Stellungnahme: 16-06


zur gesetzlichen Verankerung einer fiktiven Bedarfsgemeinschaft im Rahmen des Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung, anlässlich der Verbändeanhörung durch das BMAS

Stellungnahme vom

Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) bedankt sich für die Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung wird derzeit parlamentarisch beraten. Der vorgelegte Entwurf zu einer „Neuregelung der temporären Bedarfsgemeinschaft“ soll offenbar noch in dieses laufende Gesetzgebungsverfahren zur Rechtsvereinfachung eingebracht werden. Dies ist aus Sicht des djb abzulehnen. Bei der vorgeschlagenen Neukonstruktion handelt sich nicht um eine sachgerechte und systematisch durchdachte Lösung für die Probleme von Kindern getrennt lebender Eltern und von Alleinerziehenden im Grundsicherungsrecht. Der Vorschlag verfestigt ein bürokratisches Berechnungssystem und setzt – im Widerspruch zum Familienrecht – finanzielle Anreize gegen großzügige Umgangsregelungen für den Umgangsberechtigten (in der sozialen Wirklichkeit oft der Vater).

1. Alternative Umgangsmehrbedarf

Der djb fordert als klare und konsequente Lösung für den zusätzlichen Bedarf von Kindern getrennt lebender Eltern einen Anspruch auf Umgangsmehrbedarf. Dieser ist als Anspruch des umgangsberechtigten Elternteils auszugestalten. Eine Kürzung der Leistungen in der Bedarfsgemeinschaft des hauptverantwortlichen Elternteils (in der Regel die Mutter) ist abzulehnen, da diese zu einer Unterdeckung des kindlichen Existenzminimums führt. Gerade im Hinblick auf die Existenzsicherung spricht sich auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf (vgl. BR-Drs 66/16 S. 50) dafür aus, einen regelmäßigen Mehrbedarf aus Anlass des Umgangs mit dem minderjährigen Kind für den umgangsberechtigten Elternteil bei Neubemessung der Regelsätze zu prüfen.

Die geplante dauerhafte Zuordnung eines Kindes zu beiden Bedarfsgemeinschaften getrennt lebender Eltern gleicht den bestehenden Mangel bei der Existenzsicherung des Kindes in zwei unterschiedlichen Haushalten nicht aus, denn den Leistungen an den umgangsberechtigten Elternteil stehen spiegelbildliche Kürzungen bei der Hauptbedarfsgemeinschaft (Haupt-BG) gegenüber. Die strikte Zuordnung des Kindergeldes und des Kindesunterhalts zur Haupt-BG kann dort sogar zur Kürzung des individuellen Leistungsanspruchs des Elternteils führen.

Gegen den vorgelegten Vorschlag sprechen im Einzelnen folgende Aspekte:

2. Illusion der Verwaltungsvereinfachung zu Lasten der Eltern

Der Entwurf zielt zwar auf eine Verwaltungsvereinfachung, gibt den Jobcentern aber zugleich einen komplexeren Abstimmungsprozess vor und produziert unklare Doppelzuständigkeiten - und dies um den Preis der Einschränkung der Mitwirkungsrechte der Leistungsberechtigten bei der Entscheidungsfindung.

Die neu geschaffene fingierte Zugehörigkeit des Kindes zu beiden Bedarfsgemeinschaften ist ein systematischer Fremdkörper im System der Bedarfsgemeinschaft.

Statt einer exakten kalendarischen Zuordnung soll nun nur noch die Gesamt-Zahl der tatsächlichen Aufenthaltstage des Kindes beim jeweiligen Elternteil pro Monat ermittelt werden. Ein Neubescheid soll damit nur noch nötig werden, wenn sich die Anzahl der Anwesenheitstage ändert, nicht nur das Datum.

Allerdings ändert sich schon bei den weitverbreiteten Wochenendumgängen je nach kalendarischer Zuordnung die Anzahl der Tage. Denn es macht z.B. bei einem 14täglichen Wochenendumgang einen Unterscheid, ob kalendarisch zufällig in den Monat fünf Wochenenden (wie im Juli 2016) oder vier Wochenenden (wie im September 2016) fallen, ganz zu schweigen von Feiertagen und Ferien. Angesichts des Umstands, dass der Anspruch auf Leistungen für jeden Kalendertag besteht (§ 41 Abs. 1 Satz 1 SGB II) wird den Bescheiden jedenfalls bei Streit zwischen den nunmehr (verschärft) konkurrierenden beiden Bedarfsgemeinschaften zudem zu entnehmen sein müssen, an welchen Tagen sich das Kind wo aufgehalten hat. Der Aufwand bezogen auf die Anzahl der Bescheide wird außerdem zumindest nicht verringert durch § 41a SGB II-E, wonach regelhaft eine zunächst vorläufige Entscheidung über die Erbringung der Leistungen angeordnet ist, während bisher ein Ermessen hinsichtlich der Vorläufigkeit eröffnet war (§ 40 SGB II iVm § 328 SGB III).

