergriffe in der Silvesternacht 2015 aus Köln und anderen Städten berichtet wurden. Zwar wird die Unzulänglichkeit der Ahndung solcher Handlungsweisen als Angriff auf die Geschlechtsehre im Rahmen des § 185 StGB in der Begründung des vorliegenden Gesetzentwurfs angesprochen. In den meisten der betreffenden Fälle dürfte selbst eine Ahndung im Rahmen des bestehenden § 185 StGB jedoch überhaupt nicht in Betracht kommen, weil höchstrichterlich seit 1989 bezugnehmend auf BGHSt 36, 145 (149) immer wieder ausgeführt wird: „§ 185 StGB ist insbesondere kein »Auffangtatbestand«, der es erlauben würde, Handlungen allein deshalb zu bestrafen, weil sie der Tatbestandsverwirklichung eines Sittlichkeitsdelikts nahekommen. Zu einer Änderung dieser Rechtslage ist allein der Gesetzgeber befugt“ (so zuletzt OLG Nürnberg 1 St OLG Ss 219/10 vom 3. November 2010). Eine diese Gesichtspunkte konsequent berücksichtigende Änderung des StGB sieht der Entwurf jedoch nicht vor. Sie müsste nach Auffassung des djb wegen des betroffenen Rechtsguts der freien sexuellen Selbstbestimmung einen Tatbestand der tätlichen sexuellen Belästigung im 13. Abschnitt mit einem dem Unrechtsgehalt dieser Übergriffe angemessenen Strafrahmen ausweisen und könnte wie folgt gefasst werden:

§ 179a StGB-E Tätliche sexuelle Belästigung

(1) Wer eine tätliche sexuelle Belästigung an einer Person vornimmt, wird mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.

(2) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt.

Eine so gefasste Norm greift die Definition aus dem AGG auf und vermeidet den Zusammenhang mit § 185 StGB, der hier – wie im Entwurf zu Recht ausgeführt – wegen des betroffenen Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung nicht passt. Der Rückgriff auf das AGG eröffnet die Chance, die Rechtsprechung zum AGG in diesem Zusammenhang zur Orientierung für denkbare Fallkonstellationen heranzuziehen. Zudem wird die Pönalisierung rein verbaler Belästigungen – die zum Ehrbegriff des § 185 StGB gehören – vermieden. Schließlich wahrt eine solche Regelung die Opferautonomie, weil die Strafbarkeit an das Erfordernis eines Strafantrags der betroffenen Person gebunden und der Tatbestand als echtes Antragsdelikt gestaltet wird.

Zu den im Entwurf vorgeschlagenen Regelungen ist darüber hinaus im Einzelnen Folgendes festzustellen:

Zu Nummer 2:

Das besondere Tatunrecht des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB als besonders schwerer Fall wird nicht mit demselben Strafrahmen wie bisher geahndet. In den Fällen, die bisher unter § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB gefasst wurden, beträgt nunmehr die Mindeststrafe nicht mehr 2 Jahre, wenn die Tat mit besonders erniedrigenden Handlungen verbunden ist, außer wenn die Erniedrigung mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist. Bereits nach jetziger Gesetzeslage wurden an dieser Stelle widerstandsunfähige Menschen gegenüber anderen Menschen benachteiligt, da nur Handlungen, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (§ 179 Abs. 5 Nr. 1 StGB), nicht aber sonstige vergleichbare erniedrigende Handlungen – wie beim bisherigen § 177 Abs. 2 StGB – als besonders schwerer Fall mit einem höheren Strafrahmen geahndet wurden.

Zu Nummer 3

An dieser Stelle sei bereits angemerkt, dass der vielfach bemängelte, derzeit bestehende Wertungswiderspruch zwischen den Strafrahmen der Grundtatbestände des § 177 StGB und des § 179 StGB durch den Gesetzentwurf nicht aufgelöst, sondern eher verschärft wird. Wer beispielsweise eine Person, die sich im Koma befindet, durch die Vornahme sexueller Handlungen missbraucht, wird weniger hart bestraft als der Täter, der die sexuellen Handlungen durch qualifizierte Drohung ermöglicht. Bestehen die sexuellen Handlungen aber in Geschlechtsverkehr oder dem Einführen eines Fingers, ist der Strafrahmen wieder identisch. Der Unterschied besteht allerdings noch darin, dass es sich im ersten Fall – also bei unterschiedlichen Strafrahmen – um ein Regelbeispiel eines besonders schweren Falles handelt, in letzterem um eine Qualifikation. An dieser Rechtslage ändert der Entwurf nichts, die Möglichkeit, diese Wertungswidersprüche zu beseitigen wird leider nicht wahrgenommen.

Die Einfügung weiterer Begehungsweisen in § 179 StGB, die, wie z.B. Nr. 3 vom Tatunrecht her niedriger zu bewerten sind als das Tatunrecht bei sexuellen Handlungen durch qualifizierte Nötigungen, verschärft sogar die Wertungswidersprüche. Da auch in der vorgeschlagenen Neuregelung das zentrale Element für eine Strafbarkeit der Widerstand ist, wäre zumindest eine systematischere Erfassung der unterschiedlichen Fälle sinnvoll. § 179 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB-E erfasst Fälle, in denen das Opfer zum Widerstand unfähig ist und die insofern bezüglich des Tatunrechts § 177 gleichgestellt sein sollten. § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E hingegen erfasst einen Fall, der hinsichtlich der eingesetzten Nötigungsmittel gegenüber § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB ersichtlich ein Minus darstellt und überdies am subjektiven Empfinden des Opfers ansetzt. Das hierbei verwirklichte Tatunrecht ist grundsätzlich also geringer.

Zu § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB-E

Hier sollen zusätzlich zum bisherigen § 179 Abs. 1 StGB Kleinstkinder und alte Menschen erfasst werden, die altersbedingt keinen Widerstand mehr leisten können. Wenn auch sexuelle Handlungen an Kleinstkindern wie bisher gem. § 176 StGB – als lex specialis – strafbar sind, wird mit der neuen Formulierung doch eine Lücke geschlossen für sexuelle Handlungen an alten Menschen, die nicht körperlich, sondern psychisch zum Widerstand unfähig sind. Dies wird seitens des djb ausdrücklich begrüßt, handelt es sich hier doch um eine der von uns aufgezeigten deutlichen Schutzlücken nach bestehender Rechtslage. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Chance einer Angleichung des Strafrahmens zugleich mit der angestrebten Gesetzesänderung nicht wahrgenommen wird.

Zu § 179 Abs. 1 Nr. 2 StGB-E

Die neue Regelung erfasst Überraschungsfälle, die nach bisheriger Rechtslage straflos bleiben, und ist daher zu begrüßen. In der Begründung sollte jedoch ausgeführt werden, dass auch eine Person, die allgemein dauerhaft achtsam und misstrauisch gegenüber ihrer Umgebung ist, etwa wegen vorangegangener Erlebnisse oder aber auch wegen Berichterstattungen über Übergriffe, durch einen plötzlichen und unerwarteten Angriff des Täters ungeachtet dieser grundsätzlichen Vorsicht „überrascht“ im Sinne der Vorschrift werden kann. Im Übrigen wird auf die bereits erwähnten Probleme des Risikos neuer definitorischer Unsicherheiten zum Begriff „überraschend“ nochmals hingewiesen. Auch wer eine Einladung in einen privaten Raum annimmt, muss nicht mit sexuellen und sexualisierten Übergriffen gegen seinen Willen rechnen.

Zu § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E

Es wird begrüßt, dass die nach bestehender Rechtslage erforderliche qualifizierte Drohung um die Furcht vor einem empfindlichen Übel erweitert wurde. Damit erfasst der Entwurf diejenigen Fälle, in denen aus Furcht vor anderen Übeln, die subjektiv als ebenso gravierend wie Gewalt angesehen werden, auf Widerstand verzichtet wird.

Zu § 179 Abs. 3 StGB-E

Kritisch ist zu sehen, dass die Neuregelung für die Strafbarkeit wie bisher das Ausnutzen einer objektiv schutzlosen Lage verlangt, und nicht die subjektive Schutzlosigkeit des Opfers ausreicht. Wenn es um eine Zwangseinwirkung auf die Entscheidungsfreiheit des Opfers geht, kann nur ein Abstellen auf dessen subjektive Einschätzung der Situation sachgerecht sein. Die Einbindung des bisherigen § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB in § 179 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB-E mit dem neuen Tatbestandsmerkmal „Gewalteinwirkung“ anstelle von „Einwirkung“ führt außerdem ein Nötigungselement in einen Missbrauchstatbestand ein; das erscheint widersprüchlich und durchbricht zudem die mit dem Gesetzesentwurf erwünschte klarere Systematik erneut. Dabei ist das Problem durchaus gegeben, dass der Täter auf das subjektive Empfinden der Lage als schutzlos seitens des Opfers nicht immer Einfluss hat. Dies rechtfertigt jedoch umso mehr, sich nicht über das subjektive Empfinden des individuellen Opfers hinweg zu setzen, sondern den (potentiellen) Täter zu verpflichten, den Willen des/der betroffenen Person und ihr subjektives Empfinden zu erforschen, bevor er sexuelle Handlungen an der Person vornimmt.