Wenig durchdacht erscheint weiter die Regelung des § 36 Abs. 2 SGB II, wonach für die Bedarfsgemeinschaften örtlich unterschiedliche zuständige Träger die anzuerkennenden Anwesenheitstage einvernehmlich – offenkundig ohne Beteiligung der Eltern! – festlegen und bei deren Uneinigkeit derjenige örtliche Träger einseitig entscheiden soll, bei dem der kindergeldberechtigte Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Entscheidung selbst dürfte sowohl vom Jobcenter als auch im Hinblick auf die Bedeutung der Anwesenheitstage notwendigerweise für beide Elternteile anfechtbarer Akt zusätzlichen Verwaltungsaufwand hervorrufen (so ist z.B. im Streitverfahren der jeweils andere Elternteil notwendig zu beteiligen).

Die in § 41 SGB II vorgesehene Ergänzung, wonach die Bewilligungszeiträume (für beide BG) von den jeweils zuständigen Jobcentern einheitlich festgelegt werden sollen, dürfte sich in der Praxis lediglich als Appell und nicht als durchsetzungsfähig erweisen, denn die Gründe für einen bestimmten Bewilligungszeitraum sind vielfältig (Tag der Antragstellung, zu erwartende Veränderungen, eintretende Veränderungen beim Einkommen oder Vermögen und vieles mehr).

Überdacht werden sollte auch der Wegfall der speziellen Regelung zur Vertretungsbefugnis (Streichung § 38 Abs. 2 SGB II) und die Gesamtkonzeption der Vermutungs- und Vertretungsregelungen. Verbleibt es nur bei der Vermutungsregelung des bisherigen Abs. 1, so kann diese Vermutung ohne weiteres dadurch widerlegt werden, dass ein allein sorgeberechtigter Elternteil dieser Möglichkeit der Antragstellung und Bevollmächtigung gesetzlich wirksam widerspricht. Gleichzeitig kann auch der nicht sorgeberechtigte, aber umgangsberechtigte Elternteil bei Anwendung der Vermutungsreglung die unterschiedlichsten Leistungen im Bereich des SGB II beantragen insbesondere zur Bildung und Teilhabe, denn die Regelung ist nicht auf Zeiträume und Bedarfe beschränkt, die sich aus den Anwesenheitstagen ergeben. In der Praxis könnte somit erhebliches unnötiges Streitpotential entstehen bzw. der Streit zwischen den Eltern auf die Jobcenter verlagert werden.

3.  Streit um Sozialgeld nun mehr vor den Familiengerichten oder Umgangsregelung nun mehr durch Jobcenter?

Die Definition des Anwesenheitstages, der nach § 23 Abs. 2 Satz 2 SGB II-E einen Regelbedarf in der jeweiligen BG erst begründet, birgt die Gefahr, den tatsächlich bestehenden Bedarf im Einzelfall u.U. nur unzureichend zu decken. Bereits die zugrundeliegende Annahme, wonach das Kind sich überwiegend in der BG aufhält, in der es sich zuerst im Laufe des Tages aufhält, ist Fiktion und trägt den Umgangsmodellen der Lebenswirklichkeit nur unzureichend Rechnung. Darüber hinaus schafft es aus Sicht des Hauptsorgeberechtigten einen negativen Anreiz dafür, den Umgang als Übernachtungsumgang auszugestalten und benachteiligt aus Sicht des Umgangsberechtigten den reinen Tagesumgang.

Zu kritisieren ist zudem, dass die Regelungen mit der Zuordnung zu beiden Bedarfsgemeinschaften und einer sofortigen Kürzung des Sozialgeldes, wenn das Kind sich nicht tatsächlich im Haushalt des Leistungsberechtigten aufhält, einen Systembruch zum Familienrecht darstellen, denn dort wird der Kindesunterhalt nicht gekürzt, wenn das Kind sich beim Umgangsberechtigten aufhält. Auch Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz werden nicht reduziert, wenn das Kind besuchsweise beim anderen Elternteil ist. Dass die Leistungen für das Kind in der Haupt-BG ab dem ersten Umgangstag gestrichen werden, zementiert eine im Sozialrecht gegenüber dem Familien- und Unterhaltsrecht bestehende Schlechterstellung von Alleinerziehenden. Hierin dürfte auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu sehen sein.

Die gesetzliche Regelung würde eine Schlechterstellung für Alleinerziehende gesetzlich festschreiben und einen gesetzlich begründeten finanziellen Anreiz darstellen, möglichst wenig Umgang zuzulassen.