Nach Ziffer 2 des § 179 Abs. 3 n.F. soll nunmehr das Ausnutzen der Widerstandsunfähigkeit aufgrund eines körperlichen oder psychischen Zustandes einen besonders schweren Fall darstellen, wenn dieser Zustand auf einer Behinderung beruht. Damit sieht sich der Täter, der sich an einer Person vergreift, die aufgrund einer Verabreichung von sog. K.O.-Tropfen widerstandsunfähig ist, einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren gegenüber, während bei einem Täter, der dieselbe Handlung an einer schwerstbehinderten Person vornimmt, die sich aufgrund ihrer Behinderung nicht wehren kann, die Mindeststrafe 1 Jahr beträgt, auch wenn in beiden Fällen die sexuelle Handlung allein deswegen möglich ist, weil die Personen objektiv nicht in der Lage sind, sich zur Wehr zu setzen. Inwieweit hier die zweite Tat eine höhere kriminelle Energie aufweist als die erste, erscheint fraglich.

Zu § 179 Abs. 6 StGB-E

Die Variationsbreite von Sexualstraftaten ist so groß, dass auch nach neuer Rechtslage ein Bedürfnis nach einer Regelung für minder schwere Fälle besteht. Die Absenkung des Strafrahmens für die Fälle des § 179 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB-E erscheint jedoch – auch vor dem Hintergrund der zur subjektiven Fassung des § 179 Abs. 1 Nr. 3 StGB-E geäußerten Bedenken – nicht sachgerecht. Droht ein Täter mit der Kündigung oder ist ihm klar, dass das Opfer nur aufgrund dieser Befürchtung seine sexuellen Handlungen duldet (die Formulierung in der Begründung des Gesetzentwurfs „bei denen das Opfer mit dem Täter schläft, weil es andernfalls mit einer Kündigung rechnet“ ist misslungen, suggeriert sie doch durch die Verwendung des Wortes „schläft“ zum einen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr, zum anderen, dass tatsächlich die ausschließlich innere Vorstellung des Opfers für die Strafbarkeit erheblich ist), erscheint dies nicht minder strafwürdig.

Denn führt eine solche Nötigung zum Erfolg, lässt dies – wenn man in der dem Gesetzentwurf zugrundeliegenden Logik bleibt, wonach grundsätzlich alle erwachsenen Menschen Widerstand leisten, wenn ihre sexuelle Selbstbestimmung angegriffen wird – den Schluss zu, dass sich der Täter möglicherweise gezielt ein besonders leicht einzuschüchterndes Opfer ausgesucht hat, was das Unrecht nicht vermindert.

Auch die Absenkung des Strafrahmens auf sechs Monate bis zehn Jahre im Fall des § 179 Abs. 1 Nr. 2 StGB-E erscheint nicht angemessen. Eine Fallkonstellation, in der das Unrecht der Tat so gering ist, dass sie als Vergehen eingestuft werden kann, wenn sich das Opfer aufgrund der überraschenden Begehungsweise nicht gegen ein Eindringen in den Körper wehren kann oder aber sexuelle Handlungen, die die Erheblichkeitsschwelle des § 184h StGB überschreiten, durch mehrere Täter durchgeführt werden, ist schwer denkbar.

Die bereits genannten Wertungswidersprüche setzen sich auch beim minder schweren Fall fort. Bei § 177 StGB bezieht sich der minder schwere Fall auf den Grundtatbestand. Liegt z.B. ein Eindringen vor und wird von einem minder schweren Fall ausgegangen, entfällt die Regelwirkung des Abs. 2, sodass der Strafrahmen zwischen 1 Jahr und 15 Jahren liegt. Bei § 179 StGB-E hingegen ist – wie schon beim jetzigen § 179 StGB seit der Streichung des minder schweren Falles durch das Sexualdelikte Änderungsgesetz vom 1. April 2004 – ein minder schwerer Fall nur bei qualifizierter Tatbegehung vorgesehen, also i.d.R. bei Tatbegehung durch Eindringen oder mehrere gemeinschaftlich handelnde Täter.

Ramona Pisal                                              
Präsidentin  

Dagmar Freudenberg 
Vorsitzende der Kommission Strafrecht