Über die fiktive Bedarfsgemeinschaft verbunden mit der anteiligen, aber konkurrierenden Bedarfsdeckung gewinnen Umgangsregelungen so eine immense Bedeutung für die finanzielle Absicherung im Haushalt der Alleinerziehenden und der Umgangsberechtigten. Jeder Umgangstag erhöht oder reduziert die Sozialleistung im jeweiligen Elternhaushalt. Damit dürfte der Anteil der streitigen Umgangsaushandlungen steigen. Sozialgeldanteile würden damit indirekt vor dem Familiengericht erstritten oder über die Neuregelung in Umgangsregelungen indirekt über die interne Festlegung der Sozialgeldverteilung von den beiden beteiligten Jobcentern gestaltet 

4.  Ohne Umgangsmehrbedarf ist die Existenzsicherung des Kindes gefährdet

Die vorgeschlagene strenge Aufteilung des Sozialgeldes nach den Aufenthaltstagen berücksichtigt nicht, dass Fixkosten wie Telefon, Strom, Versicherungen oder Vereinsbeiträge weiterhin laufend im Haushalt der Alleinerziehenden anfallen und bei Abwesenheiten des Kindes nicht eingespart werden. Was insoweit eindeutig fehlt, ist ein Mehrbedarf wegen Umgangs, der die zusätzlichen Kosten abdeckt. Der Haushalt, in dem das Kind überwiegend lebt, ist auf den vollen Sozialgeldsatz existenziell angewiesen. Wird dort gekürzt, wird eine massive Verschlechterung für Alleinerziehende und ihre Kinder in Kauf genommen. Die Hälfte aller Kinder in Armut lebt bereits jetzt in Haushalten von Alleinerziehenden. Die mit der Verschlankung des Sozialrechts begründeten Einschnitte zu Lasten der Alleinerziehenden bekämpfen nicht die Kinderarmut, sondern gefährden letztlich das Kindeswohl.

5.  Neue Unklarheiten im Wohnraumbedarf

Für die Bestimmung der angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung fehlt für die Zuordnung von Minderjährigen zu zwei Bedarfsgemeinschaften eine klarstellende Regelung in § 22 SGB II. Bei fiktiver gesetzlicher (dauerhafter) Zuordnung des Kindes auch zur Bedarfsgemeinschaft des umgangsberechtigten Elternteils kann dieser einen erhöhten Wohnraumbedarf in Anspruch nehmen und einen vollen Raumbedarf für jedes einzelne Kind anmelden, für das Umgangsrechte bestehen. Für eine kleine Gruppe von hilfebedürftigen Elternteilen, könnte dies (zumal bei mehreren Kindern) zu einer Bedarfsüberdeckung führen. Es fehlt gleichzeitig eine systematische Anpassung der Sonderregelungen für Satzungen nach § 22 b Abs. 3 Nr. 2 SGB II. Danach gilt bisher die Ausübung des Umgangsrechts als Kriterium für einen erhöhten Wohnraumbedarf des Elternteils. Kommunale Satzungen sehen hier in der Praxis häufig bei Umgangsrechten den erhöhten KdU (Kosten der Unterkunft)-Bedarf von 0,5 (also praktisch eines halben Zimmers) für jedes Kind, für das Umgangsrechte bestehen, vor. Diese Regelung steht im Widerspruch zu der vorgeschlagenen neuen Bedarfsgemeinschaftsfiktion. Insgesamt wird nicht erklärt, warum erhöhte Kosten der Unterkunft und Heizung, die allein von den Kommunen finanziell zu tragen wären, im Vergleich zur temporären BG gerechtfertigt sein sollen, eine Neuregelung wie eine Mehrbedarfslösung, die den Alleinerziehenden, den Kindern und den Umgangsberechtigten nützt und gleichzeitig viel Bürokratie abbauen würde, zu teuer sein soll.

Fazit

Eine wirkliche Reduzierung des Verwaltungsaufwandes in den Jobcentern gegenüber der gegenwärtigen richterrechtlich geprägten temporären Bedarfsgemeinschaft wäre nur mit einem anderen klaren System wie einem pauschalen Umgangsmehrbedarf zu erreichen. Der djb fordert daher den zusätzlichen Bedarf infolge Umgangs anzuerkennen und einen entsprechenden Anspruch auf Mehrbedarf gesetzlich zu verankern, und zwar ohne Kürzung des Sozialgeldanspruchs im Haushalt des alleinerziehenden Elternteils (in der sozialen Wirklichkeit in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle also der Mutter).

                  

Ramona Pisal
Präsidentin 

Prof. Dr. Maria Wersig
Vorsitzende der Kommission Recht
der sozialen Sicherung, Familienlastenausgleich